Kooperation zwischen REMID e.V. und der Goethe Universität Frankfurt am Main

Seit August 2023 besteht zwischen REMID e.V. und dem Fachgebiet Religionswissenschaft der Goethe Universität Frankfurt am Main eine Praktikumsvereinbarung, welche es Studierenden ermöglicht, ein mindestens vierwöchiges Praktikum bei REMID e.V. zu absolvieren. 

Im Rahmen dessen hat sich REMID e.V. dazu verpflichtet, mindestens eine*n Ansprechpartner*in den Studierenden zur Seite stellen, um ihnen eine geeignete Einweisung zu bieten. Praktikant*innen wird somit ermöglicht, erste Einblicke in die Vereinsarbeit zu erhalten und aktiv Öffentlichkeitsarbeit, vor allem über die Website und social media, zu leisten. So besteht auch die Möglichkeit, selbstständig Blogeinträge über eigene Abschlussarbeiten oder andere aktuelle und relevante Themen zu verfassen. Neben redaktionellen Tätigkeiten bietet ein Praktikum bei REMID zudem einen Blick in Korrespondenz, Netzwerkarbeit, Mitgliederverwaltung und Projektplanung.

Interessierte können sich mit einem Lebenslauf und einem formlosen Motivationsschreiben mit Angaben zu eigenen Schwerpunkten und Interessengebieten bewerben.

Grundsätzlich ist REMID e.V. daran interessiert, auch mit weiteren Universitäten und geeigneten Instituten vergleichbare Kooperationen aufzubauen. Bei Interesse und Fragen sind wir über [email protected] zu erreichen.

Weitere Informationen zu Praktika bei REMID finden Sie unter www.remid.de/verein_praktikum/

Atheistische Online-Community – Untersuchungen zu sozialen Interaktionsformen von Atheist*innen auf Reddit


Im Juni 2021 habe ich mich erfolgreich auf ein Abschlussstipendium von REMID e. v. beworben und konnte mit dieser Förderung meine Masterarbeit mit dem Titel „Atheistische Online-Community – Untersuchungen zu sozialen Interaktionsformen von Atheistinnen auf Reddit“ verwirklichen. Verfasst wurde die Arbeit unter Supervision von Frau Dr. Carmen Becker und Herrn Dr. Steffen Führding und eingereicht im Institut für Religionswissenschaft an der Leibniz Universität Hannover.

Thema

Thematisch lässt sich die Arbeit grob im Feld von Studien über Nicht-Religion (nonreligion) einordnen. Im Fokus stehen hierbei primär Phänomene, welche selbst in der Regel nicht als „religiös“ klassifiziert werden, gleichzeitig aber einen unmittelbaren und mitunter zwingend notwendigen Bezug zu Religion aufweisen. Atheismus wie auch verwandte Bereiche wie Antiklerikalismus oder Religionskritik sind in diesem Kontext naheliegende Beispiele. Die religionswissenschaftliche Relevanz ergibt sich dabei in erster Linie daraus, dass gleichzeitig Schlüsse über die Wahrnehmung von und Haltung gegenüber „Religion“ gezogen werden können. Dies wurde im Rahmen der Ergebnissicherung meiner Arbeit ebenfalls deutlich.

Abseits dieser akademischen Situierung ist der Forschungsgegenstand in einer nordamerikanisch und anglophon Prägung zu kontextualisieren, was sich primär aus dem untersuchten Feld ergibt. Reddit ist eine 2005 gegründete Social-News-Website, welche Foren für nahezu sämtlichen Themen und Interessengebiete bietet. Userinnen finden sich in für sie relevante Unterforen (sog. Subreddits) zusammen und tauschen sich aktiv unter einander aus. Gibt es zu einem Thema noch kein Subreddit oder wird der bisher existierende als unzufrieden stellend wahrgenommen, können Userinnen ein neues Unterforum gründen und dort in Kontakt mit anderen treten. Nach eigener Angabe verzeichnet Reddit derzeit über 100.000 solcher thematischen Foren sowie täglich über 52 Millionen Userinnen. Im Jahr 2021 belegte Reddit Platz 21 der weltweit am häufigsten besuchten Internetseiten. Der sich auf Atheismus fokussierte Subreddit r/atheism wird von ca. 2,7 Millionen Userinnen besucht und stellt damit nach eigener Darstellung das größte Online-Forum für Atheistinnen dar. Ohne an dieser Stelle zu weit in Details zu gehen, war es in diesem Sinne auch ein Anliegen der Masterarbeit, das Potenzial von Online-Foren allgemein und Reddit bzw. r/atheism im Spezifischen für sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung hervorzuheben.

Vorgehen

Kernanliegen der Masterarbeit war es, einen qualitativ erhobenen Einblick in die Lebensrealität und relevanten Diskussionsthemen von Userinnen des Online-Forums r/atheism zu erhalten. Aufgrund des beschränkten Umfangs konnte zwar kein Anspruch auf Generalisierbarkeit und Repräsentativität erhoben werden, dennoch wurden mittels Vergleiche wiederkehrende Narrative, Themen und Motive ausgemacht. Die Datengrundlage ergab sich aus einem zeitlich abgegrenzten Auszug aus den Forumsinhalten von r/atheism: In einem Zeitraum von zwei Wochen wurden sämtliche textbasierten Forumsbeiträge und die in dieser Zeit hinzugefügten Kommentare erhoben. An diese Stelle kam das Stipendium von REMID besonders gelegen, da ich für die Datenerhebung tatsächlich finanzielle Kosten aufbringen musste. Um die Forumsbeiträge übersichtlich zu organisieren und zu strukturieren, wurde sich die kostenpflichtige Analyse-Software MAXQDA zu Nutzen gemacht. Als PDF exportiert wurde somit jeder einzelne Forumsbeitrag (=Thread) inklusive der dazugehörigen Kommentare in MAXQDA eingespeist, codiert und mit Memos versehen. Letztendlich ergaben sich hieraus insgesamt 279 Analyseeinheiten, welche die Grundlage für die vergleichende Analyse bildeten.

Ergebnisse

Im Theorieteil der Arbeit wurde zunächst der Fokus auf den gesellschaftlichen Kontext US-Amerikanischer Atheistinnen gelegt. In diesem Zuge herausgestellt hat sich der normative Status von Religion innerhalb der Zivilgesellschaft und sein unmittelbarer Einfluss auf die Stigmatisierung und Diskriminierung all derjenigen, welche von dieser Norm abweichen. Dadurch, dass Religiosität in den USA eine stark national-identitätsstiftende Bedeutung zukommt und mitunter als Voraussetzung für die Zugehörigkeit zu einer moralischen Gemeinschaft verstanden wird, werden Atheistinnen als kulturell und ideologisch Andere konstruiert. Die hieraus abgeleitete Wahrnehmung als marginalisierte Minderheit rückt wiederum Fragen von individueller wie kollektiver Identität in den Vordergrund, sodass das Outing als Atheistin weit über die persönliche Ablehnung des Gottesglaubens hinausgeht. Herausgearbeitet wurde, wie Atheistinnen sich aufgrund kollektiver Alltagserfahrungen untereinander mobilisieren und politische Forderungen nach Gleichberechtigung und Akzeptanz formulieren. Sog. atheistischer Aktivismus wird dabei in erster Linie unter dem Schlagwort der Identitätspolitik verhandelt, in dessen Rahmen sich Minderheitsdiskurse bedient wird und das Selbst mittels der Grenzziehung zu Religion(en) konstruiert wird. Religion und religiöse Menschen werden in diesem Zusammenhang überwiegend als Antagonistinnen und potentielle Bedrohung wahrgenommen.

In besonderer Weise haben sich Ideen von Minderheitsdiskursen, Identitätspolitik, Othering und (politischer) Mobilisierung im Rahmen der Analysearbeit widergespiegelt. Religionskritik (aufgeteilt in Kritik an religiösen Menschen, Institutionen und Ideen bzw. Vorstellungen) etwa nimmt in dem Subreddit eine zentrale Rolle ein. In der Masterarbeit wurde dies vor allem als Ausdruck des Othering gedeutet, in dessen Zuge das eigene Selbst (rational, wissenschaftlich vernünftig) aufgewertet und das konstruierte Andere (irrational, verblendet, potentiell gewaltbereit) abgewertet wird. Die Erhöhung des Selbstbildes ist zudem unmittelbar als Ergebnis der erfahrenen Stigmatisierung und Diskriminierung von Atheistinnen in den USA zu verstehen. Gleichzeitig hat die gesellschaftliche Stellung zur Folge, dass Userinnen das Forum nutzen, um Gemeinschaft, Solidarität und gegenseitigen Beistand zu suchen. Aus zahlreichen Forumsbeiträgen ging hervor, dass Reddit und das Internet allgemein ein Rückzugsort und „safe space“ angesichts der als übergriffig und feindlich gesinnt wahrgenommenen und religiös dominierten Mehrheitsgesellschaft gesehen werden. Der Austausch mit Gleichgesinnten, das Erbitten um Hilfe und Rat (zum Beispiel wie sich gegenüber den Eltern „geoutet“ werden soll) und das gegenseitige Beistehen in Konfliktsituationen scheint für eine Großzahl der Userinnen einer der wichtigsten Gründe, regelmäßig das Forum aufzusuchen.

Eine wesentliche Erkenntnis der Arbeit war schließlich, dass sich Atheistinnen zwingend mit diversen Dimensionen von Religion konfrontiert sehen. Nicht trotz, sondern gerade wegen ihres Unglaubens sind Atheistinnen von Religion geprägt, da ein großer Teil ihres Alltags davon bestimmt ist, in einer Umwelt zu leben, welche Religiosität als Norm und Zugehörigkeitsmerkmal voraussetzt. Dabei spiegelt sich die eigene Abweichung in nahezu sämtlichen Lebensbereichen wider: Arbeitsumfeld, Beziehungen zu Familie und Freundinnen, aber auch die persönliche Belastung angesichts eines gesamtgesellschaftlichen Drucks, sich religiös zu bekennen. Die prinzipielle Gegensätzlichkeit von Atheistinnen und religiösen Menschen, wie sie aus der Selbst- und Fremdwahrnehmung der Userinnen von r/atheism zu entnehmen ist, wird vor allem in Berichten über gemeinsame Interaktionen sichtbar.

Die Auseinandersetzung mit religiösen Verwandten, Bekannten und anderen Personen des sozialen Umfelds stellt vor diesem Hintergrund eine Konstante innerhalb des Subreddits dar. Mit der Allgegenwärtigkeit religiösen Denkens und seinem Einfluss auch auf politischer Ebene wird das religiöse Umfeld als Gefährdung des eigenen Wohls betrachtet. Ausdruck findet dies in Erfahrungsberichten, in welchen Userinnen u. a. hochgradig persönliche Informationen teilen und tiefe Einblicke in emotionale Themen geben. Entsprechend einfühlsam und entgegenkommend fallen auch die Reaktionen der Reddit-Community aus. Obwohl es sich bei den Akteuerinnen des Forums letztendlich um anonyme Fremde handelt, finden sich Hinweise darauf, dass r/atheism für Viele eine Support-Plattform von großer emotionaler Bedeutung bietet. Der Subreddit fungiert hier zum einen als Mediator für atheistisch relevante Inhalte, ermöglicht gleichzeitig aber auch den persönlichen Austausch mit Gleichgesinnten. Neben der Funktion als „safe space“ und Plattform für emotionalen Beistand und den Abbau psychischer Belastung, wird das Online-Forum also für Informationsaustausch und die weltanschauliche Bestätigung genutzt. Hierbei handelt es sich um eine weitere wichtige Erkenntnis dieser Arbeit, welche letztlich Antworten darauf liefert, weshalb Online-Umgebungen wie r/atheism von zentraler Bedeutung für gegenwärtigen Atheistinnen sind: Sie bieten gesellschaftlich marginalisierten und isolierten Menschen Zuflucht vor ihrem religiös dominierten Alltag und ermöglichen ihren Userinnen Bewältigungsmechanismen und persönliche Weiterbildung.

Aus religionswissenschaftlicher Perspektive von Interesse ist des Weiteren die Tatsache, dass „Religion“ in dieser Arbeit zwar nicht das eigentliche Forschungsobjekt darstellt, dennoch von zentraler Bedeutung ist. Atheismus kann nicht ohne den Rückbezug auf Aspekte des Religiösen untersucht und verstanden werden, sondern ist stets in einem dualistischen Verhältnis zu begreifen. Für die Religionswissenschaft bestätigt dies abermals, dass auch die Auseinandersetzung mit dem breiten Feld der Nicht-Religion einen wesentlichen Beitrag zu der Erforschung von Religion liefert. Darüber hinaus hat die Analyse von r/atheism wiederholt bestätigt, welches Potenzial die Analyse Online-Umgebungen für sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung besitzt. Im Vergleich zu „klassischen“ Erhebungssituationen sind die Charakteristika von Online-Räumen wie Reddit schlichtweg zu eigen, als dass sie für eine ganzheitliche Untersuchung eines Forschungsbereichs ignoriert werden können. Im Falle dieser Arbeit konnte so gezeigt werden, wie sich das Alltagsleben von Atheistinnen abseits formaler Organisationen oder öffentlichkeitswirksamer Leitfiguren gestaltet. Die Kombination aus Anonymität und digitaler Öffentlichkeit ermöglichte einen nahezu ungefilterten Blick in die Lebensrealität von durchschnittlichen Atheist*innen, ihre alltäglichen Sorgen und Probleme und die Konstruktion ihrer religiösen Umwelt. Das Maß persönlicher Involvierung und emotionaler Tiefe gibt nicht nur Aufschluss über die Funktion von r/atheism, sondern verdeutlicht auch den Stellenwert, der mit dem „Bekenntnis“ zum Atheismus in einer ansonsten stark religiös geprägten Umwelt einhergeht.
Sebastian Mihatsch, M.A.

Masterarbeit „Catholic Hegemony? Die Konstruktion von ‚Religion(en)‘ in der TV-Serie Supernatural“


Durch die Bewilligung eines Abschlussstipendiums unterstützte der REMID e.V. mich im Wintersemester 21/22 beim Schreiben meiner Masterarbeit zum Thema „Catholic Hegemony? Die Konstruktion von ‚Religion(en)‘ in der TV-Serie Supernatural“. Die Arbeit wurde am Institut für Religionswissenschaft der Leibniz Universität Hannover mit der Betreuung durch Frau Dr. Carmen Becker und Herrn Dr. Steffen Führding verfasst.

Fragestellung

Die Arbeit hatte das Ziel die Forschungsergebnisse in Bezug auf die TV-Serie Supernatural der US-amerikanischen Kommunikationswissenschaftler*innen Erika Engstrom und Joseph Valenzano III aus religionswissenschaftlicher Sicht zu überprüfen. Supernatural ist eine US-amerikanische Fernsehserie, die von 2005 bis 2020 von „Warner Bros. Television“ und „Wonderland Sound and Vision“ produziert wurde. Drehort für die 327 Episoden der 15 Staffeln war Kanada. In den USA wurde die Serie von den Sendern „The WB“ (S1) und „The CW“ (S2-15) ausgestrahlt. In Deutschland erfolgte die Erstausstrahlung im Pay-TV auf Premiere (heute Sky) 2006 und im Free-TV auf ProSieben 2007. Supernatural handelt vom Kampf der Hauptcharaktere Sam und Dean Winchester gegen übernatürliche Widersacher (z.B. Vampire, Dämonen, Werwölfe, etc.) und ihrem Versuch die Apokalypse nach christlichem Schema zu verhindern. Die Serie wird als eine Mischung der Genres Horror und Soapopera beschrieben.

Erika Engstrom und Joseph Valenzano

Die beiden Kommunikationswissenschaftler*nnen Engstrom und Valenzano kommen durch mehrere Arbeiten zu dem Schluss, dass in Supernatural eine Hegemonie des Katholizismus dargestellt wird, dieser also als allen anderen Religionen übergeordnet präsentiert wird. Ihre qualitative Forschung ist jedoch meiner Meinung nach schlecht dokumentiert und von einem katholisch-dominierten Alltagsverständnis von Religion geprägt. Selbst ihre Ergebnisse wiesen eher auf die Konstruktion einer ‚Ur-Religion‘ in der Serie hin.
Die zentrale Frage der Arbeit war darum: Wie werden Religion(en) in der US-Fernsehserie Supernatural dargestellt? Um die Ergebnisse von Engstrom und Valenzano zu überprüfen wurde eine Qualitative Inhaltsanalyse der Staffeln eins bis fünf der Serie Supernatural durchgeführt. Die hierfür nötigen DVDs der Serie und die Analysesoftware MAXQDA konnten dank des Abschlussstipendiums problemlos angeschafft werden.

Qualitative Inhaltsanalyse

Die Codierung und Analyse des Videomaterials erfolgte in MAXQDA mit einem modifizierten 3-Phasen-Verfahren auf Basis der Qualitativen Inhaltsanalyse nach Kuckartz.

  • In Phase 1 wurden anhand einer Stichprobe von Episoden Proto-Kategorien entwickelt, die die Basis des Kategoriensystems bildeten.
  • In Phase 2 wurden alle Episoden der Analyseeinheit mithilfe der Proto-Kategorien bearbeitet. Es wurden zusätzliche (Sub-)Kategorien gebildet und das Kategoriensystem optimiert.
  • In Phase 3 wurden die Theorie der Hegemonialstellung des Katholizismus und die These der Darstellung einer Form von ‚Ur-Religion‘ anhand der Analyseergebnisse und dem entstandenen Kategoriensystem aus Phase 2 überprüft.

Die Arbeit bestätigt, dass Supernatural stark von christlichen Glaubensvorstellungen geprägt ist. Hierbei handelt es sich jedoch nicht nur um katholische Elemente, sondern vorwiegend um die Darstellung eines undefinierten allgemeinen Christentums. Zusätzlich zu den christlichen Einflüssen wird eine Vielzahl von anderen religiösen Traditionen dargestellt. Diese nicht-christlichen Hintergründe werden in Supernatural jedoch meistens als Kontext für einmalige Antagonisten genutzt. Christliche Antagonisten, wie Luzifer, hingegen spielen eine zentrale Rolle in den staffelübergreifenden Storyarcs der Serie. Die Überprüfung des Konzepts des hegemonialen Katholizismus ergab somit, dass die Feststellungen von Engstrom und Valenzano aus religionswissenschaftlicher Perspektive nicht haltbar sind. Sie basieren vornehmlich auf der fälschlichen Zuschreibung von Katholizismus auf unklar definierte christliche Phänomene.

Konstruktion von religiösen Phänomenen

Als Beispiel sei hier zu nennen, dass die beiden Autor*innen jede Darstellung eines Priesters mit weißem Kragen und schwarzer Kleidung als Darstellung von Katholizismus werten, obwohl es darauf keine definitiven Hinweise gibt. Ein weiteres Ergebnis der Analyse ist das Konzept der in Supernatural dargestellten ‚Ur-Religion‘. Sie verbindet christliche und nicht-christliche Elemente durch die zentrale Position der Menschheit in der Kosmologie der Serie. Das wichtigste Bindeglied der verschiedenen Akteure in der ‚Ur-Religion‘ ist der Dualismus von freiem Willen und vorherbestimmtem Schicksal. Die Entscheidung eines Akteurs für eine dieser Seiten beeinflusst in Supernatural buchstäblich, ob die Welt endet oder nicht.

Fazit

Insgesamt hat sich die Methode der Qualitativen Inhaltsanalyse mit Hilfe einer Analysesoftware als sehr sinnvoll für die Beantwortung der Forschungsfrage erwiesen. Durch die Natur der Arbeit als Masterarbeit konnte jedoch das für die Qualität der Ergebnisse ausschlaggebende Element der qualitativen Forschung, die Intersubjektivität mehrerer Forschender, leider nicht genutzt werden. Die weiterführende Analyse der restlichen10 Staffeln der Serie würde die Ergebnisse höchstwahrscheinlich ebenfalls verändern.

Die Serie Supernatural bietet über meine Fragestellung hinweg Potential für zahlreiche weitere Analysen. So widmen sich Engstrom und Valenzano in „Cowboys, Angels, and Demons: American Exceptionalism and the Frontier Myth in the CW’s Supernatural“ der Darstellung des amerikanischen Exzeptionalismus in Supernatural. Dieser Ansatz könnte ebenso aus religionswissenschaftlicher Perspektive verfolgt werden, da das Exzeptionalismus-Konzept stark mit den religiösen Ursprüngen der USA verwickelt ist. So fällt es selbst bei oberflächlicher Betrachtung auf, dass die Apokalypse nicht im sogenannten ‚Heiligen Land‘ im Nahen Osten stattfindet, sondern alle wichtigen Ereignisse in den USA lokalisiert sind. Eine weitere Möglichkeit ist, die in der Serie präsentierten, religiösen Informationen auf ihre realweltlichen Ursprünge hin zu untersuchen. Inwiefern stimmt der von den Winchesters verwendete Exorzismus mit dem realen katholischen Vorbild überein? Wurden in den verschiedenen polytheistischen Religionen tatsächlich so viele Menschenopfer durchgeführt, wie die Serie suggeriert? Wird der von People of Colour geprägte „Hoodoo“ realistisch dargestellt? Diese und ähnliche Fragestellungen wären es wert, ebenfalls untersucht zu werden.

Tim Rudolph, MA.

Online-Wissenschaftskommunikation für Religionswissenschaftler*innen

In Kooperation mit dem Centrum für Religionswissenschaftliche Studien – CERES der Uni Bochum und dem Institut für Religionswissenschaft an der Uni Hannover bietet Remid e.V. im September ein Blockseminar für Studierende an:

Gerade in Zeiten von Fake News ist es wichtig, wissenschaftlich fundiertes Wissen über Religionen anzubieten, unparteiische und objektive Perspektiven auf gesellschaftliche Diskurse aufzuzeigen und religionswissenschaftliches Wissen für Laien verständlich aufzubereiten. Doch um Menschen zu erreichen, die sich außerhalb des berühmten „Elfenbeinturms“ aufhalten, müssen Wissenschaftler*innen neue Wege suchen und ihre Themen dort vertreten, wo sie sich informieren – z.B. online bzw. in den Sozialen Medien.

Religionswissenschaftler*innen stehen vor dem Problem, dass ihre Perspektive in öffentlichen Debatten oft nicht wahrgenommen oder eingefordert wird. Um öffentliche Diskussionen nicht mehr länger Theolog*innen zu überlassen, müssen Religionswissenschafter*innen ebenfalls lernen, wie sie ihre Expertise in den öffentlichen Diskurs einbringen können.

In dem Seminar lernen Studierende verschiedene Plattformen wie YouTube, Instagram, Facebook oder Twitter kennen und setzen sich damit auseinander, welche Plattform und welches Medium sich für die Kommunikation welcher Inhalte eignet oder eben auch nicht. Außerdem gucken wir uns Best-Practice Beispiele von gelungener Wissenschaftskommunikation an, sowie Beispiele, wie man es besser nicht machen sollte. Studierende können sich in diesem Blockseminar ausprobieren und erstellen unter Anleitung Social Media Beiträge, Blogartikel oder Kurzvideos zu einer religionswissenschaftlichen Thematik ihrer Wahl. Dazu kooperieren wir mit dem wissenschaftlichen Nachrichtendienst REMID e.V., der ein Vorreiter der religionswissenschaftlichen Wissenschaftskommunikation ist.

Das Blockseminar bietet die Möglichkeit, in den Bereichen Informationsmanagement und Social Media unter Anleitung Erfahrungen zu sammeln, hilfreiche Tools und Software kennen zu lernen, mehr über das Schreiben für die Öffentlichkeit zu erfahren und gleichzeitig religionswissenschaftliche Standpunkte in öffentlichen Diskussionen sichtbarer und allgemein verständlich zu machen. Somit bekommen die Studierenden einen Einblick in die Öffentlichkeitsarbeit und erfahren mehr über mögliche berufliche Perspektiven in diesem Bereich (NGOs, Museen, Bildungseinrichtungen, Pressestellen, etc.).

Zeitraum: 11.-13.09. von 09:00 bis 16:00 Uhr und 22.09.2023 von 09:00 bis 12 Uhr (Blockseminar)
Dozierende: Mona Stumpe, Anna Kira Hippert, Dunja Sharbat Dar

Teilnehmerbegrenzung: 15 Personen. 

Teilnahmebedingungen: Einreichen eines formlosen Motivationsschreibens von 250 Wörtern per Mail an die Dozierenden Mona Stumpe ([email protected], Anna Kira Hippert ([email protected]) und Dunja Sharbat Dar ([email protected]). Einreichfrist: 01.06.2023.

Die seltsame Verschwörungstheorie der chasarischen Juden

Die Geschichte des türkischen Chasarenvolkes ist eigentlich ein eher unscheinbares historisches Thema. Um sie herum hat sich jedoch eine Verschwörungstheorie entwickelt, die möglicherweise die kurioseste in der jüdischen Geschichte ist. Bis heute wird der Ablauf der chasarischen Geschichte in wissenschaftlichen und verschwörungstheoretischen Kreisen diskutiert, sogar die russische Invasion der Ukraine ließ das Thema wieder aufblühen. Doch wie kam es dazu?

WER SIND DIE CHASAREN?

Die Chasaren waren ein semi-nomadisches Volk, dass vom 7. bis zum 10. Jahrhundert den Kaukasus bewohnte. Sie haben vermutlich nicht geschrieben, wodurch fast alles, was man heute über sie weiß, aus arabischen Reiseberichten über die Region stammt. Und diese Berichte behaupten teilweise, dass das Volk der Chasaren irgendwann zum Judentum konvertiert ist.

Konversionen sind in der Geschichte des Judentums relativ selten und notorisch kompliziert, unter anderem erfordern sie beispielsweise eine Erwachsenenbeschneidung1. Ein gesamtes Reich mit einer kollektiv konvertierten jüdischen Regierung wäre daher wirklich eine Besonderheit.

Diese kuriose Geschichte faszinierte auch den Schriftsteller Arthur Koestler (1905-1983). Koestler war kein Historiker, aber jemand der Geheimnisse und Rätsel liebte. Sein Roman „Sonnenfinsternis“ (1940)beschreibt die Kommunikation mit Klopfcodes und „Der göttliche Funke“ (1964)handelt von ähnlichen Chiffren, Geheimcodes und Matrizen. Sein Werk „Der dreizehnte Stamm“ (1976) widmete sich den aus den Reiseberichten überlieferten Gerüchten und beschrieb, wie die Chasaren zum Judentum konvertierten. Koestler vermutete sogar, dass ein Großteil des heutigen aschkenasischen Judentums von diesen konvertierten Chasaren abstamme. Nachdem der israelische Historiker Shlomo Sand die Theorie von Koestler in seinem Bestseller „Die Erfindung des jüdischen Volkes“2 (2009)aufgriff, wurden die Chasaren zu einem Diskussionsthema in wissenschaftlichen und nichtakademischen Kreisen3.

FAKE JEWS

Die Theorie der sogenannten „Fake Jews“ gewann unter Verschwörungstheoretikern großen Zuspruch, auch wenn Koestler selbst sich von allen Verschwörungstheorien distanzierte.4 Die Idee von konvertierten „Fake Jews5 kam antisemitischen Verschwörungstheoretikern aus allen politischen Lagern sehr gelegen6. Die heutigen Juden wären demnach nicht mehr das schützenswerte edle Volk der Israeliten, das auserwählte Volk Gottes, sondern parasitäre Betrüger7. Und eigene Aussagen gegen Jüdinnen und Juden wären dann auch nicht mehr antisemitisch, weil sie sich ja nicht gegen die „echten Juden“, sondern die chasarischen „Fake Jews“ richten würden.

Diese Chasarentheorie wurde außerdem auch antizionistisch ausgelegt: Wenn die aschkenasischen Juden gar nicht das biblische Volk aus Palästina wären, warum sollten sie dann ein Rückkehrrecht in dieses Land haben? Israel als Staat der „Fake Jews“ wurde damit zur „Fake Nation“8.

Diese Theorie wurde immer populärer, obwohl Koestlers „Der dreizehnte Stamm“ selbst die Aberkennung des Existenzrecht Israels schon verneinte: „the State of Israel’s right to exist […] is not based on the hypothetical origins of the Jewish people[…]. Whether the chromosomes of its people contain genes of Khazar or Semitic, Roman or Spanish origin, is irrelevant, and cannot affect Israel’s right to exist“.9

DIE CHASAREN UND DER UKRAINEKRIEG

Mit der russischen Invasion der Ukraine bekam die Verschwörungstheorie der Chasaren eine neue Bedeutung. Die komplexe politische Beziehung der Ex-Sowjetstaaten wird in diese Theorie stark vereinfacht und „die Juden“ werden zum Strippenzieher im Geheimen – mithilfe einer pseudowissenschaftlichen Erklärung. Die „Chasarenmafia“ steuere beide Seiten des Krieges, die direkten Nachfolger der zum Judentum konvertierten Chasaren10.

[Antisemitische Karikatur, „Hinter der russischen/ukrainischen Maske strebt der Jude nach Konflikt“]

[Antisemitische Karikatur, „Hinter der russischen/ukrainischen Maske strebt der Jude nach Konflikt“]

Schon im April 2022 wurde dieses Bild auf der russischen Social Media-Plattform vk verbreitet11. Es zeigt antisemitische Karikaturen von Juden mit russischer und ukrainischer Maske, sowie die russische und ukrainische Flagge mit Davidstern im Zentrum, der israelischen Flagge nachempfunden. Sowohl Russland als auch die Ukraine sollen demnach heimlich jüdische Staaten sein und der aktuelle Konflikt sei nur ein weiteres Komplott der Juden. In russischsprachigen Telegram-Kanälen heißt es dann: „Die Ukraine ist die Heimatstätte und letzte Bastion der Chasarenmafia, die den Deep State der Welt kontrolliert“ und „Die Rothschild-Chasarenmafia […] kontrolliert das Bankwesen, […], das Parlament, die Massenmedien“.12

Anders als andere Verschwörungstheorien, die oft auf absurde Konzepte wie eine flache Erde oder humanoide Echsen setzen, besitzt die Chasarentheorie einen vermeintlich realwissenschaftlichen Kern. Wissenschaftler und Verschwörungstheoretiker spekulieren über dieselbe Frage um die Herkunft der Chasaren, sodass die Grenzen zwischen akademischer und verschwörerischer Wissensfindung verschwimmen.

DAS CHASARENMÄRCHEN

Für meine Bachelorarbeit las ich zum ersten Mal die arabischen Reiseberichte zu den Chasaren im Original und war erstaunt darüber, was für eine Nebenrolle das Thema Judentum für die Autoren spielte: al-Masʿūdī schweifte lang über die Geographie der kaukasischen Gebirge aus, Ibn Faḍlān beschrieb minuziös die Bestattungsriten der Chasaren und Ibn Rusta verlor sich in detailliertesten Beschreibungen des chasarischen Militärs – zur Religion der Chasaren schreiben sie aber nur kurze, relativ trockene Absätze. Für die herrschenden Khalifen, die die Autoren beauftragten, war militärisches Wissen viel relevanter als die Religion der Chasaren: Wie sind ihre Städte aufgebaut? Wie stark ist ihr Militär? Welche Gebirge erschweren den Weg? Zur Religion wurden daher meist nur knappe Notizen gemacht.

Zum Ablauf der vermeintlichen Konversion der Chasaren zum Judentum findet sich hingegen in der – sehr wahrscheinlich nicht authentischen – Korrespondenz zwischen dem Chasarenkönig Josef und dem spanischen Historiker Chasdai ibn Shaprut eine märchenhafte Erzählung. In dieser Geschichte ruft der chasarische König Bulan je einen christlichen, muslimischen und jüdischen Gelehrten zu sich, um sich für die wahrhaftigste Religion von ihnen zu entscheiden. In einem Streitgespräch geben sowohl der muslimische, als auch der christliche Gelehrte zu, dass sie eher zum Judentum als zur jeweils anderen Religion neigen würden. Das Judentum, das selbst nicht missioniert, überzeugt den König und er nimmt schlussendlich die jüdische Religion an.

Die Geschichte erinnert an die Ringparabel aus Nathan der Weise von Gotthold Ephraim Lessing. Beide Geschichten haben auch denselben Ursprung. Die Legende von einem weisen Herrscher, der zwischen den drei abrahamitischen Religionen entscheiden muss, ist im Nahen Osten schon mindestens seit dem 8. Jhd. n.Chr. bekannt und wurde zu dieser Zeit zu einem häufigen literarischen Motiv. Es ist ein Gründungsmythos, der hier auch nur als solcher gemeint ist. Eine identitätsstiftende Legende, aber kein Versuch, tatsächliche Geschichte niederzuschreiben.

FALSCHE ÜBERSETZUNGEN

Neben dem Brief von Ibn Shaprut wird meist al-Masʿūdī zitiert, wenn es um die „Konversion“ der Chasaren zum Judentum geht:

kāna tahawwuda maliki l-ḫazari fī ḫilāfati r-Rašīd13, wörtlich: „Während der Herrschaft von Khalif Harun ar-Raschid [ungefähr 786-809 n. Chr.] wurde der König der Chasaren jüdisch“

Der verwendete Begriff tahawwud meint hierbei wahrscheinlich nicht unbedingt, dass es eine religiöse Konversion zum Judentum gab, sondern eher, dass ein gebürtiger Jude das Königsamt übernahm: Der König „wurde jüdisch“, weil ein Jude zum König wurde.

Und die Erklärung dafür liefert al-Masʿūdī direkt im Anschluss:

wa-huwwa sannatu ʾiṯnān wa-ṯalaṯīna […] fa-tahāraba ḫalqun min al-yahūdi min arḍi r-rūm ʾilā ʾardi l-ḫazari14, also: „Im Jahr 943 n.Chr. […] floh eine Gruppe von Juden [wegen Verfolgungen und Zwangskonversionen] aus dem Byzantinischen Reich in das Land der Chasaren“.

Aus dieser Quelle kann man rückschließen: Es gab keine Konversion, vielmehr übernahm eine Gruppe aus dem byzantinischen Reich geflohener Juden das Königsamt im Land der Chasaren. Das ist der Ursprung der jüdischen Chasaren – offensichtlich für jeden, der die Quelle im Original liest.

Leider arbeiten die meisten wissenschaftlichen Quellen eben nicht mit dem Originaltext, sondern mit einer Übersetzung: Das Interesse an dem Thema Chasaren kommt nicht primär aus der Arabistik oder Islamwissenschaft. Es sind vor allem Fachfremde, die nicht mit der Sprache der Hauptquellen vertraut sind, aber trotzdem unbedingt versuchen wollen, eine Theorie damit zu belegen oder entkräften. Und so sind sie den kreativen Neuinterpretationen von Übersetzern ausgeliefert:

le judaïsme […] est devenu la religion dominante dans cet État“, also „Das Judentum wurde zu diesem Zeitpunkt zur dominanten Religion“15

Die bekannteste Übersetzung von al-Masʿūdī, die französische Übersetzung von de Meynard, weicht ohne ersichtlichen Grund von der originalen Bedeutung ab. Im Originaltext geht es nur um eine einzige Person: den chasarischen König, der jetzt Jude ist – und nicht der Verbreitung einer „dominanten Religion“.

[the Khazars] embraced the tenets of the jews“, also „[die Chasaren] nahmen die Lehren der Juden an“16

Die bekannteste englische Übersetzung behauptet zwar nicht explizit, dass es eine Konversion zum Judentum gab – aber deutet zumindest stark darauf hin. Bedenkt man, dass al-Masʿūdī meint, dass ein gebürtiger Jude zum chasarischen König wurde, ergibt ein „Annehmen der Lehren der Juden“ keinen Sinn mehr.

Ob man die oben besprochenen Texte als freie Übersetzungen, Übersetzungsfehler oder „Verschönerung“ der historischen Tatsachen definiert, bleibt Ansichtssache. Sicher ist, dass die Texte von al-Masʿūdī basierend auf diesen Übersetzungen in der akademischen und nicht-wissenschaftlichen Welt falsch interpretiert wurden. Immer mit dem Ziel, die unglaubliche Geschichte von der Konversion wahrhaben zu wollen, obwohl die Originalquelle es nicht nahelegt.

ZU SCHÖN, UM NICHT WAHR ZU SEIN

Die Geschichte eines antiken türkischen Nomadenreiches, das tausend Jahre vor der Gründung des israelischen Staates einstimmig zum Judentum konvertierte, ist märchenhaft. Die Legende vom „dreizehnten Stamm“ ist so faszinierend und absurd, dass man sie einfach wahrhaben will.

Beispielhaft für diese Mentalität ist die DNA-Studie von Eran Elhaik (2012). Der israelisch-amerikanische Bioinformatiker versuchte eine genetische Verbindung zwischen den Chasaren und den heutigen europäischen Juden herzustellen, um damit zu prüfen, ob sie wirklich Nachfahren der jüdischen Chasaren sind. Da das Volk der Chasaren aber seit dem 10. Jahrhundert nicht mehr existiert und man daher keine DNA-Proben von ihnen nehmen kann, untersuchte Elhaik einfach DNA-Proben von Georgiern und Armeniern, da sie für ihn zur selben „genetischen Kohorte“17 gehörten.

Die DNA-Studie ist ein methodischer Albtraum. Man kann nicht einfach die DNA der heutigen Kaukasus-Bewohner mit den Chasaren des 10. Jahrhunderts gleichsetzen, noch weniger kann man damit die These von einer chasarischen Konversion zum Judentum beweisen. Trotzdem ist die Elhaik-Studie bis heute eine der meistzitierten Quellen zum chasarischen Judentum18 – nicht, weil sie eine fundierte Antwort auf eine wissenschaftliche Frage liefert, sondern weil sie eine einfache Antwort auf eine politische Frage bietet.

Eine ähnliche Situation ergab sich nach dem archäologischen Fund des jüdischen Friedhofes Çufut Qale in der heutigen Ukraine. Nachdem man dort Grabsteine mit hebräischen Inschriften fand, war die Antwort erstmal eindeutig: Das ist ein Friedhof der jüdischen Chasaren19. Eine spätere Analyse von Artem Fedorchuk ergab jedoch massive Fehler beim Auslesen der Todesdaten, die Grabsteine stammen aus dem 16. Jahrhundert und könnten daher unmöglich von Chasaren (7.-10. Jhd.) stammen.20

So ein grober Fehler von Historiker Abraham Firkowicz erklärt sich durch den confirmation bias: Mit der Geschichte der jüdischen Chasaren im Hinterkopf, ordnete er hebräische Inschriften auf dem ehemaligen Staatsgebiet der Chasaren schnell einander zu – und das auch, wenn die Geschichte von jüdischen Chasaren selbst total fragwürdig ist. Dieser Fehler ist das Resultat einer verzweifelten Suche nach einer schönen, einfachen Antwort für eine emotionale politische Frage.

JÜDISCHE CHASAREN?

Es ist an der Zeit, die Theorie der jüdischen Konversion der Chasaren nicht als kontrovers, sondern als unglaubwürdig zu beurteilen. Das schwere emotionale Gewicht der Chasarenfrage darf der unabhängigen wissenschaftlichen Bewertung der Quellen nicht im Weg stehen. Und diese ergibt eben, dass eine Migration einer Gruppe jüdischer Händler aus dem Byzantinischen Reich viel wahrscheinlicher ist als eine gesamtheitliche Konversion des chasarischen Volkes zum Judentum. Auch wenn es die „langweiligere“ Geschichte ist.

So sehr man sich danach sehnt, die Quellenlage zu den Chasaren ist dünn und die Frage nach ihrer Religion kann niemals endgültig beantwortet werden. Oft ist aber die einfachste Erklärung die naheliegendste – die historische Wahrheit ist meistens eben keine märchenhafte Geschichte.

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1 vgl. Dunlop, Douglas, The history of the Jewish Khazars, Princeton 1954: 118f.

2 hebräischer Originaltitel: „matai ve-ekh humtza ha-am ha-yehudi?“, „Wann und wie wurde das jüdische Volk erfunden?“

3 z.B. Sahm, Ulrich, Das Chasaren-Märchen, Jüdische Allgemeine, (1.7.2014), https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/das-chasaren-maerchen; van Straten, Jits, The Origins of Ashkenazi Jewry (2011), Berlin/New York 2011; Stampfer, Shaul, Did the Khazars Convert to Judaism? (2013), Jewish Social Studies, Vol. 19, Nr. 3

4 vgl. Koestler, Arthur, The Thirteenth Tribe, London 1976: 196

5https://www.ajc.org/translatehate/not-the-real-Jews, siehe auch das Unpacked-Video, dass den Begriff Fake Jews im Video-Thumbnail enthält: https://jewishunpacked.com/the-conspiracy-of-the-origin-of-ashkenazi-jews/

6 vgl. https://www.ajc.org/translatehate/not-the-real-Jews

7 vgl. https://www.ajc.org/translatehate/not-the-real-Jews

8 https://www.ajc.org/translatehate/not-the-real-Jews

9 Koestler 1976: 196

10 https://www.adl.org/resources/blog/antisemitic-conspiracy-theories-abound-around-russian-assault-ukraine

11 https://vk.com/@adonaris-kto-razvyazal-voinu-mezhdu-rossei-i-ukrainoi

12 https://www.adl.org/resources/blog/antisemitic-conspiracy-theories-abound-around-russian-assault-ukraine

13 al-Masʿūdī / de Meynard, Barbier, de Courteille, Pavet, Les Prairies d’Or, Bd.2, Paris 1861: 8

14 al-Masʿūdī 1861: 8f.

15 de Meynard/al-Masʿūdī 1861: 8

16 Sprenger 1841, zitiert nach Stampfer 2013: 19

17 Elhaik, Eran, The Missing Link of Jewish European Ancestry: Contrasting the Rhineland and the Khazarian Hypotheses (2012), Genome Biology and Evolution, Vol. 5, Nr. 1: 64

18 vgl. Stamper 2013: 3

19 Fedorchuk, Artem, New Findings Relating to Hebrew Epigraphic Sources from the Crimea, with an Appendix on the Readings in King Joseph’s Letter, in: Golden, Peter (Hrsg.), The World of the Khazars, Leiden/Boston 2007: 109

20 Fedorchuk 2007: 121f.

Autor: Nizar Blass,
Bachelorstudent „Naher und Mittlerer Osten“ an der LMU München,
im Rahmen seines studienbegleitenden REMID-Praktikums

Reform des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes in der Kritik

Wird sich die eh schon prekäre Lage von Doktorand*innen noch weiter verschlechtern?
#WissZeitVG #ProfsfürHanna

Am 17.03.2023 hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung seine Reformbemühungen zum Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) vorgestellt. Das grundsätzliche Anliegen: Die Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft verbessern, insbesondere was die langfristige Planbarkeit einer akademischen Karriere betrifft. Konkret soll darauf abgezielt werden, Promovierenden mehr Verlässlichkeit zuzusichern, indem einerseits Mindestvertragslaufzeiten bei Erstverträgen festgelegt werden, andererseits aber auch die Höchstbefristungsdauer von sechs auf drei Jahre abgesenkt wird.

Es ist insbesondere die Verkürzung der Höchstbefristungsdauer, welche zahlreiche Stimmen aus der Wissenschaft heftig kritisieren: Was in der Theorie womöglich förderlich klingt, stellt sich sehr schnell als klarer Widerspruch zur aktuellen Realität von Promotionsstudierenden dar: Bei Überschreitung der vorgegebenen 3 Jahre müssten die Universitäten zwingend Doktorand*innen unbefristet einstellen, was in der Praxis eine Seltenheit abseits von Professuren ist. Besteht für Universitäten also weder die Möglichkeit, Promovierende befristet noch unbefristet anzustellen, verschlechtert sich die an sich schon prekäre Lage derjenigen, die eine Promotion anstreben.

Da für die Annahme einer Professur ein ungeschriebenes „akademisches Alter“,
das heißt ausreichend Erfahrung in Lehre und Forschung vorausgesetzt wird, besteht die letzte Möglichkeit, die eigene Stelle über Drittmittel zu finanzieren. Um also weiterhin in der Wissenschaft tätig zu sein, wären Doktorand*innen gezwungen, sich alle zwei bis drei Jahre um Fördergelder zu bewerben. Während sich dies für förderungsstarke Fachgebiete vergleichsweise unkompliziert gestalten mag, stehen insbesondere Promovierende geisteswissenschaftlicher Fächer vor einer weiteren Herausforderung. Das ständige Entlanghangeln an Drittmittelprojekten sowie der damit verbundene Zwang, regelmäßig den Standort zu wechseln, stellt nicht nur auf persönlicher Ebene eine Belastung dar, sondern widerspricht auch der vom WissZeitVG abgezielten Verbesserung von Familien- und inklusionspolitischer Planbarkeit.

Ein Grund, weshalb die eigentlich als Verbesserung der Arbeitsbedingungen angedachte Reform konträr zur praktischen Umsetzbarkeit steht, liegt unter anderem in der grundlegenden Struktur des deutschen Bildungssystems: Während zwar das Bildungsministerium für die bundesweite Gesetzgebung zuständig ist, stellt sich die Finanzierung von zum Beispiel unbefristeter Stellen als Angelegenheit der einzelnen Bundesländer dar. Und eben diese legen letztlich die Auswahl und Anzahl der entsprechenden Stellen fest; unabhängig davon unter welchen Bedingungen die Anstellung geschieht. Aufgrund eben dieser planungsunsicheren Arbeitsbedingungen gestalten sich deutsche Hochschulen für viele als zunehmend unattraktiver Arbeitsort.

In einem offenen Brief, welche mittlerweile von über 2.500 Professor*innen aus ganz Deutschland und sämtlichen Fachgebieten unterschrieben wurde, fordern Kritiker*innen nun, dass das WissZeitVG „entweder grundlegend novelliert oder endlich abgeschafft“ wird.

Autor: Sebastian Mihatsch

Mehr Infos:

Link zur Kritik und Unterschriftenaktion: https://tubcloud.tu-berlin.de/s/eJDLgfcCC26FdGq

Berichterstattung der Tagesschau: https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/wissenschaft-zeitvertragsgesetz-protest-101.html

Meldung des BMBF: https://www.bmbf.de/bmbf/shareddocs/kurzmeldungen/de/2023/03/230317-wisszeitvg.html