Interview: Religionswissenschaftler Michael Blume wird Antisemitismus-Beauftragter Baden-Württembergs

Dr. Michael Blume ist seit langer Zeit REMID-Mit­glied und Vor­re­it­er im Bloggen über reli­gion­swis­senschaftliche The­men. Er wurde 2018 zum Anti­semitismus-Beauf­tragten des Bun­des­lan­des Baden-Würt­tem­berg ernan­nt und gab REMID daraufhin ein Inter­view:

Hochschulrede des neuen Anti­semitismus­beauf­tragten Michael Blume in Hei­del­berg am 25. April 2018: “Was ist Anti­semitismus — und warum muss man ihn beson­ders bekämpfen?”.

Du bes­timmst Anti­semitismus in Dein­er Hei­del­berg­er Antrittsrede vom 25. April als eine “Kom­bi­na­tion aus Ras­sis­mus und Ver­schwörungs­glauben”, beziehst Dich aber auch auf eine aktuelle Def­i­n­i­tion der Bun­desregierung. Warum wird Anti­semitismus so oft nicht erkan­nt?

Der Begriff des „Anti­semitismus“ bildete sich im deutschen Sprachraum im 19. Jahrhun­dert und ver­band die tradierte Juden­feindlichkeit mit pseu­do-wis­senschaftlichem Ras­sis­mus, richtete sich damit auch gegen nichtjüdis­che Nach­fahren von Juden sowie gegen Mus­lime. Und lei­der ist das bis heute nicht aufgear­beit­et und über­wun­den und man bekommt immer noch Sätze zu hören wie „Araber kön­nen keine Anti­semiten sein, weil sie ja selb­st Semi­ten sind.“ Gegen diese Begriffsver­wirrun­gen will ich auch als Reli­gion­swis­senschaftler aufk­lären und klarstellen: Der Noah-Sohn Sem ist kein genetis­ch­er, son­dern ein mythol­o­gis­ch­er Vor­fahre. Auf ihn gehen nach jüdis­ch­er Ausle­gung unter anderem Juden, Chris­ten und Mus­lime zurück und zwar in einem klar geisti­gen Sinne: Wer zum Juden­tum kon­vertiert, wird Nachkomme von Abra­ham und also auch Sem, völ­lig unab­hängig von der Genetik und Haut­farbe. Aber auch zum Beispiel die kur­dis­chsprachi­gen Yezi­den berufen sich auf die Abstam­mung von Noah.

Dir ist es wichtig, dass Ver­schwörungsmythen nicht als “The­o­rien” beze­ich­net wer­den, insofern solche Erk­lärungsmod­elle mit wis­senschaftlichem Anspruch wider­leg- oder beweis­bar sein müssten, während sich Ver­schwörungsmythen zu dem Glauben an eine “Super­ver­schwörung” verdicht­en. Bei REMID bin ich dem auch gefol­gt, wenn auch ältere Arbeit­en nicht kor­rigiert wor­den sind. Wie ver­stehst Du den Begriff des Mythos und warum ist er Dir wichtig?

Aus mein­er Sicht ist die Unter­schei­dung zwis­chen wis­senschaftlichen The­o­rien ein­er­seits und welt­deu­ten­den Mythen ander­er­seits ger­adezu kon­sti­tu­tiv für die Reli­gion­swis­senschaft wie auch für die gesamte Gesellschaft! Wer Frauen als Hex­en im Bund mit dem Teufel attack­iert, wer den Holo­caust leugnet, die Fälschung der „Pro­tokolle der Weisen von Zion“ gegen alle Befunde für echt erk­lärt oder inter­re­ligiöse Ehen als „Rassen­schande“ schmäht, der ver­tritt eben keine diskus­sion­swürdi­gen The­o­rien mehr, son­dern bringt weltan­schauliche Auf­fas­sun­gen über kos­mis­che Ver­schwörun­gen zum Aus­druck. Deswe­gen ist ein Begriff wie „anti­semi­tis­che Ver­schwörungs­the­o­rie“ nicht nur wis­senschaftlich falsch und schief, son­dern wirkt medi­al und öffentlich auch noch ver­harm­losend und „adelt“ noch den größten Hass, als stünde dieser auf der gle­ichen Ebene zum Beispiel mit der All­ge­meinen Rel­a­tiv­itäts- oder der Evo­lu­tion­s­the­o­rie. Auch ana­lytisch halte ich es für abso­lut entschei­dend, dass wir ver­schiedene Sprech­weisen und ihre Funk­tio­nen unter­schei­den. Die Grund­la­gen von Erken­nt­nis­the­o­rie gehören eigentlich in jedes ordentliche Studi­um der Natur‑, Kul­tur- und Geis­teswis­senschaften und auch der jour­nal­is­tis­chen Aus­bil­dung.

Im Hin­ter­grund zeigt Michael Blume in Hei­del­berg auf ein­er Folie einen Screen­shot aus dem Musikvideo “Apoka­lypse” des Rap­pers Kol­le­gah, der mit dem Musikpreis “Echo” aus­geze­ich­net wurde. Nach­dem mehrere andere Kün­stler ihre Echo(s) zurück­gaben, wurde der Musikpreis eingestellt. Die auf dem Screen­shot (links) dargestell­ten “dreizehn Blut­lin­ien” unter ein­er Pyra­mide entstam­men dem anti­semi­tis­chen Buch “Blood­lines of the Illu­mi­nati” von Fritz Spring­meier.

Du ziehst Par­al­le­len zwis­chen Islamis­mus und Recht­sex­trem­is­mus in Bezug auf ihren Anti­semitismus. Kol­le­gah und Osama bin Laden sollen bei­de das Werk eines amerikanis­chen Ver­schwörungside­olo­gen gele­sen haben, in welchem von dreizehn “Blut­lin­ien” die Rede ist, welche die Men­schheit im Geheimen steuern. Wie inter­na­tion­al ist Anti­semitismus?

Wenn wir den Anti­semitismus als mythol­o­gis­ches Sys­tem begreifen, wird auch schnell ver­ständlich, wie er sich glob­al ver­bre­it­en, ver­mis­chen und immer wieder neu aus­prä­gen kon­nte. Ein Beispiel dafür ist die Ver­bre­itung der Fälschung der „Pro­tokolle der Weisen von Zion“ aus Rus­s­land bin­nen weniger Jahrzehnte über weit­ere, europäis­che Län­der und die USA bis hin schließlich zur ara­bis­chen Welt. Aber auch zum Beispiel in Japan haben sich Ver­schwörungsmythen über die „zion­is­tis­che Weltver­schwörung“ etabliert und in Indi­en wird Hitler als ver­meintlich­er Mit-Ari­er sehr verehrt, wer­den zugle­ich vor allem Mus­lime als ver­schwörerische „Semi­ten“ im Sinne der „Pro­tokolle“ beschuldigt. Auch die bay­erischen „Illu­mi­nat­en“ haben nach ihrem Ver­bot eine glob­ale, eben mythol­o­gis­che Kar­riere hin­gelegt, die sich für reli­gion­swis­senschaftliche Analy­sen her­vor­ra­gend eignet. Ich behaupte, dass die masonis­che Pyra­mide auf der US-Dol­larnote längst zu den bekan­ntesten, ver­schwörungsmythol­o­gis­chen Sym­bol­en der glob­alen Weltkul­tur gehört. Aber selb­st Musik­ex­per­tin­nen und ‑experten waren offen­sichtlich unfähig, die mas­siv anti­semi­tis­che Ver­schwörungsmytholo­gie in Kol­le­gahs „Apokalypse“-Song und Video über­haupt wahrzunehmen, während diese mil­lio­nen­fach von vor allem jun­gen Men­schen abgerufen wur­den.

Google-Bild-Suche nach Pyra­mide und Dol­lar.


Das Stück “Dan­tons Tod” von Georg Büch­n­er (1835) beschäftigt sich mit der Franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion. Der tragis­che Held Dan­ton war ursprünglich Teil der Rev­o­lu­tionäre, in der Partei der Jakobin­er. Doch nach­dem die Giul­lo­tine nicht mehr still ste­ht, im Wirken des “Blutmes­sias” Robe­spierre, ver­suchen Dan­ton und seine Getreuen inner­halb der Jakobin­er nach dem Ende der Schreck­en­sh­errschaft zu rufen. Bekan­nt ist das Zitat „Ich weiß wohl, — die Rev­o­lu­tion iſt wie Sat­urn, ſie frißt ihre eige­nen Kinder.“ Sie wer­den am Ende hin­gerichtet. Du sche­inst in Dein­er Rede Anti­semitismus ähn­lich grund­sät­zlich und uni­versell zu denken?

Ja, die his­torische Erfahrung zeigt, dass Ver­schwörungs­glauben sel­ten „satt wird“, son­dern immer wieder auf neue Men­schen­grup­pen über­greift. Von Hex­en­hys­te­rien über stal­in­is­tis­che „Säu­berun­gen“ bis zum Anti­semiten in der Face­book-Gruppe sehen wir die Ten­denz, dass auch offen­sichtliche Fehlschläge des Deu­tungss­chemas sel­tener mit ein­er Infragestel­lung der Ver­schwörungsmythen ein­herge­hen als vielmehr mit der Benen­nung ver­meintlich­er weit­er­er Ver­schwör­er. Deswe­gen kann ger­ade auch der Anti­semitismus auch ganz ohne Juden grassieren und zum Zusam­men­bruch von Gesellschaften beitra­gen. Und deswe­gen bietet auch der „Tugendter­ror“ der Franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion ein his­torisches Beispiel für die Eskala­tion von Ver­schwörungs­glauben, der sich schließlich auch gegen seine Verkün­der wen­den kann.

Du erwähnst die Ver­schwörungsmythen, wie sie der Abge­ord­nete Wolf­gang Gedeon (AfD) und Vik­tor Orban ver­bre­it­en, nach denen “Zion­is­ten” dafür ver­ant­wortlich seien, dass ins­beson­dere mus­lim­is­che Geflüchtete nach Europa kom­men. Vor weni­gen Wochen wurde die Orban-Koali­tion aus zwei recht­en Parteien mit ca. 70% der Stim­men wiedergewählt. Und obwohl auch Israel lediglich eines von vie­len Län­dern ist, in denen wie in Ungarn recht­spop­ulis­tis­che Poli­tiken stärk­er wer­den, beweist sich nur Netan­jahu damit als Vertreter ein­er zion­is­tis­chen Weltver­schwörung. Es wird also mitunter mit zweier­lei Maß gemessen. Doch wie sind Deine Erfahrun­gen im Umgang mit Ver­schwörungsmythen? Oder was würdest Du empfehlen?

Nun, im Kern haben sich ja die anti­semi­tis­chen Ver­schwörungsmythen seit Jahrtausenden kaum verän­dert, wie wir schon im bib­lis­chen Buch Exo­dus nach­le­sen kön­nen: „Unsere Gesellschaft schafft sich ab – und die Semi­ten sind Schuld!“ Derzeit wird sie als ver­meintliche „Umvolkungsver­schwörung“ aktu­al­isiert, nach der ange­blich jüdisch-zion­is­tis­che Super­ver­schwör­er den Ori­ent zer­stören und dann auch noch die Flüchtlingsströme gegen Europa lenken. Wie sich zum Beispiel auch in Polen und Ungarn zeigt, gehen dabei antimus­lim­is­che und anti­jüdis­che Feind­bilder fließend ineinan­der über. Ob die lib­eralen Demokra­tien diesen menschen‑, rechtsstaats- und auch wis­senschafts­feindlichen Ver­schwörungsmythen wider­ste­hen wer­den halte ich für eine Schlüs­sel­frage der kom­menden Jahre und Jahrzehnte.

Michael Blume am 23. April auf Twitter: "Falls mal wieder jemand behauptet, der neue #Antisemitismus sei erst durch #Flüchtlinge wieder nach #Europa gekommen: Hier Langzeit-Daten aus #Polen von Prof. Michal Bilewicz (Warschau)".
Michael Blume am 23. April auf Twit­ter: “Falls mal wieder jemand behauptet, der neue #Anti­semitismus sei erst durch #Flüchtlinge wieder nach #Europa gekom­men: Hier Langzeit-Dat­en aus #Polen von Prof. Michal Bilewicz (Warschau)”.

Du nennst auch link­sex­trem motivierten Anti­semitismus. Und sicher­lich kommt dem Anti-Impe­ri­al­is­mus eine beson­dere Rolle zu. Sowohl in der “Adelung” des Mythos zur “The­o­rie” — also mit dem Anspruch ein­er sozial­wis­senschaftlichen Net­zw­erk­analyse von hege­mo­ni­alen Ver­hält­nis­sen — als auch im konkreten Phänomen von poli­tis­chen “Querfront”-Bildungen wie den “Mon­tags­mah­nwachen für den Frieden” sowie einzel­nen poli­tis­chen Biogra­phien, die sich von links- nach recht­saußen bewegten. Aber für den wis­senschaftlichen Diskurs rel­e­van­ter ist vielle­icht der erste Aspekt. Also wenn jemand Net­zw­erk­analy­sen hege­mo­ni­aler Ver­hält­nisse oder ähn­lich­es anstellen möchte, ab wann wird es ver­schwörungsmythisch?

Ver­schwörungsmythisch wird es ab dem Moment, in dem nicht mehr das Miteinan­der von Struk­turen und Fak­toren beschrieben, son­dern die ange­blich all­wis­sende Super­ver­schwörung ein­er Men­schen­gruppe pos­tuliert wird – ob man diese jet­zt „Ostküste“, „Kap­i­tal­is­ten“ oder „Zion­is­ten“ nen­nt. Tat­sache ist, dass keine Men­schen­gruppe in sich völ­lig homogen ist und dass vor allem keine Men­schen­gruppe solche über­men­schlichen Fähigkeit­en hat. Es ist daher auch kein Wun­der, dass die Darstel­lun­gen solch­er Super­ver­schwör­er auch in link­sex­tremen Kon­tex­ten schnell ins Dämonis­che abgleit­en.

Was kön­nen zum Beispiel Reli­gions- oder Sozialwissenschaftler*innen gegen Ver­schwörungsmythen unternehmen und was Anti­semitismus-Beauf­tragte?

Zunächst ein­mal plädiere ich auch hier für die Unter­schei­dung zwis­chen wis­senschaftlich­er Beschrei­bung und nor­ma­tiv­er Bew­er­tung. Ger­ade auch in der Feld­forschung würde ich es als hoch­prob­lema­tisch anse­hen, den Men­schen von vorn­here­in mit Her­ablas­sung zu begeg­nen. Die Auf­gabe von Wis­senschaft­lerin­nen und Wis­senschaftlern beste­ht dage­gen jedoch darin, zu erkun­den, wie und warum diese Mythen­sys­teme für die Gläu­bi­gen zumin­d­est in diesen Net­zw­erken und Momenten funk­tion­ieren. Dann ist die Zeit für die erken­nt­nis­the­o­retis­che und prax­isori­en­tierte Reflex­ion.

Als Zwis­chen­stand würde ich fes­thal­ten, dass wir sehen kön­nen, dass sich die ver­schiede­nen For­men grup­pen­be­zo­gen­er Men­schen­feindlichkeit wie Ras­sis­mus, Sex­is­mus, Homo­pho­bie und Anti­semitismus affek­tiv und auch inhaltlich unter­schei­den und zugle­ich stark miteinan­der kor­re­lieren. Deswe­gen gehe ich davon aus, dass zur Über­win­dung sex­is­tis­ch­er Vorstel­lun­gen auch teil­weise andere Konzepte notwendig sein wer­den als zur Über­win­dung von Anti­semitismus und Ver­schwörungs­glauben. Entschei­dend wird sein, dass wir vom sim­plen Men­schen­bild eines ver­meintlich immer schon guten und ratio­nalen Akteurs wegkom­men. Wir sind nun mal Pro­duk­te der biol­o­gis­chen und kul­turellen Evo­lu­tion voller auch wider­sprüch­lich­er Kog­ni­tio­nen und Impulse. Genau deshalb sehnen sich so viele von uns nach „guten alten Zeit­en“, die es niemals gab.

Ich denke, dass erfol­gre­iche Nar­ra­tive und Sym­bole ger­ade auch in der dig­i­tal­en Welt noch viel schneller aufge­grif­f­en und vari­anten­re­ich adap­tiert wer­den kön­nen, als das in analo­gen Zeit­en der Fall war. Es kön­nen leichter denn je Vari­anten hergestellt wer­den. Und was sich im Wet­tbe­werb um Aufmerk­samkeit bewährt, kann heute auch schneller denn je geteilt wer­den. Sowohl Mar­vel wie Dis­ney ver­di­enen heute Mil­liar­den mit der Pro­duk­tion kom­plex­er Mythen­wel­ten in Fil­men, Büch­ern und Spie­len, die auf schon etablierten Tra­di­tio­nen auf­bauen. Wir wer­den heute mit viel mehr Mythen beballert als jemals in der Men­schheits­geschichte. Und wir haben noch kaum eine Ahnung davon, was dies mit uns macht.

Danke für das Inter­view!

Das Inter­view führte Kris Wagen­seil (2015). Kürzun­gen von Mona Stumpe (2023)

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