Brücken bauen, Netze spannen

Vernetzung in der deutschsprachigen Religionswissenschaft — das Projekt „Mapping Religionswissenschaft: Vernetzen, Vertiefen, Sichtbarmachen“

Wissenschaft lebt von kritischer Auseinandersetzung. Dialog und Austausch sind Grundpfeiler der Generierung von Wissen, die aus dem Alltag von Wissenschaftler:innen nicht wegzudenken sind. Im gegenseitigen Austausch wird die Forschung des Einzelnen (oder einzelner Projekte) von anderen rezipiert und kritisiert — ein Kreislauf, der die Qualität der wissenschaftlichen Arbeit maßgeblich beeinflusst. Wie in anderen Disziplinen ist Vernetzung auch in der Religionswissenschaft zentral, gerade weil sie durch ihre Fachgeschichte sowie ihr inter- und transdisziplinäres Selbstverständnis viele Zugänge, Ansätze, geographische und inhaltliche Schwerpunkte in sich vereint.

Das 2019/2020 von jungen Religionswissenschaftler:innen[1] als Workshop- und Videoreihe ins Leben gerufene Projekt „Mapping Religionswissenschaft: Vernetzen, Vertiefen, Sichtbarmachen“ hat sich eben jene Vernetzung innerhalb der deutschsprachigen Religionswissenschaft als Ziel gesetzt. Im Rahmen des Projekts wurde über die letzten Jahre eine Plattform für Mittelbau- und Nachwuchswissenschaftler:innen geschaffen, auf der sie sich austauschen und Anknüpfungspunkte an ihre eigenen Forschungs- oder Interessengebiete herstellen konnten.[2]

Brücken bauen

Die deutschsprachige Religionswissenschaft ist vielfältig und besteht aus Wissenschaftler:innen, die eine breite Palette an Themen, Theorien und Methoden abdecken. Auch durch die vielen unterschiedlichen (sub-)disziplinären Perspektiven und Zugänge zeichnet sich das Fach durch eine hohe Diversität aus. Ein erstes Ziel von „Mapping ReWi“ ist es daher, die Forschung verschiedener neuberufener Professor:innen und Wissenschaftler:innen mit verstetigten Stellen sowie ihre Werdegänge kennenzulernen und in einem interaktiven Format über ihre Forschungsansätze zu sprechen. Tiefgehende theoretische und methodische Diskussionen stehen dabei genauso wie die persönlichen Perspektiven und Lebensläufe im Vordergrund. Über 80 junge Wissenschaftler:innen von über 23 Standorten kamen in den digitalen Workshops ins Gespräch, tauschten sich aus und bauten Brücken über geographische und (sub-)disziplinären Grenzen hinweg.

In der Workshopreihe 2023 wurde der Fokus zuletzt auf den Themenschwerpunkt „Theoriearbeit in der Religionswissenschaft“ gelegt. Auch hier lud Mapping ReWi Fachvertreter:innen verschiedener Standorte ein, in dialogischer Form ihre jeweils unterschiedlichen Herangehensweisen an das Arbeiten mit Theorien vorzustellten und mit den Teilnehmer:innen zu diskutierten. Es ging dabei vor allem darum, den Mittelbau- und Nachwuchswissenschaftler:innen Tools und Herangehensweisen mitzugeben. So sollten Hemmungen in Bezug auf Theoriebildung genommen werden und außerdem ein offenes Gespräch über Theoriearbeit sowohl in der gegenwartsbezogenen als auch der historischen Religionsforschung angeregt werden.

Netze spannen

Beim Projekt Mapping ReWi stand die Frage im Zentrum, wie Vernetzung in der deutschsprachigen Religionswissenschaft auch nachhaltig und für alle zugänglich funktionieren kann. Neben den digitalen Workshopangebote nahm sich das Projekt daher von Anfang an einer digitalen Kartierung der religionswissenschaftlichen Forschung in Deutschland an. So wurden zum einen Videos mit den Fachvertreter:innen produziert und online für alle zugänglich veröffentlicht. In den Videos stellen sie ihre jeweiligen Forschungsschwerpunkte vor und machen so die Forschung an den verschiedenen religionswissenschaftlichen Standorten sichtbarer. Mapping Rewi trägt damit dazu bei, ein Netz zu spannen und Knoten- und Anknüpfungspunkte für junge Forscher:innen zu schaffen.

Zum anderen wurden auf Karten von Deutschland, Österreich und der Schweiz die Standorte der Universitäten verzeichnet, an denen Workshopteilnehmer:innen und Fachvertreter:innen arbeiten oder studieren. Die verschiedenen Karten visualisieren so die Vernetzung der Forschenden und geben einen Überblick über die religionswissenschaftliche Landschaft im deutschsprachigen Raum. Das von Mapping ReWi weitgespannte Netz wird sicherlich auch in Zukunft viele weitere Verknüpfungspunkte erlaubt.


Anschließend an die Workshops der ersten Phase publizierte Mapping ReWi zudem eine Sonderausgabe bei der Zeitschrift für junge Religionswissenschaft (ZjR). Die Artikel behandeln einerseits Perspektiven auf die Ziele des Projekts, die von den Projektinitiator:innen geschrieben wurden. Andererseits veröffentlichten Teilnehmer:innen Reflektionen und Inhalte ihrer eigenen Forschung, auch in Rückbezug auf die in den Workshops behandelten Ansätze und Themen. Einen ganz besonderen Blick bietet der Artikel „Mapping Religionswissenschaft: Zukunftsmusik“ von Ulrich Harlaß, der nicht nur die Problematik der jungen Religionswissenschaft thematisiert, sondern auch Erfahrungsberichte und Beiträge zu den Umständen und Missständen der Arbeitssituation der Mittelbau- und Nachwuchswissenschaftler:innen in der Religionswissenschaft beinhaltet.

Darüber hinaus entstanden diverse Blogposts und ein weiterer Bericht in der ZjR, in denen Eindrücke und Ergebnisse der Workshops festgehalten sind – auch diese Verschriftlichungen sollen Einladung und Anknüpfungspunkt für weitere Vernetzung sein.

Netzwerke festigen

Gedacht als Startpunkt für die Vernetzung und Kartierung der deutschsprachigen Religionswissenschaft eröffnete Mapping ReWi durch seine Workshops, Videos, seine Webseite und die ZjR-Sonderausgabe eine Plattform der Vernetzung.  Sowohl die Workshops als auch das Angebot der Videos und reflektierenden Beiträge richtete sich ebenfalls an Studierende der Religionswissenschaft und sollte damit als Beitrag ihrer Orientierung über das Curriculum ihres Studiums hinaus dienen und ihnen Einblicke und erste Schritte in die Fachwelt ermöglichen. Das Projekt der Kartierung sowie die Videos dienen über die Hauptzielgruppe der Religionswissenschaftler:innen hinaus auch in einem weit umfangreicheren Sinn einer Sichtbarmachung der Religionswissenschaft als Fach in die Öffentlichkeit hinein. Dies kann bei Pflege und Ausbau zu einem wichtigen Bestandteil der Öffentlichkeitsarbeit des Faches in der deutschsprachigen Universitätslandschaft und einer breiter interessierten Öffentlichkeit sowie angehender junger Nachwuchswissenschaftler:innen und Studieninteressierter werden.

Religionswissenschaftler:innen konnten sich durch Mapping ReWi untereinander kennenlernen und über ihre jeweiligen Forschungsthemen und -perspektiven austauschen. So wurden erste Brücken gebaut und Netze gespannt. Es gilt nun, diese Netze, die die deutschsprachige Religionsforschung verbindet, zu pflegen und fortzuführen.

Das erfordert vor allem Ressourcen, aber auch den Mut, neue Formate auszuprobieren und sich für das eigene Fach einzusetzen. Aber es zahlt sich aus! Die rege Teilnahme an den Workshops des Projekts hat gezeigt, wie groß der Wunsch nach informellem und niederschwelligem Austausch abseits großer Tagungen ist. Und es ist deutlich geworden, dass es auch den religionswissenschaftlichen Standorten nur zugute kommt, wenn sie die Vielfalt religionsbezogenen Arbeitens vermitteln und angehende Nachwuchswissenschaftler:innen zur Vernetzung über die eigenen universitären Kontexte hinweg ermutigen. Mapping Religionswissenschaft hat den Anfang dazu gemacht, die inhaltliche Vernetzung unter Nachwuchswissenschaftler:innen zu fördern. Aber Vernetzung ist nie vorbei: Es braucht weiterhin Plattformen und Räume, die zum niederschwelligen Austausch über aktuelle Themen in der Religionswissenschaft aufrufen und so die religionsbezogene Forschung langfristig stärken.

— Team Mapping Religionswissenschaft



[1] Das erste Team bildete sich aus Wissenschaftler:innen der Universitäten Bonn, Bremen und München (Lina Aschenbrenner (München), Rafaela Eulberg (Bonn), Leonie C. Geiger (Bonn), Ulrich Harlass (Bremen), Lisa Kienzl (Bremen), Jan Krawczyk (Bremen), Lara Lindhorst (Bremen), Yulia Lokshina (Bonn), Bodil Stelter (Bremen), Petra Tillessen (Bonn), Aaron Vowinkel (Bonn)). Im Sommersemester 2022 übernahm ein neues Team der Universitäten Bayreuth, Berlin, Bochum, Bonn, Bremen, Erfurt, Hannover, Leipzig und Münster das Projekt: Steffen Führding (Hannover), Dominika Hadrysiewicz (Rostock/Berlin), Ulrich Harlass (Bremen), Emin Kalinkara (Bayreuth), Ariane Kovac (Leipzig), Mareike Ritter (Münster), Isabella Schwaderer (Erfurt), Dunja Sharbat Dar (Bochum) und Petra Tillessen (Bonn).

[2] Finanziert wurde das Projekt freundlicherweise zuerst durch die Hochschulrektorenkonferenz und das Bundesministerium für Bildung und Forschung und 2022-2023 von der Deutschen Vereinigung für Religionswissenschaft (DVRW).

Die Anfänge von REMID e.V. – Zeitreise mit Steffen Rink (Teil 2)

Steffen Rink ist eines der Gründungsmitglieder von REMID e. V. und blickt mit uns zusammen zurück in die Anfänge von REMID, Höhepunkte und Herausforderungen. Er hat Politikwissenschaft, VWL und Religionswissenschaft in Marburg studiert und war dabei, als REMID 1989 entstand. Bis 1993 war er bei REMID im Beisitz, ab 1993 bis 2001 dann Vorsitzender. Von 2001-2006 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Geschäftsstelle, der „Lernwerkstatt Weltreligionen“ und als Projektleiter der „Informationsplattform Religion“ tätig.

Gesa Marxsen und Emilia Bachmann, Vorstands-Beisitzende bei REMID, haben mit ihm über sein Engagement bei REMID, die Anfänge, Ziele und Entwicklungen des Vereins gesprochen sowie auf zukünftige Perspektiven und Herausforderungen geschaut, die sich für REMID aus dieser Vereinstradition ergeben:

Wie lange waren sie dann insgesamt bei REMID aktiv? Wie viele Jahre?

Rink: Da muss ich jetzt mal kurz rechnen, insgesamt 25 Jahre etwa. Es gab quasi zwei Bereiche. Einmal die Entwicklung, die ich gerade beschrieben habe, und dann noch ein Projekt, die Reihe „Religion am Mittwoch“. Das haben wir gemeinsam mit dem Fachgebiet Religionswissenschaft und der religionskundlichen Sammlung in Marburg gemacht. Die Idee dafür ist zusammen mit Edith Franke entstanden zur Zeit ihrer Berufung und wir haben dann diese Veranstaltungsreihe gemeinsam organisiert. Ich glaube, dass es in Vereinen oder Institutionen immer so ist, dass man einen Wechsel gestalten muss. Aus meiner Sicht war das auch offensichtlich, da sich mit der Zeit eben recht viele Dinge änderten: wie haben Folgeprojekte nicht mehr machen können, es gab neue Mitglieder, die sich engagieren wollten, gleichzeitig war dieser Anfangsimpuls gegen die kirchlichen Sektenbeauftragen weg, weil sich das ganze Umfeld eben veränderte.

Diese Frontstellungen waren nicht mehr in dem Maße da, die ganze Sekten-Debatte flaute ab und es ging nun viel mehr um den Islam und Migration. Das heißt, die anfänglichen Themen spiegelten sich nicht mehr so wirklich wider und man selbst kommt irgendwie eher in die Rolle als „Erzähl-Onkel“, der immer darüber spricht, wie es früher war. Und das war dann für mich der Zeitpunkt, mich da auch rauszuziehen, damit andere mit ihren heutigen Fragestellungen, Ansätzen und Interessen weitermachen können. Dieser Übergang bot sich dann also etwa 2009 an. Das Projekt „Religion am Mittwoch“ habe ich (auch auf Bitten von Frau Franke) noch ein paar Jahre weiter mitgemacht, allerdings bin ich dann irgendwann auch in die Kommunalpolitik eingestiegen und hatte gleichzeitig eine Festanstellung und dann hat REMID da zeitlich auch nicht mehr reingepasst.

Würden Sie sagen, dass man die Ziele, die sich REMID in den Anfangstagen gesetzt hat, erreicht hat oder zum Teil erreicht hat? Und wenn ja, welche?

Rink: Das ist eine schwierige Frage. Also was wir nur mittelbar erreicht haben, ist dieser Ansatz, dass berufliche Perspektiven oder Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen werden. Ich denke der Aspekt des „Informationsdienstes“ ist ein bisschen desillusioniert. Man kann natürlich sagen, wie recherchieren für Sie und Sie bezahlen. Aber das kann so überhaupt nicht stattfinden, weil die ganze Medienlandschaft ihre eigenen Archive hat. Das ist auch etwas frustrierend – das meine ich mit desillusioniert – weil sehr viel Reproduktion von bereits vorhandenem Wissen stattfindet und häufig wieder das gleiche geschrieben wird. Weil diejenigen, die sich mit einer Sache beschäftigen auf das zurückgreifen, was es im Verlagsarchiv der Süddeutschen Zeitung oder vom Sender schon gibt. Und das hat nicht funktioniert, über so eine Schiene etwas Neues zu generieren. Es gab ganz viele andere Diskussionen, ob man nicht die interkulturelle und interreligiöse Kompetenz zu Geld machen könnte im Bereich der Firmenberatung beispielsweise für Auslandsaufenthalte oder ähnlichem. In der Ethnologie gibt es da glaube ich mehrere Initiativen, die teils auch von Einzelpersonen ausgingen, aber das hatte nichts mit REMID zu tun und so etwas haben wir nie gemacht.

Aus der heutigen Sicht würde ich sagen, interkulturelle oder interreligiöse Pädagogik, die nicht religiös ist, ist eine ganz schwierige Sache, für die wir überhaupt nicht ausgebildet gewesen wären. Ich habe jetzt 10 Jahre lang Diversity und interkulturelle Kompetenz gemacht mit Vorgaben und das geht nicht so einfach und schnell.

Was wir erreicht haben, sind die größeren, mehrjährigen Projekte und dass wir als einer anerkannten Informationsquelle für andere gedient haben und dadurch auch eine unabhängigere Perspektive in den einen oder anderen Diskurs haben einbringen können. Das muss man schon auch so sehen. Es war und blieb auch der Verbund von den Absolvent:innen, die später dann auch an den Universitäten gearbeitet haben und ganz ähnliche Ansätze mitverfolgten und in ihre Arbeit eingebracht haben.

Ich würde mal sagen 80% der heutigen Professor:innen-Generationen vertritt ganz stark diese Idee, dass die Vermittlung und Beteiligung und das Einbringen in Diskurse auch Aufgabe der Wissenschaft ist. Ob das jetzt Herr Bochinger war oder Herbert Seibert in Leipzig oder Christoph Kleine, der zwar mit REMID nicht so viel zu tun hatte, aber diesen Ansatz auch stark verfolgt hat. Und daneben stand weiterhin immer auch der Fokus auf dem Erlernen von Sprachen. Und in dieser Strömung hat REMID seinen Beitrag geleistet.

Ich persönlich glaube, dass die „Informationsplattform Religion“ sehr wichtig war, weil wir da zu manchen Themen einfach Dinge zusammengestellt haben. Noch wichtiger waren die Statistiken über die Zahlen der Mitgliedschaften der Religionsgemeinschaften in Deutschland, weil es das vorher nicht gab. Darüber hinaus hatten wir ja auch den ein oder anderen öffentlichen Auftritt zu bestimmten Fragen und hatten unter anderem eine Zusammenarbeit mit der Beauftragten der Bundesregierung für Migration und Integration, bei der es um die Frage ging, wie Religionen bzw. Religionsgemeinschaften selbst aktiv an Integrationsleistungen beteiligt sein können und einen aktiven eigenen Part übernehmen können. Dieses Thema war in Anfang der 2000er auch in der öffentlichen Diskussion und wir konnten unsere verschiedenen Netzwerke da dann auch recht erfolgreich nutzen.

Mit den Wahlen 2005 und der nachfolgenden Regierung wurde das Projekt dann nicht mehr weitergeführt. Trotzdem wurde mit dem Projekt aber nochmal dieser selbsterarbeitete Stellenwert und die Wertschätzung dafür deutlich. Und mit dem Wegfall von der Projektförderung und der Zusammenarbeit mit der Migrations- und Integrationsbeauftragten wurde aber auch klar, dass der Verein nicht die notwendigen Strukturen hat, das aufzufangen und weiterzuführen. Nur mit Ehrenamtlichen geht das nicht. Es wäre vielleicht gegangen, wenn es irgendwo (nicht zwangsläufig in Marburg) eine größere Gruppe gegeben hätte, die sich um die Weiterführung gekümmert und für sich selbst darin auch eine neue Perspektive oder Aufgabe gesehen hätte. Aber das hat es [zu diesem Zeitpüunkt] nicht gegeben. Es gab natürlich weiterhin die vereinzelten Aktiven, aber nicht mehr diese klare Struktur und wie es im Einzelnen dann weitergelaufen ist, kann ich auch gar nicht so beurteilen. Aber es war auf jeden Fall ein Bruch, das muss man denke ich schon so sehen. Das lag sicher auch daran, dass für viele der Anfangsimpuls eben auch nicht mehr da war. Es war nicht klar, wo das hingehen soll und was denn die Leute mit dem Namen REMID eigentlich verbinden. Das sind so strategische Fragen, die man sich irgendwann stellt. Daher würde ich sagen, die Ziele wurden zum Teil erreicht, zum Teil aber auch einfach nicht.

Aus Ihrer Perspektive, wo sehen Sie die zukünftigen Aufgaben oder auch Herausforderungen für den Verein?

Rink: Ich glaube, es geht um weitere Aushandlung und Diskussion genau dieser Frage: Was wollen wir? Wo sehen wir eine Rolle für REMID und was soll der Verein in den nächsten 10 Jahren sein? Manche Dinge der Anfangszeit haben ja auch überlebt. Aber die Formen der Vermittlung und auch die damit verbundenen technischen Ansprüche haben sich so schnell gewandelt: heute werden Videos gemacht oder Podcasts. Auch wenn ich jetzt nicht so drinnen bin, zu sagen, wo da die Ansatzpunkte sind, halte ich den Grundanspruch, die „akademische“ Religionswissenschaft mit einer Öffentlichkeit zu verbinden weiterhin für wichtig. Und gerade auch über Soziale Medien und das Internet mit Informationen zur Verfügung zu stehen, als Institution, die man guten Gewissens fragen kann. Das fände ich toll, wenn es das weiterhin gäbe. Es ist aber auch ein großes Ziel. Die andere Linie ganz am Anfang war ja der religionswissenschaftliche Beruf oder Religionswissenschaft im Beruf. Ich denke es wäre gut, darüber zu reflektieren, weil das alles sehr tolle Initiativen waren, die noch mal mehr dazu beigetragen haben, REMID in der akademischen Welt zu verankern oder zumindest die Verbindung dazu zu halten. Aber ich denke die Öffentlichkeit sollte man nicht aus den Augen verlieren. Man muss sich nur entscheiden und das strategisch angehen.

Vielen Dank für ihre Zeit und Ihre Perspektive auf die Vergangenheit und auch die Zukunft von REMID.

Ein Interview mit REMID Gründungsmitglied Steffen Rink in zwei Teilen – der erste Teil wurde am 24.Oktober 2023 veröffentlicht . Vielen Dank an Gesa Marxsen und Emilia Bachmann, Vorstands-Beisitzende bei REMID, für das Durchführen des Interviews und das Transkribieren.

Die Anfänge von REMID e.V. – Zeitreise mit Steffen Rink (Teil 1)

Steffen Rink ist eines der Gründungsmitglieder von REMID e. V. und blickt mit uns zusammen zurück in die Anfänge von REMID, Höhepunkte und Herausforderungen. Er hat Politikwissenschaft, VWL und Religionswissenschaft in Marburg studiert und war dabei, als REMID 1989 entstand. Bis 1993 war er bei REMID im Beisitz, ab 1993 bis 2001 dann Vorsitzender. Von 2001-2006 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Geschäftsstelle, der „Lernwerkstatt Weltreligionen“ und als Projektleiter der „Informationsplattform Religion“ tätig.

Gesa Marxsen und Emilia Bachmann, Vorstands-Beisitzende bei REMID, haben mit ihm über sein Engagement bei REMID, die Anfänge, Ziele und Entwicklungen des Vereins gesprochen sowie auf zukünftige Perspektiven und Herausforderungen geschaut, die sich für REMID aus dieser Vereinstradition ergeben:

Herr Rink, wir kennen Sie vor allem als Gründungsmitglied von REMID, haben Sie aber im Verein nicht erlebt. Möchten Sie vielleicht damit anfangen, sich vorzustellen und von ihrer Zeit bei REMID zu erzählen?

Rink: Ja, kann ich gerne machen. Ich bin Steffen Rink, mittlerweile 58 Jahre alt und wohne immer noch in Marburg, da wo der Verein REMID auch gegründet worden ist. Ich gehörte damals zu einer der Personen, die es für wichtig befunden haben, so einen Verein zu gründen. Es gab damals bundesweit einige Vernetzungsanstrengungen, an denen eine Reihe von Personen beteiligt waren. Und ja, es ist richtig, ich bin auch Gründungsmitglied von REMID, das war im März 1989. Ich selbst war dann daher einfach sehr engagiert und auch über lange Zeit einer der drei Vorsitzenden.

Vor ungefähr 15 Jahren bin ich aus dieser ehrenamtlichen Tätigkeit ausgestiegen, weil es mir zum einen ein bisschen viel geworden ist, zum anderen habe ich mich in dem Ehrenamt und auch beruflich neu orientiert. Ich bin heute bei einem Bildungs- und Beschäftigungsträger beschäftigt für verschiedenste Projekte, war zwischendurch aber auch selbstständig in einem anderen Bereich tätig. Insofern ist REMID schon ein Teil von meiner ganzen Entwicklung, weil mich das sehr geprägt hat. Heute gucke ich immer interessiert, wie sich das Ganze weiterentwickelt und ich glaube, im Moment sieht es ja auch wieder ganz positiv aus, das freut mich sehr.

Sie haben gesagt, dass sie einer von mehreren Gründungsmitgliedern sind. Wer waren denn die anderen?

Rink: Der Kontext, aus dem das alles entstanden ist, waren die sogenannten Bundes-Fachschaften-Treffen, die damals in Bonn, Marburg, Bremen und anderswo stattgefunden haben. Später wurde dann das Studierenden-Symposium draus, aber damals war das vor allem noch die Fachschaften-Vernetzung. Unter Martin Baumann und seiner Frau Silke Busch, Sebastian Murken, Christine Lindemann, Thomas Schweer, Joachim Schmidt und mir wurde dann zirkuliert, dass man so einen Verein bräuchte.  Martin Wolf war glaube ich auch ein bisschen daran beteiligt.

Ich kann mich an eine Situation erinnern, da haben wir in den Bibliotheksräumen der Universität in Marburg einzelne Bögen zusammengelegt, geheftet und geschnitten und da waren eben auch Joachim Schmidt, Martin Baumann und Sebastian Murken dabei. Währenddessen wurde dann konkretisiert, was man für so eine Vereinsgründung machen müsste. Und so ist das quasi entstanden. Aus dem Impuls heraus, der von vielen anderen mit gleichen Interessen oder Anliegen getragen wurde. Und die haben das dann gemacht und ich war auch mit dabei.

Das heißt die gemeinsame Motivation, den Verein zu gründen, war dann praktisch so eine Entwicklung innerhalb dieser Fachschaften-Vereinigung?

Rink: Ja, also das war in den 80ern und ohne jetzt weit auszuholen, versuche ich, das mal kurz zu beschreiben: das Studium der Religionswissenschaft in den 70er und 80er Jahren war im Grunde sehr klar strukturiert. Man studierte das Hauptfach Religionswissenschaft und dann im Nebenfach Sprache, weil man ja Quellentexte übersetzen musste. Die meisten haben dann Sanskrit gelernt, manche Japanisch oder Arabisch, je nachdem, was an den Universitäten angeboten wurde. In dem damaligen Magister-Studiengang hatte man meistens noch ein drittes Nebenfach, das war dann oft Ethnologie, „Völkerkunde“ wie es oft noch hieß, oder ähnliches. Das war das klassische Studium der Religionswissenschaft. Und das war sehr geprägt auch von den alten, langen Traditionen der Phänomenologie und der intensiven Textbeschäftigung

In den Achtzigern kamen von verschiedenen Seiten Aufbruchsbewegungen. Herr Kippenberg hatte beispielsweise damals sehr befördert, die Religionswissenschaft in der Kulturwissenschaft zu verankern, zusammen Burkhard Gladigow. Hubert Seiwert, Hartmut Zinser u. a., also die ganze jüngere Generation der Professor:innen haben sich bemüht, die Religionswissenschaft in die sozialwissenschaftliche Richtung hineinzubewegen. Und das hat natürlich auf uns abgefärbt. Es gab eine Situation, da war in Marburg der Kongress der Deutschen Vereinigung für Religionsgeschichte, die heute Deutsche Vereinigung für Religionswissenschaft (DVRW) heißt – dieser Namenswechsel steht auch symbolisch für diese Veränderungen, die über die Jahre stattgefunden haben.

Wir waren damals noch Studierende und waren dann bei einem Empfang des Präsidenten der Phillips-Universität und der Organisator Professor Michael Pye sprach in seinem Grußwort das Thema der beruflichen Chancen von Religionswissenschaftler:innen an, die es de facto damals nicht gab. Was würde man denn machen, wenn man Sanskrit gelernt hat und die Vedischen Texte übersetzen konnte? Pye sagte damals, wir als Wissenschaftler:innen könnten da nichts für tun, weil wir die fachlichen Stellen als Religionswissenschaftler:innen nicht schaffen könnten. Aber in anderen Fächern haben sich die Absolvent:innen selber organisiert, um auch der gesellschaftlichen Bedeutung ihres Studiums Gewicht zu verschaffen, um auf sich aufmerksam zu machen und wahrgenommen zu werden und so dann auch vorhandene oder neue berufliche Positionen zu erlangen.

Und das war glaube ich ein ganz wichtiger Impuls, der dann von all den gerade schon genannten Personen, Herr Baumann, Herr Murken, Edith Franke und noch sehr viele mehr, getragen wurde. Welche beruflichen Perspektiven habe ich? Keine? Bis auf die wenigen, die im Wissenschaftsbereich bleiben konnten. Und wie kann ich welche schaffen, wenn mir andere nicht helfen können? Denn das Studium war in weiten Teilen auch noch so ausgerichtet, dass es eben sehr auf die akademische Laufbahn hin orientierte. Und da blieb nicht für viele etwas übrig.

Die dritte Linie, die sich in der Gründungsmotivation auch findet, war, dass in den 80er Jahren eine sehr starke emotionale öffentliche Debatte über neue religiöse Bewegungen, sogenannte ‚Sekten‘ geführt wurde. Das ist ja eigentlich ein religionswissenschaftliches Thema, hieß es dann. Es gab auch schon ein paar Standorte, die sich mit Gegenwartsphänomenen beschäftigten. Heute ist das total anders. Die Welt wurde halt von denen, die dann auch den wissenschaftlichen Weg gingen, sehr verändert. Christoph Bochinger spielte dabei auch eine sehr große Rolle, er hat das alles begleitet und sich auch sehr für diese Zielstellung eingesetzt.

Man konnte in dieser Debatte also sinnbildlich sehen: ein originär religionswissenschaftliches Thema, also neue religiöse Bewegungen und religiöse Innovationen, das Entstehen neuer Religionen – also das, womit sich die Studierenden und Wissenschaftler:innen in fremden Ländern wie Japan oder China als klassische Beispiele beschäftigen – wird in Deutschland von einer Religionsgemeinschaft bzw. den „Sekten“-Beauftragten der katholischen und evangelischen Kirche sozusagen ‚fachlich besetzt‘ – und das auch noch in einer sehr polemischen, abwertenden und apologetischen Art und Weise. Und in dieser öffentlichen Debatte wurde so viel Blödsinn erzählt, dass klar war: wir Religionswissenschaftler:innen müssten doch eigentlich an der Debatte teilnehmen und gefragt werden. Dann hätten wir auch eine Perspektive der Wissenschaftsvermittlung, im Journalismus und vielen anderem mehr. Das war so der fachlich, inhaltliche Gedanke bei der ganzen Sache.

Die Religionswissenschaft schien sich damals auch gerade in einem Wandel zu befinden?

Rink: Wenn ich das noch dazu sagen darf: es wäre ja natürlich vermessen zu sagen, das alles hätte jetzt REMID irgendwie befördert. Sondern es waren wirklich Strömungen und Bestrebungen von ganz unterschiedlichen Seiten. Aber es war dann schon eine Aufbruchstimmung in der Wissenschaft selbst, die auch von den Älteren befördert oder auch gutgeheißen wurde. Ich habe gerade das Beispiel von Herrn Pye gebracht, der natürlich immer auch ideell die ganzen Bemühungen unterstützt hat. Er hat sich ja selbst auch für so eine Wende in der Religionswissenschaft eingesetzt, weg von der Phänomenologie, hin zu historischen Methoden. Das lief alles schon ein bisschen länger und wurde aber jetzt in den 80er Jahren so richtig sichtbar und auch eingefordert. Und diese Veränderungen führten letztendlich auch dann zu einer Wissenschaft, wie wir sie heute kennen. Nein, das ist wirklich nicht mehr vergleichbar. Wobei man zum Beispiel das Übersetzen von Texten natürlich immer noch machen muss.

Was waren Ihre Aufgaben bei REMID und welche Projekte lagen Ihnen besonders am Herzen?

Rink: Das ist ein bisschen schwierig. Also es gab einen sehr großen ideellen Anspruch, was man könnte, was sein müsste und wie man die Welt verändern wollte. Das war schon alles gut formuliert, aber es gab dafür trotzdem keine zielgerichteten Aktionen. Es gab auch kein Geld oder Ressourcen, es war eine ideelle Sache. Viele der Gründungsmitglieder waren auch sehr schnell nicht mehr in Marburg. Es gab dann eine Diskussion in der Wohnung von Herrn Murken in Marburg, da saßen wir auf seinem wunderbaren Futonbett und redeten darüber, wie man sich denn irgendwie bemerkbar machen könnte.

Und dann gab es die Idee: Wir haben doch gerade die Diskussion oder öffentliche Kontroverse über neue religiöse Bewegungen, etwa die Vereinigungskirche (Moon-/Mun-Sekte), Ananda Marga und natürlich auch Scientology. Und man müsste doch jetzt mal was zu Scientology machen oder dazu mal was sagen. Ich fand das nicht so eine kluge Idee, aber die anderen schon und da wurde dann eine ‚Stellungnahme zur gegenwärtigen Situation der Scientology-Kirche‘ geschrieben. Darin wurde dann kritisiert, dass die Diskussion so einseitig sei und dass Scientology durchaus eine Religion sein könnte, wenn man bestimmte Maßstäbe anlegen würde. Das war insgesamt auch recht harmlos, weil man gar nicht wusste, was man mit der Stellungnahme wollte. Und es war auch nicht hübsch gestaltet, sondern halt nur der reine Text.

Es gab die Idee, die Stellungnahme den Abgeordneten zu schicken und zu zeigen, dass die Religionswissenschaft doch endlich mal sachlich aufklären und diesen Konflikt befrieden könnte. Die Scientology-Kirche bekam das aber dann auch selbst in die Hände und meinte „Ach schau‘, noch ein Papier, das uns den Status einer Religionsgemeinschaft bescheinigt.“ Wobei der Text wirklich im Konjunktiv verfasst war. Aber für die war klar: die angehenden deutschen Religionswissenschaftler sehen das genauso, wie das, was die Scientology-Kirche sich damals auch von anderen Wissenschaftlern in wunderbaren Hochglanz-Broschüren hat zusammenschreiben lassen, dass sie doch eigentlich eine völlig normale Religionsgemeinschaft seien und man gar nicht versteht, was man gegen sie haben könnte. Und damit war natürlich etwas gesetzt, was dann doch irgendwie Wellen schlug.

Ich hatte dann die Aufgabe, Menschen vom Bundestag und Jugendausschuss zu erklären, was das eigentlich für eine Verein ist. Den kenne man ja gar nicht. Es wurde auch darüber geschrieben, dass ein junger Verein angehender Wissenschaftler:innen eine Stellungnahme veröffentlicht hat, die keine Absender oder Verantwortlichkeiten enthält. Also da wurden wir schon auch ein bisschen nieder gemacht, aber waren auch auf einmal in aller Munde. Da ich viele der Telefonate geführt habe, war ich dann auch die Person, der das zugeschrieben wurde, sich dazu noch weiter zu äußern. Also damit ging es dann los und das hat viel, viel Aufmerksamkeit hervorgerufen. Natürlich hat mir das gar nicht so gefallen.

Auf der anderen Seite geht man dann in die Konflikte rein und man lernt unendlich viel dabei, sich auf Podiumsdiskussionen zu behaupten und Strategien für eine Diskussion zu machen, wird dabei auch mal eingemacht, also teils wirklich rundgemacht. Ich war zum Beispiel bei dem Jahrestreffen der katholischen Sekten-Beauftragten eingeladen und das war heftig dort. Also da merkt man, dass man ein bisschen nachlegen muss. Man musste sich nicht mehr behaupten, dass man was kann, sondern auch wirklich zeigen, dass man was kann. Das war eine Situation, die insgesamt zu einer Professionalisierung geführt hat. In dem Zusammenhang ist bei REMID zum Beispiel auch die Liste der Mitgliederzahlen der Religionsgemeinschaften in Deutschland entstanden, die es ja heute immer noch gibt. Also da kam das auf, dass wir Schriftenreihen machten und Infos veröffentlichten, um auch zu zeigen, dass wir das überhaupt auch können. Das wiederum fand ich dann ganz gut. Das war eine sehr intensive Zeit, deswegen erzähle ich das auch so ausführlich und deswegen kommt das jetzt auch wieder so ausführlich hoch.

Im weiteren Verlauf hatten wir Beschäftigungsmaßnahmen im Verein und das war dann der nächste Sprung der Professionalisierung. Wir haben in diesen Jahren Projektvorbereitungen gemacht und über die Bundesförderung ein Programm gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit organisiert. Das Projekt hieß „Informationsplattform Religion“, ging drei Jahre lang und sollte und wollte über verschiedene Gegenwartsfragestellungen informieren. Das Projekt wurde auch mehrfach ausgezeichnet, weil es damals auch relativ neu war, so etwas zu tun. Danach haben wir noch zwei Jahre lang ein anderes Projekt in dem gleichen Programm gemacht, die „Lernwerkstatt Weltreligionen“. Es haben sich dann aber die Förderbedingungen geändert und wir haben die Fortsetzung und Co-Finanzierung des Projekts nicht mehr geschafft, obwohl wir schon die Zusage für ein nächstes Lernwerkstatt-Projekt hatten.

Um auf die Frage zurückzukommen: diese Informationsplattform Religion war genau mein Ding, weil da auch Sachen passierten, die ich gerne mache – schreiben, Informationen darstellen und aufarbeiten, etc. In die Lernwerkstatt war ich auch involviert. Wir zwei haben in dieser Sekten-Debatte eine Tagung gemeinsam mit dem Verein CESNUR[1] aus Italien zu neuen Religionen veranstaltet. Die Tagung war auch heftig in der Kontroverse, weil auch CESNUR eine Nähe zu neuen religiösen Bewegungen vorgehalten wurde. Das war ein weiterer Aspekt der Selbst-Professionalisierung. Um das nochmal zusammenzufassen: die Scientology-Diskussion hat bei uns bewirkt, wirklich zu zeigen, dass man was kann. Es war natürlich eine tolle Erfahrung zu sehen, dass das auch geht und dass man etwas verändern kann, dass man wahrgenommen wird und sich von den Vorurteilen und Vorwürfen lösen kann und ernst genommen wird. Daran haben gleichzeitig auch andere Personen mitgewirkt, wie Herr Seibert und Herr Murken, die in der Bundestagskommission als Experten beteiligt waren. Die vom Bund geförderten Projekte haben dazu dem Verein erlaubt, mit einer guten finanziellen Basis parallel all die anderen Sachen weitertreiben zu können, wie etwa die Veröffentlichungen.

Ein anderes sehr tolles Projekt, das ich erwähnen möchte, waren die Darstellungen „Religionsgemeinschaften in meiner Stadt/meinem Landkreis/etc.“, mit denen wir in den 90er Jahren eine der ersten waren, die das gemacht haben. Wir haben gemeinsam mit Hermann Ruttmann das berühmte grüne Buch „Religionen Kirchen Konfessionen. Glaubensgemeinschaften in Marburg“ gemacht, der dieses Thema eben nicht nur auf die Stadt Marburg bezogen hatte – was wir vorher auch schon einmal gemacht hatten – sondern auf einen ganzen Landkreis. Das waren sehr interessante Ergebnisse, weil es hier sehr viele evangelikale, freikirchliche Gruppierungen gibt. Das war ein richtig großes Buch mit 200 Seiten, bebildert und wurde mit der Unterstützung vom Landkreis auch umgesetzt. Das war etwas Zeigbares, wo REMID auch als Herausgeber draufstand und was für die Wirkung nach außen und die Zuschreibung von Kompetenz total wichtig war.


[1] CESNUR: Center for Studies on New Religions, Sitz in Turin.

Ein Interview mit REMID Gründungsmitglied Steffen Rink in zwei Teilen – der nächste Teil, „Die Ziele und Herausforderungen von REMID e.V.“ folgt in der kommenden Woche. Vielen Dank an Gesa Marxsen und Emilia Bachmann, Vorstands-Beisitzende bei REMID, für das Durchführen des Interviews und das Transkribieren.

Abenteuer „Religion and Technology“ im eindrucksvollen Vilnius

Eindrücke von der 20. EASR Konferenz – Bericht von REMID Mitglied Evelyn Reuter

Vom 4. bis zum 8. September 2023 fand in Vilnius (Litauen) die 20. Konferenz der EASR zum Thema „Religion and Technology“ statt. Der einzigartige Tagungsort sowie das zukunftsweisende Thema kombiniert mit einer besonders hilfreichen Infrastruktur machten die Konferenz für mich zu einem besonderen Erlebnis.

Vilnius als kontrastreicher Konferenzort

Ursprünglich sollte die Tagung in Kyiv (Ukraine) stattfinden, was jedoch aufgrund des Krieges nicht möglich war. Daher warben die Organisator*innen aus Vilnius letztes Jahr auf der Konferenz in Cork eindrücklich dafür, nach Vilnius zu kommen, indem sie den amüsanten Clip „Do you know where Vilnius is?” zeigten, der es später leider nicht in die späteren Ankündigungsemails oder die Webseite geschafft hat. Das Fazit: „Vilnius: amazing wherever you think it is“.

Ich wusste zwar, dass Vilnius die Hauptstadt von Litauen ist, war aber noch nie dort. Die hübsche Altstadt birgt neben den bekannten Sehenswürdigkeiten, wie das Tor der Morgenröte, in welchem sich eine Marienkapelle befindet, einige unscheinbarere religiöse Orte. Dazu zählt unter anderem die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche, die ich auch wegen meines Forschungsinteresses an unierten Kirchen als religiöse Minderheiten besuchte.


Generell erschien Vilnius sehr solidarisch mit der Ukraine. Dies zeigte sich sowohl an den vielen Ukraine-Flaggen, die von den Balkons wehten, als auch an dem Schriftzug „Vilnius ♥ Ukraina“, der abwechselnd mit den Fahrtzielanzeigen der Busse aufschien. Am Rand der Innenstand stehen die die vermutlich vorsozialistisch, fast dörflich anmutenden Häusern im Kontrast zu den neuen Gebäuden, wie Einkaufsmeilen, Banken oder Hotels, wie das Radisson Blue, in dem die Konferenz stattfand.

Religion and Technology – ein zukunftsweisender Ansatz

Das Thema der Konferenz erschien mir zunächst zu speziell, obwohl es meine Neugier weckte. Unter der Vielfalt der Panels gab es mehrere, die zu meinen Themen passten, so dass ich mich entschied daran teilzunehmen. Und um es vorweg zu nehmen, es hat sich gelohnt, sich auf das Thema einzulassen. Die Organisator*innen haben ganz im Zeichen des Themas eine KI-Person kreiert, die die Teilnehmenden beim Opening Event noch vor offiziellen Vertreter*innen der Universität begrüßte:

Ganz im Zeichen der Technik gab es kein gedrucktes Book of Abstract, dafür aber die Möglichkeiten, alle Konferenzteile als Datei in den eigenen Kalender zu exportieren und den Panelorganisator*innen über Konferenzseite eine Nachricht zu schicken.

Auch die Auswahl der Keynote Speaker war gelungen. Den Auftakt machte Bronislaw Szerszynski (Lancester University, UK) mit einem sehr kunstvollen Vortrag zum Thema „The Twilight of the Machines: Technology Before and After Monotheism“. Dabei fiel insbesondere die innovative Form der Keynote auf: In dem atmosphärisch blau und rosa ausgeleuchteten Saal erzählte er die Geschichte von Menschen, Religion und Technik. Der einstudierte Vortrag war rhythmisch auf die mystisch anmutende Hintergrundmusik abgestimmt. Das Ende des dramaturgischen Beitrags reichte in die Zukunft, in der Maschinen die Erde verlassen würden und vergangene Technik (wie z.B. PCs) auf der Erde zurücklassen. Im Nachgespräch meinte Szerszynski, dass KI ihn zum Ende der Geschichte inspiriert habe, die auch in der Religionswissenschaft zum Game Changer werden wird.


Auch von François Gauthiers (Universität Fribourg, Schweiz) Keynote „Blowing it up at Burning Man. Religion, Technology and Ritual in the Age of Authenticity“ sprachen die Teilnehmenden noch Tage danach. Gauthier stieg mit ethnographischem Material ein, um die Zuhörenden anschaulich in die Szenerie des Events einzuführen. Anschließend analysierte er die erstaunlich vielen religiösen Bezüge, wobei er Religion als grundlegende und unableitbare Dimension sozialer Phänomene betrachtet. Unter den zahlreichen Panels waren mehrere, die sich mit der Erforschung von sozialen Medien und der Auswirkung der Pandemie auf Religion widmeten. Auch der FID Religionswissenschaft als Kooperations-Partner von REMID war vertreten und stellte das Projekt RelBib als wichtiges religionswissenschaftliches Tool vor.

Förderliche Infrastrukturen

Das Panel „Thinking Infrastructurally about Religion (and Religiously about Infrastructure)“ veranlasste mich auch über die Infrastrukturen der EASR Konferenz nachzudenken, die zum Gelingen einer solchen Veranstaltung beitragen und der grenzübergreifenden Vernetzung dienen. Neben den vielen traditionellen, fast selbstverständlich scheinenden Infrastrukturen – wie Kaffeepausen, Exkursionen, etc. – stach für mich dieses Jahr eine besonders hervor, weil ich ohne sie zum ersten Mal hätte nur schwerlich teilnehmen können: Die Kinderbetreuung. Da außer mir noch eine andere Teilnehmerin die Kinderbetreuung in Anspruch genommen hatte, fiel mir auf, wie schwierig es ist, für eine internationale Konferenz jemanden zu finden, der/die auch der sprachlichen Vielfalt der zu betreuenden Kinder gewachsen war.

Auch weil ich viel Zeit in dem Zimmer für die Kinderbetreuung verbracht habe, war die Konferenz zusammenfassend sehr intensive. Ich wusste im Voraus, dass ich neue Erfahrungen sammeln werde. Daher bin ich den umsichtigen Organisator*innen der Konferenz sehr dankbar, eine so freundliche Nanny engagiert zu haben, die mir die Teilnahme ermöglichte, obgleich ich selbst eine Back-Up-Alternative arrangiert hatte. Gleichzeitig bin ich froh, mich auf das Abenteuer Konferenz mit Kind eingelassen zu haben.

Evelyn Reuter

Kooperation zwischen REMID e.V. und der Goethe Universität Frankfurt am Main

Seit August 2023 besteht zwischen REMID e.V. und dem Fachgebiet Religionswissenschaft der Goethe Universität Frankfurt am Main eine Praktikumsvereinbarung, welche es Studierenden ermöglicht, ein mindestens vierwöchiges Praktikum bei REMID e.V. zu absolvieren. 

Im Rahmen dessen hat sich REMID e.V. dazu verpflichtet, mindestens eine*n Ansprechpartner*in den Studierenden zur Seite stellen, um ihnen eine geeignete Einweisung zu bieten. Praktikant*innen wird somit ermöglicht, erste Einblicke in die Vereinsarbeit zu erhalten und aktiv Öffentlichkeitsarbeit, vor allem über die Website und social media, zu leisten. So besteht auch die Möglichkeit, selbstständig Blogeinträge über eigene Abschlussarbeiten oder andere aktuelle und relevante Themen zu verfassen. Neben redaktionellen Tätigkeiten bietet ein Praktikum bei REMID zudem einen Blick in Korrespondenz, Netzwerkarbeit, Mitgliederverwaltung und Projektplanung.

Interessierte können sich mit einem Lebenslauf und einem formlosen Motivationsschreiben mit Angaben zu eigenen Schwerpunkten und Interessengebieten bewerben.

Grundsätzlich ist REMID e.V. daran interessiert, auch mit weiteren Universitäten und geeigneten Instituten vergleichbare Kooperationen aufzubauen. Bei Interesse und Fragen sind wir über [email protected] zu erreichen.

Weitere Informationen zu Praktika bei REMID finden Sie unter www.remid.de/verein_praktikum/

Atheistische Online-Community – Untersuchungen zu sozialen Interaktionsformen von Atheist*innen auf Reddit


Im Juni 2021 habe ich mich erfolgreich auf ein Abschlussstipendium von REMID e. v. beworben und konnte mit dieser Förderung meine Masterarbeit mit dem Titel „Atheistische Online-Community – Untersuchungen zu sozialen Interaktionsformen von Atheistinnen auf Reddit“ verwirklichen. Verfasst wurde die Arbeit unter Supervision von Frau Dr. Carmen Becker und Herrn Dr. Steffen Führding und eingereicht im Institut für Religionswissenschaft an der Leibniz Universität Hannover.

Thema

Thematisch lässt sich die Arbeit grob im Feld von Studien über Nicht-Religion (nonreligion) einordnen. Im Fokus stehen hierbei primär Phänomene, welche selbst in der Regel nicht als „religiös“ klassifiziert werden, gleichzeitig aber einen unmittelbaren und mitunter zwingend notwendigen Bezug zu Religion aufweisen. Atheismus wie auch verwandte Bereiche wie Antiklerikalismus oder Religionskritik sind in diesem Kontext naheliegende Beispiele. Die religionswissenschaftliche Relevanz ergibt sich dabei in erster Linie daraus, dass gleichzeitig Schlüsse über die Wahrnehmung von und Haltung gegenüber „Religion“ gezogen werden können. Dies wurde im Rahmen der Ergebnissicherung meiner Arbeit ebenfalls deutlich.

Abseits dieser akademischen Situierung ist der Forschungsgegenstand in einer nordamerikanisch und anglophon Prägung zu kontextualisieren, was sich primär aus dem untersuchten Feld ergibt. Reddit ist eine 2005 gegründete Social-News-Website, welche Foren für nahezu sämtlichen Themen und Interessengebiete bietet. Userinnen finden sich in für sie relevante Unterforen (sog. Subreddits) zusammen und tauschen sich aktiv unter einander aus. Gibt es zu einem Thema noch kein Subreddit oder wird der bisher existierende als unzufrieden stellend wahrgenommen, können Userinnen ein neues Unterforum gründen und dort in Kontakt mit anderen treten. Nach eigener Angabe verzeichnet Reddit derzeit über 100.000 solcher thematischen Foren sowie täglich über 52 Millionen Userinnen. Im Jahr 2021 belegte Reddit Platz 21 der weltweit am häufigsten besuchten Internetseiten. Der sich auf Atheismus fokussierte Subreddit r/atheism wird von ca. 2,7 Millionen Userinnen besucht und stellt damit nach eigener Darstellung das größte Online-Forum für Atheistinnen dar. Ohne an dieser Stelle zu weit in Details zu gehen, war es in diesem Sinne auch ein Anliegen der Masterarbeit, das Potenzial von Online-Foren allgemein und Reddit bzw. r/atheism im Spezifischen für sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung hervorzuheben.

Vorgehen

Kernanliegen der Masterarbeit war es, einen qualitativ erhobenen Einblick in die Lebensrealität und relevanten Diskussionsthemen von Userinnen des Online-Forums r/atheism zu erhalten. Aufgrund des beschränkten Umfangs konnte zwar kein Anspruch auf Generalisierbarkeit und Repräsentativität erhoben werden, dennoch wurden mittels Vergleiche wiederkehrende Narrative, Themen und Motive ausgemacht. Die Datengrundlage ergab sich aus einem zeitlich abgegrenzten Auszug aus den Forumsinhalten von r/atheism: In einem Zeitraum von zwei Wochen wurden sämtliche textbasierten Forumsbeiträge und die in dieser Zeit hinzugefügten Kommentare erhoben. An diese Stelle kam das Stipendium von REMID besonders gelegen, da ich für die Datenerhebung tatsächlich finanzielle Kosten aufbringen musste. Um die Forumsbeiträge übersichtlich zu organisieren und zu strukturieren, wurde sich die kostenpflichtige Analyse-Software MAXQDA zu Nutzen gemacht. Als PDF exportiert wurde somit jeder einzelne Forumsbeitrag (=Thread) inklusive der dazugehörigen Kommentare in MAXQDA eingespeist, codiert und mit Memos versehen. Letztendlich ergaben sich hieraus insgesamt 279 Analyseeinheiten, welche die Grundlage für die vergleichende Analyse bildeten.

Ergebnisse

Im Theorieteil der Arbeit wurde zunächst der Fokus auf den gesellschaftlichen Kontext US-Amerikanischer Atheistinnen gelegt. In diesem Zuge herausgestellt hat sich der normative Status von Religion innerhalb der Zivilgesellschaft und sein unmittelbarer Einfluss auf die Stigmatisierung und Diskriminierung all derjenigen, welche von dieser Norm abweichen. Dadurch, dass Religiosität in den USA eine stark national-identitätsstiftende Bedeutung zukommt und mitunter als Voraussetzung für die Zugehörigkeit zu einer moralischen Gemeinschaft verstanden wird, werden Atheistinnen als kulturell und ideologisch Andere konstruiert. Die hieraus abgeleitete Wahrnehmung als marginalisierte Minderheit rückt wiederum Fragen von individueller wie kollektiver Identität in den Vordergrund, sodass das Outing als Atheistin weit über die persönliche Ablehnung des Gottesglaubens hinausgeht. Herausgearbeitet wurde, wie Atheistinnen sich aufgrund kollektiver Alltagserfahrungen untereinander mobilisieren und politische Forderungen nach Gleichberechtigung und Akzeptanz formulieren. Sog. atheistischer Aktivismus wird dabei in erster Linie unter dem Schlagwort der Identitätspolitik verhandelt, in dessen Rahmen sich Minderheitsdiskurse bedient wird und das Selbst mittels der Grenzziehung zu Religion(en) konstruiert wird. Religion und religiöse Menschen werden in diesem Zusammenhang überwiegend als Antagonistinnen und potentielle Bedrohung wahrgenommen.

In besonderer Weise haben sich Ideen von Minderheitsdiskursen, Identitätspolitik, Othering und (politischer) Mobilisierung im Rahmen der Analysearbeit widergespiegelt. Religionskritik (aufgeteilt in Kritik an religiösen Menschen, Institutionen und Ideen bzw. Vorstellungen) etwa nimmt in dem Subreddit eine zentrale Rolle ein. In der Masterarbeit wurde dies vor allem als Ausdruck des Othering gedeutet, in dessen Zuge das eigene Selbst (rational, wissenschaftlich vernünftig) aufgewertet und das konstruierte Andere (irrational, verblendet, potentiell gewaltbereit) abgewertet wird. Die Erhöhung des Selbstbildes ist zudem unmittelbar als Ergebnis der erfahrenen Stigmatisierung und Diskriminierung von Atheistinnen in den USA zu verstehen. Gleichzeitig hat die gesellschaftliche Stellung zur Folge, dass Userinnen das Forum nutzen, um Gemeinschaft, Solidarität und gegenseitigen Beistand zu suchen. Aus zahlreichen Forumsbeiträgen ging hervor, dass Reddit und das Internet allgemein ein Rückzugsort und „safe space“ angesichts der als übergriffig und feindlich gesinnt wahrgenommenen und religiös dominierten Mehrheitsgesellschaft gesehen werden. Der Austausch mit Gleichgesinnten, das Erbitten um Hilfe und Rat (zum Beispiel wie sich gegenüber den Eltern „geoutet“ werden soll) und das gegenseitige Beistehen in Konfliktsituationen scheint für eine Großzahl der Userinnen einer der wichtigsten Gründe, regelmäßig das Forum aufzusuchen.

Eine wesentliche Erkenntnis der Arbeit war schließlich, dass sich Atheistinnen zwingend mit diversen Dimensionen von Religion konfrontiert sehen. Nicht trotz, sondern gerade wegen ihres Unglaubens sind Atheistinnen von Religion geprägt, da ein großer Teil ihres Alltags davon bestimmt ist, in einer Umwelt zu leben, welche Religiosität als Norm und Zugehörigkeitsmerkmal voraussetzt. Dabei spiegelt sich die eigene Abweichung in nahezu sämtlichen Lebensbereichen wider: Arbeitsumfeld, Beziehungen zu Familie und Freundinnen, aber auch die persönliche Belastung angesichts eines gesamtgesellschaftlichen Drucks, sich religiös zu bekennen. Die prinzipielle Gegensätzlichkeit von Atheistinnen und religiösen Menschen, wie sie aus der Selbst- und Fremdwahrnehmung der Userinnen von r/atheism zu entnehmen ist, wird vor allem in Berichten über gemeinsame Interaktionen sichtbar.

Die Auseinandersetzung mit religiösen Verwandten, Bekannten und anderen Personen des sozialen Umfelds stellt vor diesem Hintergrund eine Konstante innerhalb des Subreddits dar. Mit der Allgegenwärtigkeit religiösen Denkens und seinem Einfluss auch auf politischer Ebene wird das religiöse Umfeld als Gefährdung des eigenen Wohls betrachtet. Ausdruck findet dies in Erfahrungsberichten, in welchen Userinnen u. a. hochgradig persönliche Informationen teilen und tiefe Einblicke in emotionale Themen geben. Entsprechend einfühlsam und entgegenkommend fallen auch die Reaktionen der Reddit-Community aus. Obwohl es sich bei den Akteuerinnen des Forums letztendlich um anonyme Fremde handelt, finden sich Hinweise darauf, dass r/atheism für Viele eine Support-Plattform von großer emotionaler Bedeutung bietet. Der Subreddit fungiert hier zum einen als Mediator für atheistisch relevante Inhalte, ermöglicht gleichzeitig aber auch den persönlichen Austausch mit Gleichgesinnten. Neben der Funktion als „safe space“ und Plattform für emotionalen Beistand und den Abbau psychischer Belastung, wird das Online-Forum also für Informationsaustausch und die weltanschauliche Bestätigung genutzt. Hierbei handelt es sich um eine weitere wichtige Erkenntnis dieser Arbeit, welche letztlich Antworten darauf liefert, weshalb Online-Umgebungen wie r/atheism von zentraler Bedeutung für gegenwärtigen Atheistinnen sind: Sie bieten gesellschaftlich marginalisierten und isolierten Menschen Zuflucht vor ihrem religiös dominierten Alltag und ermöglichen ihren Userinnen Bewältigungsmechanismen und persönliche Weiterbildung.

Aus religionswissenschaftlicher Perspektive von Interesse ist des Weiteren die Tatsache, dass „Religion“ in dieser Arbeit zwar nicht das eigentliche Forschungsobjekt darstellt, dennoch von zentraler Bedeutung ist. Atheismus kann nicht ohne den Rückbezug auf Aspekte des Religiösen untersucht und verstanden werden, sondern ist stets in einem dualistischen Verhältnis zu begreifen. Für die Religionswissenschaft bestätigt dies abermals, dass auch die Auseinandersetzung mit dem breiten Feld der Nicht-Religion einen wesentlichen Beitrag zu der Erforschung von Religion liefert. Darüber hinaus hat die Analyse von r/atheism wiederholt bestätigt, welches Potenzial die Analyse Online-Umgebungen für sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung besitzt. Im Vergleich zu „klassischen“ Erhebungssituationen sind die Charakteristika von Online-Räumen wie Reddit schlichtweg zu eigen, als dass sie für eine ganzheitliche Untersuchung eines Forschungsbereichs ignoriert werden können. Im Falle dieser Arbeit konnte so gezeigt werden, wie sich das Alltagsleben von Atheistinnen abseits formaler Organisationen oder öffentlichkeitswirksamer Leitfiguren gestaltet. Die Kombination aus Anonymität und digitaler Öffentlichkeit ermöglichte einen nahezu ungefilterten Blick in die Lebensrealität von durchschnittlichen Atheist*innen, ihre alltäglichen Sorgen und Probleme und die Konstruktion ihrer religiösen Umwelt. Das Maß persönlicher Involvierung und emotionaler Tiefe gibt nicht nur Aufschluss über die Funktion von r/atheism, sondern verdeutlicht auch den Stellenwert, der mit dem „Bekenntnis“ zum Atheismus in einer ansonsten stark religiös geprägten Umwelt einhergeht.
Sebastian Mihatsch, M.A.

Masterarbeit „Catholic Hegemony? Die Konstruktion von ‚Religion(en)‘ in der TV-Serie Supernatural“


Durch die Bewilligung eines Abschlussstipendiums unterstützte der REMID e.V. mich im Wintersemester 21/22 beim Schreiben meiner Masterarbeit zum Thema „Catholic Hegemony? Die Konstruktion von ‚Religion(en)‘ in der TV-Serie Supernatural“. Die Arbeit wurde am Institut für Religionswissenschaft der Leibniz Universität Hannover mit der Betreuung durch Frau Dr. Carmen Becker und Herrn Dr. Steffen Führding verfasst.

Fragestellung

Die Arbeit hatte das Ziel die Forschungsergebnisse in Bezug auf die TV-Serie Supernatural der US-amerikanischen Kommunikationswissenschaftler*innen Erika Engstrom und Joseph Valenzano III aus religionswissenschaftlicher Sicht zu überprüfen. Supernatural ist eine US-amerikanische Fernsehserie, die von 2005 bis 2020 von „Warner Bros. Television“ und „Wonderland Sound and Vision“ produziert wurde. Drehort für die 327 Episoden der 15 Staffeln war Kanada. In den USA wurde die Serie von den Sendern „The WB“ (S1) und „The CW“ (S2-15) ausgestrahlt. In Deutschland erfolgte die Erstausstrahlung im Pay-TV auf Premiere (heute Sky) 2006 und im Free-TV auf ProSieben 2007. Supernatural handelt vom Kampf der Hauptcharaktere Sam und Dean Winchester gegen übernatürliche Widersacher (z.B. Vampire, Dämonen, Werwölfe, etc.) und ihrem Versuch die Apokalypse nach christlichem Schema zu verhindern. Die Serie wird als eine Mischung der Genres Horror und Soapopera beschrieben.

Erika Engstrom und Joseph Valenzano

Die beiden Kommunikationswissenschaftler*nnen Engstrom und Valenzano kommen durch mehrere Arbeiten zu dem Schluss, dass in Supernatural eine Hegemonie des Katholizismus dargestellt wird, dieser also als allen anderen Religionen übergeordnet präsentiert wird. Ihre qualitative Forschung ist jedoch meiner Meinung nach schlecht dokumentiert und von einem katholisch-dominierten Alltagsverständnis von Religion geprägt. Selbst ihre Ergebnisse wiesen eher auf die Konstruktion einer ‚Ur-Religion‘ in der Serie hin.
Die zentrale Frage der Arbeit war darum: Wie werden Religion(en) in der US-Fernsehserie Supernatural dargestellt? Um die Ergebnisse von Engstrom und Valenzano zu überprüfen wurde eine Qualitative Inhaltsanalyse der Staffeln eins bis fünf der Serie Supernatural durchgeführt. Die hierfür nötigen DVDs der Serie und die Analysesoftware MAXQDA konnten dank des Abschlussstipendiums problemlos angeschafft werden.

Qualitative Inhaltsanalyse

Die Codierung und Analyse des Videomaterials erfolgte in MAXQDA mit einem modifizierten 3-Phasen-Verfahren auf Basis der Qualitativen Inhaltsanalyse nach Kuckartz.

  • In Phase 1 wurden anhand einer Stichprobe von Episoden Proto-Kategorien entwickelt, die die Basis des Kategoriensystems bildeten.
  • In Phase 2 wurden alle Episoden der Analyseeinheit mithilfe der Proto-Kategorien bearbeitet. Es wurden zusätzliche (Sub-)Kategorien gebildet und das Kategoriensystem optimiert.
  • In Phase 3 wurden die Theorie der Hegemonialstellung des Katholizismus und die These der Darstellung einer Form von ‚Ur-Religion‘ anhand der Analyseergebnisse und dem entstandenen Kategoriensystem aus Phase 2 überprüft.

Die Arbeit bestätigt, dass Supernatural stark von christlichen Glaubensvorstellungen geprägt ist. Hierbei handelt es sich jedoch nicht nur um katholische Elemente, sondern vorwiegend um die Darstellung eines undefinierten allgemeinen Christentums. Zusätzlich zu den christlichen Einflüssen wird eine Vielzahl von anderen religiösen Traditionen dargestellt. Diese nicht-christlichen Hintergründe werden in Supernatural jedoch meistens als Kontext für einmalige Antagonisten genutzt. Christliche Antagonisten, wie Luzifer, hingegen spielen eine zentrale Rolle in den staffelübergreifenden Storyarcs der Serie. Die Überprüfung des Konzepts des hegemonialen Katholizismus ergab somit, dass die Feststellungen von Engstrom und Valenzano aus religionswissenschaftlicher Perspektive nicht haltbar sind. Sie basieren vornehmlich auf der fälschlichen Zuschreibung von Katholizismus auf unklar definierte christliche Phänomene.

Konstruktion von religiösen Phänomenen

Als Beispiel sei hier zu nennen, dass die beiden Autor*innen jede Darstellung eines Priesters mit weißem Kragen und schwarzer Kleidung als Darstellung von Katholizismus werten, obwohl es darauf keine definitiven Hinweise gibt. Ein weiteres Ergebnis der Analyse ist das Konzept der in Supernatural dargestellten ‚Ur-Religion‘. Sie verbindet christliche und nicht-christliche Elemente durch die zentrale Position der Menschheit in der Kosmologie der Serie. Das wichtigste Bindeglied der verschiedenen Akteure in der ‚Ur-Religion‘ ist der Dualismus von freiem Willen und vorherbestimmtem Schicksal. Die Entscheidung eines Akteurs für eine dieser Seiten beeinflusst in Supernatural buchstäblich, ob die Welt endet oder nicht.

Fazit

Insgesamt hat sich die Methode der Qualitativen Inhaltsanalyse mit Hilfe einer Analysesoftware als sehr sinnvoll für die Beantwortung der Forschungsfrage erwiesen. Durch die Natur der Arbeit als Masterarbeit konnte jedoch das für die Qualität der Ergebnisse ausschlaggebende Element der qualitativen Forschung, die Intersubjektivität mehrerer Forschender, leider nicht genutzt werden. Die weiterführende Analyse der restlichen10 Staffeln der Serie würde die Ergebnisse höchstwahrscheinlich ebenfalls verändern.

Die Serie Supernatural bietet über meine Fragestellung hinweg Potential für zahlreiche weitere Analysen. So widmen sich Engstrom und Valenzano in „Cowboys, Angels, and Demons: American Exceptionalism and the Frontier Myth in the CW’s Supernatural“ der Darstellung des amerikanischen Exzeptionalismus in Supernatural. Dieser Ansatz könnte ebenso aus religionswissenschaftlicher Perspektive verfolgt werden, da das Exzeptionalismus-Konzept stark mit den religiösen Ursprüngen der USA verwickelt ist. So fällt es selbst bei oberflächlicher Betrachtung auf, dass die Apokalypse nicht im sogenannten ‚Heiligen Land‘ im Nahen Osten stattfindet, sondern alle wichtigen Ereignisse in den USA lokalisiert sind. Eine weitere Möglichkeit ist, die in der Serie präsentierten, religiösen Informationen auf ihre realweltlichen Ursprünge hin zu untersuchen. Inwiefern stimmt der von den Winchesters verwendete Exorzismus mit dem realen katholischen Vorbild überein? Wurden in den verschiedenen polytheistischen Religionen tatsächlich so viele Menschenopfer durchgeführt, wie die Serie suggeriert? Wird der von People of Colour geprägte „Hoodoo“ realistisch dargestellt? Diese und ähnliche Fragestellungen wären es wert, ebenfalls untersucht zu werden.

Tim Rudolph, MA.

Religionskunde in Deutschland: Ein Flickenteppich ohne klares Muster – Interview mit Prof. Dr. Wanda Alberts

Prof. Dr. Wanda Alberts, Professorin für Religionswissenschaft an der Leibniz Universität Hannover forscht und lehrt unter anderem zu religionsbezogenem Schulunterricht und der Rolle der Religionswissenschaft in Bildungskontexten. Im Februar 2023 erschien das von ihr, Horst Junginger, Katharina Neef und Christina Wöstemeyer herausgegebene Handbuch Religionskunde in Deutschland. In diesem liefern die Autor*innen nicht nur eine Übersicht über die Diversität religionsbezogener Schulfächer in Deutschland, sondern beanstanden auch die Vernachlässigung religionswissenschaftlicher Expertise. Anlässlich der Veröffentlichung des Handbuches führte REMID ein Interview mit Frau Alberts.

In Ihrem Interview mit dem Deutschlandfunk unterscheiden Sie deutlich die grundlegende Natur von konfessionellem Religionsunterricht und Religionskunde und betonen, dass die Stärkung von Letzterem keine Bedrohung für den religiösen Religionsunterricht darstellen würde. Wie schätzen Sie eine solche Koexistenz dieser zwei Bildungsbereiche ein, wenn es um Inhalte geht, die von beiden Fächern thematisiert, aber unterschiedlich gewertet werden? Ein Beispiel wäre etwa die Frage, ob bestimmte religiöse Gruppen eine Denomination innerhalb einer größeren Tradition darstellen oder nicht doch eine eigenständige Glaubensgemeinschaft bilden.

A: Wichtig ist, dass auch von politischer Seite erkannt wird, dass bekenntnisgebundener Unterricht und Religionskunde zwei völlig verschiedene Dinge sind und Religionskunde nur von tatsächlich religionswissenschaftlich ausgebildeten Lehrkräften erteilt werden kann. Die Inhalte, die man sich gemeinhin als ähnlich vorstellt, sind de facto sehr unterschiedlich. Die Thematisierung von „anderen“ Religionen (die durch dieses Othering ja erst zu „anderen“ werden)  geschieht im konfessionellen Religionsunterricht in der Regel durch die problematische Schablone des Weltreligionenparadigmas – im Unterscheid übrigens zur Thematisierung der „eigenen“ Religion. Der Gegenstand „Religion“ wird im Rahmen von Religionskunde grundsätzlich anders konzeptualisiert, d.h. das, was man über Religion und Religionen lernt, ist etwas anderes, als was man im konfessionellen Unterricht lernt – hier werden die Stereotype und Essentialisierungen, die das Weltreligionenparadigma mit sich bringt, gerade hinterfragt. Zudem wird der Unterrichtsgegenstand völlig anders gerahmt. Das Konzept der Rahmung wurde in diesem Kontext von Katharina Frank eingeführt. Sie zeigt klar die Unterschiede zwischen religiösen und religionskundlichen Rahmungen von Religion auf.

Die Frage nach der Rolle einzelner religiöser Gruppen wird im religionskundlichen Unterricht diskursiv behandelt, d.h. die Diskussionen um diese Frage dargestellt und nachvollzogen. Eine abschließende Entscheidung über den „Status“ bestimmter Gruppen wird hier nicht getroffen, sondern der Diskurs darüber analysiert.

Auch in anderen Ihrer Arbeiten kritisieren Sie das sog. „Weltreligionenparadigma“, also die Vorstellung, dass Religionen als feste, selbstständige und in sich geschlossene Einheiten agieren, ohne hierbei die Diversität einzelner Traditionen und ihre inneren Dynamiken zu berücksichtigen. Wie ließe sich in der Praxis die Lehre über die Vielzahl der religiösen Gemeinschaften umsetzen, ohne sich stark vereinfachter oder überholter Verallgemeinerungen zu bedienen, gleichzeitig aber einer realistischen Umsetzbarkeit gerecht werden. Wäre es eine Option, einen Fokus auf eben solche Religionsgemeinschaften zu legen, welche für Schüler*innen in Deutschland besondere Alltagsrelevanz und greifbare Nähe haben?

A: Eine Überwindung des Weltreligionenparadigmas als Muster für die Darstellung von Religionen beinhaltet auch, dass es eben nicht einen „Kanon“ an Religionen gibt, über die man sich möglichst viel Wissen aneignen muss. Stattdessen werden eher grundlegende Fragen darüber, was für wen wann als „Religion“ in den Blick gerät, relevant. Dafür kann man sich dann bei der Auswahl der Themen – die aber denn nicht mehr eine sukzessive oder vergleichende Behandlung einzelner „Religionen“ als Einheiten bedeutet – selbstverständlich an den gesellschaftlichen Kontexten orientieren, die für die Schüler*innen relevant sind. Das kann beispielsweise die (durchaus kontroverse) Diskussion um Religion als „Kulturerbe“ sein, oder auch die Verhandlung religionsbezogener Themen im politischen, rechtlichen oder Bildungsbereich, etwa die Frage nach dem Platz religiöser Symbole in unseren Gesellschaften. Dadurch ergibt sich „Alltagsrelevanz“ bzw. „praktische Nähe“ auf eine ganz andere Weise als wenn die Selbstdarstellungen von Religionen bzw. theologische Positionen „nacherzählt“ werden ohne sie sozial- und kulturwissenschaftlich einzuordnen. Damit sind der Gegenstand des Unterrichts nicht mehr selbstverständlich „die Religionen“, sondern gesellschaftlich relevante Aspekte von Religion(en), die genau dadurch für die Lebenswelt der Schüler*innen auch bedeutsam sind.

Sie setzen sich dafür ein, dass die Ausbildung von Lehrkräften für eine neutrale, wissenschaftsbasierte Religionskunde in erster Linie von dem akademischen Fach der Religionswissenschaft getragen werden sollte. Bislang ist dies nur vereinzelt und marginalisiert der Fall. Stattdessen stellt in der Regel die Philosophie das Referenzfach dar. Wie müsste sich Ihrer Meinung nach Verhältnis von Religionswissenschaft und Philosophie gestalten und welchen Platz sollte das Schulfach Philosophie bzw. Ethik neben konfessionellen Religionsunterricht und Religionskunde einnehmen?

A: Religionswissenschaft und Philosophie haben grundsätzlich unterschiedliche Methoden und Gegenstandsbereiche. Diese sollten klar getrennt ausgewiesen werden. Religionswissenschaft ist Bezugsdisziplin für religionskundlichen Unterricht, Philosophie für philosophischen bzw. ethischen Unterricht. Die Verbindung von Religionskunde und Ethik, die häufig vorgenommen wird, könnte in den Fachnamen deutlicher ausgewiesen werden, wie etwa in Brandenburg im Fach „Lebensgestaltung, Ethik, Religionskunde“. Aktuell finden wir viele Alternativ- bzw. Ersatzfächer für den konfessionellen Religionsunterricht, die allein „Ethik“ oder „Philosophie“ im Namen tragen, aber auch Religionskunde enthalten. Letztere wird dann oft vernachlässigt. Es ist aber wichtig zu betonen, dass Philosoph*innen ohne religionswissenschaftliche Ausbildung (Fachwissenschaft und Fachdidaktik) nicht qualifiziert sind, Religionskunde zu unterrichten.

Meiner Ansicht nach, sollte Religionskunde allgemein als Element schulischer Bildung für alle Schüler*innen etabliert werden, unabhängig von konfessionellem Religionsunterricht und Ethikunterricht. Die Verbindung mit Ethikunterricht ist im Moment das dominante Paradigma in Deutschland, möglich wäre Religionskunde aber auch im Verbund mit Sozialkunde. Ein Problem in der Verbindung mit Ethikunterricht ist die Abgrenzung der explizit nicht normativen Religionskunde von den normativen Aspekten von Ethikunterricht. Hier geht leider sehr viel durcheinander und Reden über Religion aus „ethischer Perspektive“ kann leicht zu impliziter Theologie werden.

Welche Gründe sehen Sie dafür, dass die Religionswissenschaft in der Praxis bisher kaum Einfluss auf die Gestaltung von Kerncurricula für sog. Alternativfächer in Deutschland hat? Wie ließe sich dies ändern?

A: Ich sehe hier zwei Gründe:

1) Die Religionswissenschaft war als eigenständige Disziplin lange nicht wirklich über einen kleinen akademischen Kontext hinaus bekannt – so dass Theolog*innen nicht nur als Spezialist*innen für ihre eigene Religion, sondern im Prinzip auch für „Religion an sich“ oder auch den Umgang mit „anderen Religionen“ angesehen wurden. Zudem sind die Alternativfächer oft direkt abhängig vom konfessionellen Religionsunterricht und Vertreter*innen der Kirchen und der Theologie zögerten nicht, an der Gestaltung derselben mitzuwirken (was in Bezug auf das Recht auf Religionsfreiheit eigentlich ein Skandal ist). Zudem sind die Zuständigkeiten in den entsprechenden Ministerien häufig so verteilt, dass Religionsunterricht und die Alternativfächer als ein gemeinsamer Bereich behandelt werden – der dann in der Regel kirchenfreundlich besetzt ist. Da wissen dann Personen in den Ministerien, bei denen man sich fragt, wo ihre religionswissenschaftlichen Kenntnisse denn herkommen sollen, häufig besser als Religionswissenschaftler*innen, worum es eigentlich geht – bzw. stellen sie es eben so dar, dass die „Fachkenntnis“ vorhanden wäre, obwohl diese eben theologisch oder konkret schulbezogen, aber eben nicht religionswissenschaftlich ist. Auch das ist eigentlich ein Skandal, im Detail von außen aber nur sehr schwer nachzuvollziehen. In den Recherchen für das Handbuch konnten wir aber diesbezügliche Muster in unterschiedlichen Kontexten erkennen.

2) Die Religionswissenschaft war bis vor nicht allzu langer Zeit zudem stark mit sich selbst und ihrem akademischen Kontext beschäftigt. Das Feld „Schule“ kam nicht in den Blick und es wurde häufig übersehen, dass in Kontexten, die notwendigerweise religionswissenschaftlich gestaltet werden müssten, aus anderen Perspektiven religionsbezogener Unterricht geplant wurde. Hier ist die Religionswissenschaft bisher eher vereinzelt aktiv geworden, so dass die notwendigen Unterscheidungen, etwa zwischen (konfessionell ausgebildeten) Religionspädagog*innen und religionswissenschaftlich qualifizierten Personen häufig nicht getroffen wurden. Hier sehe ich einen klaren gesellschaftlichen Bedarf, diese Unterschiede zu vermitteln und an den Stellen, an denen Religionswissenschaft gebraucht wird, die Expertise auch zur Verfügung zu stellen. Das Problem ist jedoch, dass die zahlenmäßig kleine Religionswissenschaft da selbst aktiv werden muss, um erst einmal auf diese Unterschiede hinzuweisen. Diese sind ja für die meisten Menschen – und noch nicht einmal für mit der Materie befassten Politiker*innen und Verwaltungsbeamte – gar nicht nachvollziehbar, so dass man dort auch nicht immer mit großer Freude empfangen wird. Irgendwo muss der Kreis der Unwissenheit aber unterbrochen werden. Jemand anderes wird diese Aufgabe für uns wahrscheinlich nicht übernehmen.

In Niedersachsen fungiert das Fach „Werte und Normen“ als Alternative zum konfessionellen Religionsunterricht. Die Ausbildung entsprechender Lehrkräfte soll neben der Philosophie und Gesellschaftswissenschaften auch von der Religionswissenschaft getragen werden und ist somit auch Gegenstand Ihrer Lehrtätigkeit. Welche Erfahrungen und Vorkenntnisse bringen Studierende mit, welche mitunter selbst während der Schulzeit das Alternativfach „Werte und Normen“ belegt haben?

A: Hier ist ein großes Problem, dass es bisher, obwohl Religionswissenschaft offiziell (neben Philosophie und Gesellschaftswissenschaften) Bezugsdisziplin für Werte und Normen ist, einerseits wenig tatsächlich religionswissenschaftlich ausgebildete Lehrkräfte gibt und zudem das Kerncurriculum aus religionswissenschaftlicher Perspektive problematisch ist. Darauf hat die Vorsitzende der DVRW schon vor Jahren hingewiesen, wirklich passiert ist aber bisher nichts. Große Teile von Werte und Normen, welches eigentlich laut Niedersächsischem Schulgesetz religionskundliche Kenntnisse vermitteln soll, sind aber statt dessen implizit theologisch (hierfür wird in der Fachliteratur z.T. der Begriff „small-c-confessional“ gebraucht) und schlecht ausgebildete Lehrkräfte können dies kaum ausgleichen. Daher sind die Erfahrungen und Vorkenntnisse sehr kontingent. Den religionswissenschaftlichen Zugang zu Religion erlernen Studierende, auch wenn sie Werte und Normen in der Schule als Fach hatten, in der Regel erst im Studium. Wichtig ist, dass an allen Standorten, die Lehrkräfte für Werte und Normen ausbilden nicht nur religionswissenschaftliche Module, sondern auch religionswissenschaftliche Fachdidaktik verpflichtend gelehrt werden. Das ist bisher nicht der Fall. Daher werden die religionsbezogenen Themen in Werte und Normen bisher nicht auf religionswissenschaftlicher Grundlage vermittelt, so dass häufig implizit oder explizit religionsaffirmative oder religionskritische Perspektiven die Darstellung rahmen. Das ist natürlich ein vollkommen unhaltbarer Zustand, auch aus rechtlicher Perspektive. Es gibt hier viel zu tun, für Politik und Wissenschaft.

In Ihren Arbeiten ziehen Sie häufig die Schulsysteme der skandinavischen Länder als Vorzeigemodell für das Fach der Religionskunde heran. Gibt es aktuell auf internationaler Ebene ein Modell, welches Sie aus religionswissenschaftlicher Sicht für uneingeschränkt geeignet und auch für deutsche Schulen wünschenswert einschätzen?

A: Prinzipiell finde ich eine verpflichtende Religionskunde für alle nach skandinavischem Modell bildungspolitisch wesentlich verantwortungsvoller als unseren Flickenteppich bezüglich religionsbezogenen Unterrichts. Allein deshalb, weil religionskundliche Bildung erst dadurch prinzipiell und für alle überhaupt verfügbar wird. M.E. ein Muss in unseren pluralen Gesellschaften, in denen Religion im öffentlichen Raum immer wieder thematisiert wird. In der Umsetzung gibt es in diesen Fächern natürlich immer auch wieder problematische Aspekte, so dass es schwierig ist, ein Modell als uneingeschränkt wünschenswert zu bezeichnen. Vorbild ist ein Modell wie das Schwedische allerdings durchaus. Norwegen mit seinem Gerangel um die Festschreibung des „Christentums als Kulturerbe“ und verschiedentlicher Priorisierung christlicher Vorstellungen, die das Fach KRL vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Fall gebracht hat, zeigt hingegen eher die Fallstricke bei der Etablierung von integrativen Modellen. Wichtig ist die Formulierung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte: Verpflichtender religionsbezogener Unterricht muss Religionen „objektiv, kritisch und pluralistisch“ darstellen. Dies darf nicht mit religiösen Ansätzen, die zwar Gegenstand des Unterrichts sein, ihn aber nicht rahmen können, vermischt werden.

Zuletzt noch ein Gedankenexperiment: Anstatt Religion zum Gegenstand eines eigenen Schulfaches zu machen (unabhängig davon, ob aus konfessioneller oder neutral-wissenschaftlicher Perspektive), könnte(n) Religion(en) fächerübergreifend und kontextgebunden Bestandteil von Fächern wie Geschichte, Politik oder Sprachen thematisiert werden. Würde dies nicht noch mehr der in der gegenwärtigen Religionswissenschaft verbreiteten Ansicht nahekommen, dass Religion(en) kein von der Umwelt abgesonderte Phänomen eigener Art, sondern stets Produkt gesellschaftlicher Umstände ist? Wie stehen Sie als Religionswissenschaftlerin dazu, Religion von ihrem „Thron“ zu nehmen und stattdessen lediglich als einen Bereich menschlicher Gesellschaft unter vielen zu betrachten?

A: Ja, das ist natürlich ein gutes Argument. Genauso wie die Disziplin Religionswissenschaft im Prinzip aus der Abgrenzung zur Theologie hervorgegangen ist, könnte man Religionskunde als eigenständiges Fach als Konsequenz aus dem konfessionellen Religionsunterricht sehen. Wirklichkeit und Wissen können natürlich immer ganz unterschiedlich geordnet werden und Wissen unterschiedlich kategorisiert und weitergegeben werden. Im Prinzip spricht überhaupt nichts dagegen, dem Gegenstand „Religion“ nicht immer eine Sonderrolle zuzuschreiben. Diese Sonderrolle ist ja auch ein Erbe eines religiösen Verständnisses von Religion als etwas „ganz anderem“. Als Religionswissenschaftlerin kann man sich zuweilen nur wundern, welche Privilegien und Ausnahmen von ansonsten bestehenden Regeln mit dem Verweis auf „Religion“ möglich sind. Gesellschaftlich wird es aber vermutlich noch eine ganze Weile dauern, bis Religion ein „normaler“ Gegenstand ist, nicht zuletzt WEIL religionskundliche Bildung in der Schule bisher eine weitgehende Leerstelle ist und religiöse Religionskonzepte auch in öffentlichen Diskussionen und Politik dominieren. In diesem Kontext ist vielleicht ein eigenes integratives religionskundliches Schulfach nicht unbedingt die einzige langfristig wünschenswerte Lösung. Aber gerade aufgrund der Tatsache, dass ein religionskundlicher Zugang zu Religion so unbekannt ist, halte ich es für durchaus sinnvoll, diesem ganz explizit einen Raum einzuräumen. Entscheidend ist dafür auch wieder die religionswissenschaftliche Lehrkräfteausbildung. Ohne diesen Hintergrund ist ein solider religionskundlicher Unterricht nicht möglich. Man könnte natürlich theoretisch religionswissenschaftliche und religionswissenschaftlich-fachdidaktische Module auch in die Ausbildung von Lehrkräften für Geschichte, Politik oder Sprachen integrieren, aber ist das realistisch?

Allerdings ist tatsächlich zu überlegen, ob grundlegende religionswissenschaftliche Kenntnisse nicht Element der allgemeinen Lehrkräfteausbildung werden sollten, weil der Gegenstand Religion ja in unterschiedlichen schulischen Kontexten relevant ist und zum Thema wird. Da würde es schon sehr helfen, wenn Lehrkräfte hier zwischen einer intuitiven, religiösen und säkular-religionswissenschaftlichen Herangehensweise an das Thema unterscheiden könnten.

Danke für das Interview.

Das Interview führte Sebastian Mihatsch.

Online-Wissenschaftskommunikation für Religionswissenschaftler*innen

In Kooperation mit dem Centrum für Religionswissenschaftliche Studien – CERES der Uni Bochum und dem Institut für Religionswissenschaft an der Uni Hannover bietet Remid e.V. im September ein Blockseminar für Studierende an:

Gerade in Zeiten von Fake News ist es wichtig, wissenschaftlich fundiertes Wissen über Religionen anzubieten, unparteiische und objektive Perspektiven auf gesellschaftliche Diskurse aufzuzeigen und religionswissenschaftliches Wissen für Laien verständlich aufzubereiten. Doch um Menschen zu erreichen, die sich außerhalb des berühmten „Elfenbeinturms“ aufhalten, müssen Wissenschaftler*innen neue Wege suchen und ihre Themen dort vertreten, wo sie sich informieren – z.B. online bzw. in den Sozialen Medien.

Religionswissenschaftler*innen stehen vor dem Problem, dass ihre Perspektive in öffentlichen Debatten oft nicht wahrgenommen oder eingefordert wird. Um öffentliche Diskussionen nicht mehr länger Theolog*innen zu überlassen, müssen Religionswissenschafter*innen ebenfalls lernen, wie sie ihre Expertise in den öffentlichen Diskurs einbringen können.

In dem Seminar lernen Studierende verschiedene Plattformen wie YouTube, Instagram, Facebook oder Twitter kennen und setzen sich damit auseinander, welche Plattform und welches Medium sich für die Kommunikation welcher Inhalte eignet oder eben auch nicht. Außerdem gucken wir uns Best-Practice Beispiele von gelungener Wissenschaftskommunikation an, sowie Beispiele, wie man es besser nicht machen sollte. Studierende können sich in diesem Blockseminar ausprobieren und erstellen unter Anleitung Social Media Beiträge, Blogartikel oder Kurzvideos zu einer religionswissenschaftlichen Thematik ihrer Wahl. Dazu kooperieren wir mit dem wissenschaftlichen Nachrichtendienst REMID e.V., der ein Vorreiter der religionswissenschaftlichen Wissenschaftskommunikation ist.

Das Blockseminar bietet die Möglichkeit, in den Bereichen Informationsmanagement und Social Media unter Anleitung Erfahrungen zu sammeln, hilfreiche Tools und Software kennen zu lernen, mehr über das Schreiben für die Öffentlichkeit zu erfahren und gleichzeitig religionswissenschaftliche Standpunkte in öffentlichen Diskussionen sichtbarer und allgemein verständlich zu machen. Somit bekommen die Studierenden einen Einblick in die Öffentlichkeitsarbeit und erfahren mehr über mögliche berufliche Perspektiven in diesem Bereich (NGOs, Museen, Bildungseinrichtungen, Pressestellen, etc.).

Zeitraum: 11.-13.09. von 09:00 bis 16:00 Uhr und 22.09.2023 von 09:00 bis 12 Uhr (Blockseminar)
Dozierende: Mona Stumpe, Anna Kira Hippert, Dunja Sharbat Dar

Teilnehmerbegrenzung: 15 Personen. 

Teilnahmebedingungen: Einreichen eines formlosen Motivationsschreibens von 250 Wörtern per Mail an die Dozierenden Mona Stumpe ([email protected], Anna Kira Hippert ([email protected]) und Dunja Sharbat Dar ([email protected]). Einreichfrist: 01.06.2023.

Die seltsame Verschwörungstheorie der chasarischen Juden

Die Geschichte des türkischen Chasarenvolkes ist eigentlich ein eher unscheinbares historisches Thema. Um sie herum hat sich jedoch eine Verschwörungstheorie entwickelt, die möglicherweise die kurioseste in der jüdischen Geschichte ist. Bis heute wird der Ablauf der chasarischen Geschichte in wissenschaftlichen und verschwörungstheoretischen Kreisen diskutiert, sogar die russische Invasion der Ukraine ließ das Thema wieder aufblühen. Doch wie kam es dazu?

WER SIND DIE CHASAREN?

Die Chasaren waren ein semi-nomadisches Volk, dass vom 7. bis zum 10. Jahrhundert den Kaukasus bewohnte. Sie haben vermutlich nicht geschrieben, wodurch fast alles, was man heute über sie weiß, aus arabischen Reiseberichten über die Region stammt. Und diese Berichte behaupten teilweise, dass das Volk der Chasaren irgendwann zum Judentum konvertiert ist.

Konversionen sind in der Geschichte des Judentums relativ selten und notorisch kompliziert, unter anderem erfordern sie beispielsweise eine Erwachsenenbeschneidung1. Ein gesamtes Reich mit einer kollektiv konvertierten jüdischen Regierung wäre daher wirklich eine Besonderheit.

Diese kuriose Geschichte faszinierte auch den Schriftsteller Arthur Koestler (1905-1983). Koestler war kein Historiker, aber jemand der Geheimnisse und Rätsel liebte. Sein Roman „Sonnenfinsternis“ (1940)beschreibt die Kommunikation mit Klopfcodes und „Der göttliche Funke“ (1964)handelt von ähnlichen Chiffren, Geheimcodes und Matrizen. Sein Werk „Der dreizehnte Stamm“ (1976) widmete sich den aus den Reiseberichten überlieferten Gerüchten und beschrieb, wie die Chasaren zum Judentum konvertierten. Koestler vermutete sogar, dass ein Großteil des heutigen aschkenasischen Judentums von diesen konvertierten Chasaren abstamme. Nachdem der israelische Historiker Shlomo Sand die Theorie von Koestler in seinem Bestseller „Die Erfindung des jüdischen Volkes“2 (2009)aufgriff, wurden die Chasaren zu einem Diskussionsthema in wissenschaftlichen und nichtakademischen Kreisen3.

FAKE JEWS

Die Theorie der sogenannten „Fake Jews“ gewann unter Verschwörungstheoretikern großen Zuspruch, auch wenn Koestler selbst sich von allen Verschwörungstheorien distanzierte.4 Die Idee von konvertierten „Fake Jews5 kam antisemitischen Verschwörungstheoretikern aus allen politischen Lagern sehr gelegen6. Die heutigen Juden wären demnach nicht mehr das schützenswerte edle Volk der Israeliten, das auserwählte Volk Gottes, sondern parasitäre Betrüger7. Und eigene Aussagen gegen Jüdinnen und Juden wären dann auch nicht mehr antisemitisch, weil sie sich ja nicht gegen die „echten Juden“, sondern die chasarischen „Fake Jews“ richten würden.

Diese Chasarentheorie wurde außerdem auch antizionistisch ausgelegt: Wenn die aschkenasischen Juden gar nicht das biblische Volk aus Palästina wären, warum sollten sie dann ein Rückkehrrecht in dieses Land haben? Israel als Staat der „Fake Jews“ wurde damit zur „Fake Nation“8.

Diese Theorie wurde immer populärer, obwohl Koestlers „Der dreizehnte Stamm“ selbst die Aberkennung des Existenzrecht Israels schon verneinte: „the State of Israel’s right to exist […] is not based on the hypothetical origins of the Jewish people[…]. Whether the chromosomes of its people contain genes of Khazar or Semitic, Roman or Spanish origin, is irrelevant, and cannot affect Israel’s right to exist“.9

DIE CHASAREN UND DER UKRAINEKRIEG

Mit der russischen Invasion der Ukraine bekam die Verschwörungstheorie der Chasaren eine neue Bedeutung. Die komplexe politische Beziehung der Ex-Sowjetstaaten wird in diese Theorie stark vereinfacht und „die Juden“ werden zum Strippenzieher im Geheimen – mithilfe einer pseudowissenschaftlichen Erklärung. Die „Chasarenmafia“ steuere beide Seiten des Krieges, die direkten Nachfolger der zum Judentum konvertierten Chasaren10.

[Antisemitische Karikatur, „Hinter der russischen/ukrainischen Maske strebt der Jude nach Konflikt“]

[Antisemitische Karikatur, „Hinter der russischen/ukrainischen Maske strebt der Jude nach Konflikt“]

Schon im April 2022 wurde dieses Bild auf der russischen Social Media-Plattform vk verbreitet11. Es zeigt antisemitische Karikaturen von Juden mit russischer und ukrainischer Maske, sowie die russische und ukrainische Flagge mit Davidstern im Zentrum, der israelischen Flagge nachempfunden. Sowohl Russland als auch die Ukraine sollen demnach heimlich jüdische Staaten sein und der aktuelle Konflikt sei nur ein weiteres Komplott der Juden. In russischsprachigen Telegram-Kanälen heißt es dann: „Die Ukraine ist die Heimatstätte und letzte Bastion der Chasarenmafia, die den Deep State der Welt kontrolliert“ und „Die Rothschild-Chasarenmafia […] kontrolliert das Bankwesen, […], das Parlament, die Massenmedien“.12

Anders als andere Verschwörungstheorien, die oft auf absurde Konzepte wie eine flache Erde oder humanoide Echsen setzen, besitzt die Chasarentheorie einen vermeintlich realwissenschaftlichen Kern. Wissenschaftler und Verschwörungstheoretiker spekulieren über dieselbe Frage um die Herkunft der Chasaren, sodass die Grenzen zwischen akademischer und verschwörerischer Wissensfindung verschwimmen.

DAS CHASARENMÄRCHEN

Für meine Bachelorarbeit las ich zum ersten Mal die arabischen Reiseberichte zu den Chasaren im Original und war erstaunt darüber, was für eine Nebenrolle das Thema Judentum für die Autoren spielte: al-Masʿūdī schweifte lang über die Geographie der kaukasischen Gebirge aus, Ibn Faḍlān beschrieb minuziös die Bestattungsriten der Chasaren und Ibn Rusta verlor sich in detailliertesten Beschreibungen des chasarischen Militärs – zur Religion der Chasaren schreiben sie aber nur kurze, relativ trockene Absätze. Für die herrschenden Khalifen, die die Autoren beauftragten, war militärisches Wissen viel relevanter als die Religion der Chasaren: Wie sind ihre Städte aufgebaut? Wie stark ist ihr Militär? Welche Gebirge erschweren den Weg? Zur Religion wurden daher meist nur knappe Notizen gemacht.

Zum Ablauf der vermeintlichen Konversion der Chasaren zum Judentum findet sich hingegen in der – sehr wahrscheinlich nicht authentischen – Korrespondenz zwischen dem Chasarenkönig Josef und dem spanischen Historiker Chasdai ibn Shaprut eine märchenhafte Erzählung. In dieser Geschichte ruft der chasarische König Bulan je einen christlichen, muslimischen und jüdischen Gelehrten zu sich, um sich für die wahrhaftigste Religion von ihnen zu entscheiden. In einem Streitgespräch geben sowohl der muslimische, als auch der christliche Gelehrte zu, dass sie eher zum Judentum als zur jeweils anderen Religion neigen würden. Das Judentum, das selbst nicht missioniert, überzeugt den König und er nimmt schlussendlich die jüdische Religion an.

Die Geschichte erinnert an die Ringparabel aus Nathan der Weise von Gotthold Ephraim Lessing. Beide Geschichten haben auch denselben Ursprung. Die Legende von einem weisen Herrscher, der zwischen den drei abrahamitischen Religionen entscheiden muss, ist im Nahen Osten schon mindestens seit dem 8. Jhd. n.Chr. bekannt und wurde zu dieser Zeit zu einem häufigen literarischen Motiv. Es ist ein Gründungsmythos, der hier auch nur als solcher gemeint ist. Eine identitätsstiftende Legende, aber kein Versuch, tatsächliche Geschichte niederzuschreiben.

FALSCHE ÜBERSETZUNGEN

Neben dem Brief von Ibn Shaprut wird meist al-Masʿūdī zitiert, wenn es um die „Konversion“ der Chasaren zum Judentum geht:

kāna tahawwuda maliki l-ḫazari fī ḫilāfati r-Rašīd13, wörtlich: „Während der Herrschaft von Khalif Harun ar-Raschid [ungefähr 786-809 n. Chr.] wurde der König der Chasaren jüdisch“

Der verwendete Begriff tahawwud meint hierbei wahrscheinlich nicht unbedingt, dass es eine religiöse Konversion zum Judentum gab, sondern eher, dass ein gebürtiger Jude das Königsamt übernahm: Der König „wurde jüdisch“, weil ein Jude zum König wurde.

Und die Erklärung dafür liefert al-Masʿūdī direkt im Anschluss:

wa-huwwa sannatu ʾiṯnān wa-ṯalaṯīna […] fa-tahāraba ḫalqun min al-yahūdi min arḍi r-rūm ʾilā ʾardi l-ḫazari14, also: „Im Jahr 943 n.Chr. […] floh eine Gruppe von Juden [wegen Verfolgungen und Zwangskonversionen] aus dem Byzantinischen Reich in das Land der Chasaren“.

Aus dieser Quelle kann man rückschließen: Es gab keine Konversion, vielmehr übernahm eine Gruppe aus dem byzantinischen Reich geflohener Juden das Königsamt im Land der Chasaren. Das ist der Ursprung der jüdischen Chasaren – offensichtlich für jeden, der die Quelle im Original liest.

Leider arbeiten die meisten wissenschaftlichen Quellen eben nicht mit dem Originaltext, sondern mit einer Übersetzung: Das Interesse an dem Thema Chasaren kommt nicht primär aus der Arabistik oder Islamwissenschaft. Es sind vor allem Fachfremde, die nicht mit der Sprache der Hauptquellen vertraut sind, aber trotzdem unbedingt versuchen wollen, eine Theorie damit zu belegen oder entkräften. Und so sind sie den kreativen Neuinterpretationen von Übersetzern ausgeliefert:

le judaïsme […] est devenu la religion dominante dans cet État“, also „Das Judentum wurde zu diesem Zeitpunkt zur dominanten Religion“15

Die bekannteste Übersetzung von al-Masʿūdī, die französische Übersetzung von de Meynard, weicht ohne ersichtlichen Grund von der originalen Bedeutung ab. Im Originaltext geht es nur um eine einzige Person: den chasarischen König, der jetzt Jude ist – und nicht der Verbreitung einer „dominanten Religion“.

[the Khazars] embraced the tenets of the jews“, also „[die Chasaren] nahmen die Lehren der Juden an“16

Die bekannteste englische Übersetzung behauptet zwar nicht explizit, dass es eine Konversion zum Judentum gab – aber deutet zumindest stark darauf hin. Bedenkt man, dass al-Masʿūdī meint, dass ein gebürtiger Jude zum chasarischen König wurde, ergibt ein „Annehmen der Lehren der Juden“ keinen Sinn mehr.

Ob man die oben besprochenen Texte als freie Übersetzungen, Übersetzungsfehler oder „Verschönerung“ der historischen Tatsachen definiert, bleibt Ansichtssache. Sicher ist, dass die Texte von al-Masʿūdī basierend auf diesen Übersetzungen in der akademischen und nicht-wissenschaftlichen Welt falsch interpretiert wurden. Immer mit dem Ziel, die unglaubliche Geschichte von der Konversion wahrhaben zu wollen, obwohl die Originalquelle es nicht nahelegt.

ZU SCHÖN, UM NICHT WAHR ZU SEIN

Die Geschichte eines antiken türkischen Nomadenreiches, das tausend Jahre vor der Gründung des israelischen Staates einstimmig zum Judentum konvertierte, ist märchenhaft. Die Legende vom „dreizehnten Stamm“ ist so faszinierend und absurd, dass man sie einfach wahrhaben will.

Beispielhaft für diese Mentalität ist die DNA-Studie von Eran Elhaik (2012). Der israelisch-amerikanische Bioinformatiker versuchte eine genetische Verbindung zwischen den Chasaren und den heutigen europäischen Juden herzustellen, um damit zu prüfen, ob sie wirklich Nachfahren der jüdischen Chasaren sind. Da das Volk der Chasaren aber seit dem 10. Jahrhundert nicht mehr existiert und man daher keine DNA-Proben von ihnen nehmen kann, untersuchte Elhaik einfach DNA-Proben von Georgiern und Armeniern, da sie für ihn zur selben „genetischen Kohorte“17 gehörten.

Die DNA-Studie ist ein methodischer Albtraum. Man kann nicht einfach die DNA der heutigen Kaukasus-Bewohner mit den Chasaren des 10. Jahrhunderts gleichsetzen, noch weniger kann man damit die These von einer chasarischen Konversion zum Judentum beweisen. Trotzdem ist die Elhaik-Studie bis heute eine der meistzitierten Quellen zum chasarischen Judentum18 – nicht, weil sie eine fundierte Antwort auf eine wissenschaftliche Frage liefert, sondern weil sie eine einfache Antwort auf eine politische Frage bietet.

Eine ähnliche Situation ergab sich nach dem archäologischen Fund des jüdischen Friedhofes Çufut Qale in der heutigen Ukraine. Nachdem man dort Grabsteine mit hebräischen Inschriften fand, war die Antwort erstmal eindeutig: Das ist ein Friedhof der jüdischen Chasaren19. Eine spätere Analyse von Artem Fedorchuk ergab jedoch massive Fehler beim Auslesen der Todesdaten, die Grabsteine stammen aus dem 16. Jahrhundert und könnten daher unmöglich von Chasaren (7.-10. Jhd.) stammen.20

So ein grober Fehler von Historiker Abraham Firkowicz erklärt sich durch den confirmation bias: Mit der Geschichte der jüdischen Chasaren im Hinterkopf, ordnete er hebräische Inschriften auf dem ehemaligen Staatsgebiet der Chasaren schnell einander zu – und das auch, wenn die Geschichte von jüdischen Chasaren selbst total fragwürdig ist. Dieser Fehler ist das Resultat einer verzweifelten Suche nach einer schönen, einfachen Antwort für eine emotionale politische Frage.

JÜDISCHE CHASAREN?

Es ist an der Zeit, die Theorie der jüdischen Konversion der Chasaren nicht als kontrovers, sondern als unglaubwürdig zu beurteilen. Das schwere emotionale Gewicht der Chasarenfrage darf der unabhängigen wissenschaftlichen Bewertung der Quellen nicht im Weg stehen. Und diese ergibt eben, dass eine Migration einer Gruppe jüdischer Händler aus dem Byzantinischen Reich viel wahrscheinlicher ist als eine gesamtheitliche Konversion des chasarischen Volkes zum Judentum. Auch wenn es die „langweiligere“ Geschichte ist.

So sehr man sich danach sehnt, die Quellenlage zu den Chasaren ist dünn und die Frage nach ihrer Religion kann niemals endgültig beantwortet werden. Oft ist aber die einfachste Erklärung die naheliegendste – die historische Wahrheit ist meistens eben keine märchenhafte Geschichte.

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1 vgl. Dunlop, Douglas, The history of the Jewish Khazars, Princeton 1954: 118f.

2 hebräischer Originaltitel: „matai ve-ekh humtza ha-am ha-yehudi?“, „Wann und wie wurde das jüdische Volk erfunden?“

3 z.B. Sahm, Ulrich, Das Chasaren-Märchen, Jüdische Allgemeine, (1.7.2014), https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/das-chasaren-maerchen; van Straten, Jits, The Origins of Ashkenazi Jewry (2011), Berlin/New York 2011; Stampfer, Shaul, Did the Khazars Convert to Judaism? (2013), Jewish Social Studies, Vol. 19, Nr. 3

4 vgl. Koestler, Arthur, The Thirteenth Tribe, London 1976: 196

5https://www.ajc.org/translatehate/not-the-real-Jews, siehe auch das Unpacked-Video, dass den Begriff Fake Jews im Video-Thumbnail enthält: https://jewishunpacked.com/the-conspiracy-of-the-origin-of-ashkenazi-jews/

6 vgl. https://www.ajc.org/translatehate/not-the-real-Jews

7 vgl. https://www.ajc.org/translatehate/not-the-real-Jews

8 https://www.ajc.org/translatehate/not-the-real-Jews

9 Koestler 1976: 196

10 https://www.adl.org/resources/blog/antisemitic-conspiracy-theories-abound-around-russian-assault-ukraine

11 https://vk.com/@adonaris-kto-razvyazal-voinu-mezhdu-rossei-i-ukrainoi

12 https://www.adl.org/resources/blog/antisemitic-conspiracy-theories-abound-around-russian-assault-ukraine

13 al-Masʿūdī / de Meynard, Barbier, de Courteille, Pavet, Les Prairies d’Or, Bd.2, Paris 1861: 8

14 al-Masʿūdī 1861: 8f.

15 de Meynard/al-Masʿūdī 1861: 8

16 Sprenger 1841, zitiert nach Stampfer 2013: 19

17 Elhaik, Eran, The Missing Link of Jewish European Ancestry: Contrasting the Rhineland and the Khazarian Hypotheses (2012), Genome Biology and Evolution, Vol. 5, Nr. 1: 64

18 vgl. Stamper 2013: 3

19 Fedorchuk, Artem, New Findings Relating to Hebrew Epigraphic Sources from the Crimea, with an Appendix on the Readings in King Joseph’s Letter, in: Golden, Peter (Hrsg.), The World of the Khazars, Leiden/Boston 2007: 109

20 Fedorchuk 2007: 121f.

Autor: Nizar Blass,
Bachelorstudent „Naher und Mittlerer Osten“ an der LMU München,
im Rahmen seines studienbegleitenden REMID-Praktikums