Dr. Michael Blume, der als Religionswissenschaftler über die Arbeiten von Hirnforschern zur Religion promovierte, dürfte den meisten insbesondere aufgrund seines Blogs “Natur des Glaubens. Evolutionsgeschichte der Religion(en)” bzw. “Biology of Religion. Exploring the Natural History of Faith” bekannt sein. Die deutsche Version erhielt 2009 den Scilogs-Preis. Blume ist Teil des Forschernetzwerk der Evolutionary Religious Studies. Seine in der Religionswissenschaft bereits kontrovers diskutierten Thesen (vgl. “Gott, Gene und Gehirn. Warum Glaube nützt. Die Evolution der Religiosität”, mit Rüdiger Vaas, 2. Aufl. 2009) beeinflussten bereits Memetikerin Susan Blackmoore, allerdings versuchte auch Thilo Sarrazin mit verkürzten Zitaten aus Blumes Arbeiten seine kruden Theorien zu belegen. Vor kurzem erst sprach Michael Blume bei unserer Veranstaltungsreihe “Religion am Mittwoch” über “Evolutionsforschung zur Religion: Chancen und Grenzen”.
Bei Ihrem Gastvortrag in unserer Vortragsreihe “Religion am Mittwoch” unterschieden Sie Religiosität von Spiritualität. Erläutern Sie das doch bitte für unsere LeserInnen.
Als Arbeitsdefinition von Religiosität hat sich in der Evolutionsforschung „Glauben an überempirische Akteure – belief in superempirical (teilweise noch: supernatural) agents“ durchgesetzt. Diese Definition geht übrigens im Kern bis auf Charles Darwin zurück, der ja studierter Theologe war und in seiner „Abstammung des Menschen“ selbstverständlich auch eine Evolution von Religiosität annahm und dazu frühe Religionswissenschafter zitierte. Spiritualität wird dagegen als Potenzial zu Entgrenzungserfahrungen erkundet. Sowohl Befragungen, experimentelle Studien wie auch Befunde der Hirnforschung unterstreichen, dass es sich um verschiedene Merkmale handelt, die zwar interagieren können, aber nicht müssen. Sie können sehr spirituell sein, ohne an überempirische Wesenheiten zu glauben und umgekehrt sehr religiös, ohne je eine spirituelle Erfahrung gemacht zu haben.
Die Spektrum-Wissenschaftszeitschrift „Gehirn & Geist“ hat je den Forschungen zu Spiritualität und Religiosität eigene Titelgeschichten gewidmet, die als pdf online kostenfrei abgerufen werden können. Das sind „Spiritualität – Moderne Sinnsuche“ von Anton Bucher und „Homo religiosus“ von mir. Wir beide haben die Texte dabei als Einführungen angelegt.
Ihr besonderes Thema beschäftigt sich ja mit Evolution und Religion. Was bedeutet die theoretische Annahme, es handele sich bei Religiosität um ein sogenanntes “Mem”?
Der Evolutionsbiologe und Religionskritiker Richard Dawkins schlug die Gen-Mem-Unterscheidung vor, um Elemente biologischer Evolution (wie Gene) von jenen der kulturellen Evolution (wie Worte) zu unterscheiden. Wie biologische und kulturelle Evolution interagieren ist ja ebenfalls schon eine Grundfrage seit Darwin, der gleichermaßen von einer Evolution von Organismen wie von Sprachen schrieb. Insofern ist die Gen-Mem-Unterscheidung eine anregende Metapher, empirisch ist sie aber gescheitert. Es ist nie eine anwendbare Definition von „Mem“ gelungen, so dass empirische Studien nicht möglich waren und beispielsweise ein internationales Journal für Memetik wieder eingestellt werden musste.
Was haben Sie diesbezüglich empirisch herausarbeiten können?
Sondertheorien sind unnötig, die Evolutionstheorie erfasst auch die Entwicklung von Religion. Religiosität ist mindestens seit einigen zehntausend Jahren Teil unserer menschlichen Natur wie Musikalität und Sprachfähigkeit auch. Sie wird jedem von uns in unterschiedlicher Intensität vererbt und je nach Umfeld und Erfahrungen unterschiedlich ausgeprägt. Mitglieder gewachsener religiöser Netzwerke und Gemeinschaften kooperieren untereinander durchschnittlich erfolgreicher und pflanzen sich im Durchschnitt erfolgreicher fort als Nichtmitglieder gleicher Einkommens- und Bildungsschicht. Die Religionsgeschichte ist ein faszinierender, insgesamt erfolgreicher und zum Verständnis des Menschen bedeutender Aspekt der Evolutionsgeschichte. Und die Evolution geht weiter.
Gibt es Vergleichbares auch in der übrigen Tierwelt (neben Homo sapiens)?
Auch diese Frage stellte sich faszinierenderweise bereits Charles Darwin, der Formen des Animismus – also des Glaubens von überempirischen Akteuren in Dingen – bei seinem geliebten Haushund beobachtete. Heute sind eine Menge Forscherinnen und Forscher der Meinung, bei komplexen Säugetieren wie Primaten oder Elefanten auch komplexe Emotionen wie Bindung und Trauer zu erkennen. Und einige, wie zum Beispiel die Primatologin Jane Goodall, betonen, dass sie spirituelles und religiöses Verhalten auch bei Tieren beobachtet hätten.
Persönlich war ich lange sehr skeptisch, aber das Buch „Der Affe und der Sushi-Meister“ des Primatologen Frans de Waal hat mich sehr nachdenklich gemacht. De Waal zeigt dort, wie japanisch-buddhistische Kolleginnen und Kollegen über Jahrzehnte von westlichen Wissenschaftlern für ihre Befunde von Kultur unter Affen verhöhnt wurden, bevor sich diese endlich durchsetzten. Und zwar auch nur deshalb, weil Seiteneinsteigerinnen wie die gelernte Sekretärin Jane Goodall gegen teils erbitterte Widerstände bewusst und unbewusst die Vorurteile vieler Kollegen überwanden. Ich denke, unsere westliche Wissenschaftskultur hat die Fähigkeiten von Tieren deutlich unterschätzt und findet Befunde überzeugend, die einigen Tieren wenigstens Vorformen von Religiosität zuerkennen. Auch hier hatte Darwin meines Erachtens Recht.
Manche Kollegen behaupten, Ihr Vorgehen wäre nicht im engeren Sinne religionswissenschaftlich. Wie ist diese Kritik zu verstehen?
Die deutschsprachige Religionswissenschaft versteht sich als Geistes- und Kulturwissenschaft, also oft gerade in der Abgrenzung zu Naturwissenschaften. Auch fürchten einige einen „Ausverkauf der Religion“ an die ohnehin immer stärker werdenden Bio- und Lebenswissenschaften. Mancher Religiöse glaubt, die Evolutionsforschung bedrohe Gott – und mancher Religionskritiker mag nicht einmal denken, dass auch Religiosität ein erfolgreicher Teil unserer Natur geworden ist.
Diese Einwände und Ängste kann ich durchaus verstehen, halte sie aber für unbegründet. In der Religionswissenschaft waren es doch gerade die Fortschritte der Natur- und Geschichtswissenschaften, die es überhaupt als denkbar erschienen ließen, sich Religion auch anders als durch Theologien zu nähern. Noch Pioniere der Religionswissenschaft wie Max Weber und Émile Durkheim haben ihre Forschungen ganz selbstverständlich im Kontext der Evolutionstheorie angelegt. Sie hätten sich wohl gewundert zu hören, dass einige Nachfolger ein Jahrhundert später die Evolutionsforschung ignorieren oder gar ablehnen. Es ist ja auch fast komisch: Wir erforschen zum Beispiel US-amerikanische Kreationisten und verhalten uns teilweise fast genauso…
Aber ich bin optimistisch. Auch zum Beispiel Sprach- und Musikwissenschaften haben sich ja lange gegen naturwissenschaftliche Perspektiven und Methoden gewehrt. Heute aber gehört es dort zum ordentlichen Grundstudium, die biologischen und anatomischen Grundlagen von Sprachfähigkeit und Musikalität zu verstehen. Und es hat diesen Fächern gerade nicht geschadet, sondern ihnen neue Erkenntnisse gebracht und sie interdisziplinär und öffentlich gestärkt. Also, es wird vielleicht noch ein wenig dauern, aber irgendwann wird man auch bei uns diesen Stand erreicht haben.
Wie sehen Sie überhaupt das Verhältnis der Naturwissenschaften zu den Religionen?
Sehr viel entspannter als in der öffentlichen Wahrnehmung. Die kreationistische Ablehnung der Evolutionsforschung ist ja vor allem ein Phänomen des protestantischen Fundamentalismus. Interessanterweise werden dessen meist sehr plumpen Argumente zunehmend auch von islamischen Strömungen aufgenommen. Dagegen haben zum Beispiel das katholische Lehramt, aber erst Recht auch buddhistische und hinduistische Traditionen gar kein grundlegendes Problem mit aktuellen Befunden der Evolutionsforschung. Fasziniert bin ich auch von der Offenheit und den Beiträgen jüdischer Kolleginnen und Kollegen, die mit „Judaism in Biological Perspective“ auch einen beispielhaften Sammelband aus der Feder von Natur-, Kultur- und Geisteswissenschaftlern vorgelegt haben. So etwas sollte es zu allen großen Religionen geben!
Dass sich auch unter gebildeteren Menschen das Klischee von „dem“ Problem „der“ Religionen mit „der“ Evolutionsforschung weit verbreitet hat, halte ich für ein ernsthaftes Bildungs- und Vorurteilsproblem. In Ländern wie den USA ist es sogar schon zum Politik- und Wissenschaftsproblem geworden, zumal es von Extremen sowohl auf religiöser wie antitheistischer Seite aktiv geschürt wird.
Oft wird Naturwissenschaftlern, die sich dem Thema Religion wissenschaftlich nähern wollen, vorgeworfen, sie vereinfachen zu sehr, vom Christentum abgeleitete religiöse Ideen würden auf alle Religionen übertragen. Wie beurteilen Sie deren Methoden unabhängig von Ihrer eigenen Arbeit?
Dieser Vorwurf ist völlig berechtigt. Es tut teilweise fast körperlich weh, mit welchen groben und halbverdauten Vorstellungen von „der Religion“ da manchmal argumentiert oder gar gearbeitet wird. Aber das Problem besteht doch auch umgekehrt: Vielen Geistes-, Kultur- und eben auch Religionswissenschaftlern fallen zu „der Evolution“ auch nur völlig veraltete Schlagwörter wie „das Überleben des Stärkeren“ ein und sie haben kaum einen Schimmer von der Komplexität und Vielfalt moderner Evolutionsforschung. Ich sehe nicht ein, warum ich Biologinnen und Biologen vorwerfen sollte, dass sie keine Religionswissenschaftler sind – und umgekehrt. Wenn wir die Evolution von Religiosität und Religionen immer besser verstehen wollen, müssen wir uns zusammen tun und voneinander lernen!
Und genau das geschieht ja auch zunehmend. Nur ein Beispiel: Seit einigen Jahren spreche ich bei der jährlichen Ringvorlesung zur Evolutionsforschung der Biologen der Universität Tübingen. Sowohl bei den Professoren und wissenschaftlichen Mitarbeitern wie bei den Studierenden ist das Interesse enorm und freundlich und in die Klausurprüfungen in Biologie gehen religionswissenschaftliche Vorschläge ein. Oft kommen noch Wochen später Mails von Studierenden, die über diese Vorlesung einen tieferen Einstieg in Fragen der Kultur- und Geisteswissenschaften gewagt haben. Am 12. Juli ist es übrigens wieder soweit, ich freue mich schon sehr auf diesen Termin!
Manche sprechen aber doch von einem tiefen Graben, der heute Geistes- und Naturwissenschaften trennen würde. Warum ist man so zögerlich interdisziplinär?
Weil auch wir Wissenschaftler Menschen mit Evolutionsgeschichte sind. Und gerade der im Wissenschaftsbetrieb immer noch dominierende Typus des raumgreifenden Alpha-Mannes hat große Schwierigkeiten damit, einzuräumen, dass er vielleicht gar von der jüngeren Kollegin oder dem Kollegen eines anderen Faches etwas lernen könnte. Da ist es doch viel einfacher, sich zu Gruppen zusammen zu schließen, sich gegenseitig lautstark zu imponieren und gegen die vermeintlich dummen Fachfremden abzugrenzen. Entsprechend entwickelt ja auch jeder Fachbereich seine Sondersprache, die nur für Eingeweihte verständlich ist und also Zugehörigkeit demonstriert. Hinzu kommt, dass interdisziplinäre Fragestellungen an deutschen Universitäten in Wirklichkeit noch oft Karrierekiller sind. Welchem Biologen würden denn Forschungen zur Religion angerechnet? Und welcher Religionswissenschaftlerin die Zusammenarbeit mit Biologen? Wer einen der raren Lehrstühle ergattern will, bleibt da doch lieber näher in der warmen Eigengruppe.
Und das führt dann halt auch zum Relevanzverlust, zum Beispiel dazu, dass kaum ein Religionswissenschaftler zu den eugenischen Fantasien von Thilo Sarrazin etwas Kompetentes sagen konnte oder wollte, der immerhin frontal eine religiöse Minderheit unseres Landes anging und eine breite Debatte auslöste. Fast ebenso wenig werden wir zu Geschlechterfragen gehört, die eben längst auch in der Öffentlichkeit auf evolutionärer Grundlage diskutiert werden.
Eine weitere Folge ist, dass die interdisziplinäre Evolutionsforschung nicht nur zur Religion, sondern beispielsweise auch zur Literatur, Kunst, Politik oder Moral immer stärker von nicht-universitären Forschungsinstituten geprägt wird und dass auch aus etablierten Universitätslehrstühlen heraus internationale, interdisziplinäre Netzwerke engagierter Leute entstehen, die sich etwas trauen. Das Internet unterläuft da die klassischen Abgrenzungen zunehmend und beschleunigt Dialog und Informationsaustausch – was ein Grund ist, warum ich so gerne über Wissenschaft blogge. Der neue Hörsaal ist online, interdisziplinär und international.
Mittelfristig bin ich daher sehr optimistisch: Die Resonanz auf den REMID-Abend bei Ihnen in Marburg war ja überwältigend – Studierende, Interessierte, Verleger, Professoren aus Religions- und Naturwissenschaft. Daraus entstand ja dann auch ein Lehrauftrag an der Universität für ein Seminar über Methoden und Grenzen der Evolutionsforschung zu Religiosität und Religionen. Von der Zahl, dem Engagement und auch der Qualität der Studierenden in diesem gerade stattfindenden Seminar hier in Marburg und einem weiteren in Jena bin ich sehr begeistert. Viele junge und geistig junggebliebende Kolleginnen und Kollegen haben erkennbar Lust auf empirisch ernsthafte, interdisziplinäre Forschungen, deren Erkenntnisse dann auch über den Tellerrand hinaus weisen und wirken.
Ich danke für das Interview.
Nachwort: Aufruf zur Diskussion!
Mein erster Gedanke war, eine Rückfrage zu stellen, allerdings hätte dies vermutlich den vorgesehenen Publikationstermin verschoben. Zudem fürchte ich, würde eine fruchtbare Diskussion entstehen – ein endloses Interview. Das wäre zwar medientheoretisch ein interessantes Phänomen, doch ziehe ich es lieber vor, diese Diskussion im Plenum der gesamten Leserschaft zu führen.
Die Fragen können im Detail beginnen, etwa wie sieht es mit der Kritik am “Evolutionismus” aus? Frühere Zivilisationsstammbäume suggerierten eine Abstammungslinie der Religionen, als ob afrikanische Religionen einen Blick auf urzeitliche Vorstellungen liefern könnten, also keine eigene Geschichte hinter sich hätten. Wie sähen also Korrekturen dieser veralteten Theorien aus? Oder: dieses Gegenüber von Religiosität und Spiritualität – ist diese Terminologie eine erschöpfende Summe für alles das, was Religionswissenschaftler untersuchen? Oder: die alte Religionsphänomenologie “fühlte” sich ein, und schien diese “Methode” zu benötigen für ihre Übersetzungen der fremden Phänomene. Die “religiös Unmusikalischen” übernahmen solche Experteneinschätzungen damals gerne. Daher folgten in der Disziplingeschichte die Versuche eines linguistic turn, cultural turn usf. Im Grunde wurde darauf ja bereits geantwortet (Biologen sind keine Religionswissenschaftler…). Dennoch wäre es spannend, hierüber mehr zu erfahren, wie etwa in der Praxis mit dem Problem mancher interkultureller Vergleiche umgegangen wird. Beispiele gäbe es ja dutzende (“Besessenheit” versus Trance eines Mediums, Meditation versus Gebet, …).
Eine eigene Diskussion wert sind zudem die wissenschaftspolitischen Thesen, etwa dass interdisziplinäres Arbeiten ein “Karrierekiller” sei. Oder: wird der in der Religionswissenschaft zumeist praktizierte Ausschluss der metaphysischen Frage hier nicht insofern umgangen, als dass häufig im Gestus der Rede von nützlichen Illusionen eine implizite Absage an die religiösen Wirklichkeiten enthalten ist? Andersherum: macht die suggerierte evolutionäre Sinnhaftigkeit von Religion diese gar auf eine neue Weise attraktiv? Oder: könnte die scheinbare “Unfruchtbarkeit” der AtheistInnen nicht auch auf problematische politisch-rechtliche Rahmensituationen für diese Gruppe hinweisen oder gar – provokant formuliert – auf Perspektivendefizite der sozusagen “illusionlos” in die Zukunft blickenden Menschen?
Somit eröffne ich die Diskussion. Die von mir formulierten Fragen sollen dabei nur als Anregungen zu verstehen sein. Sie sind offen an das Plenum gerichtet.
Dieses Interview führte Kris Wagenseil.
Vielen Dank für die nette Interview-Idee! Und in der Tat: Einige der noch offenen Fragen wären sehr spannend gewesen – vielen Dank auch dafür! Vielleicht ergibt sich ja die Chance, das eine oder andere in der Diskussion zu vertiefen, ich stehe hier im REMID-Blog (als gerne förderndes Mitglied 🙂 ) gerne zu Diskussionen zur Verfügung.
Übrigens, wie es der Zufall oder das Schicksal so will: Just in diesen Tagen ist die erste Ausgabe der ersten, internationalen Fachzeitschrift erschienen, die sich speziell der Evolutionsforschung zu Religiosität und Religionen widmet: Religion, Brain & Behavior bei Routledge.
http://www.chronologs.de/chrono/blog/natur-des-glaubens/hirnforschung/2011-05-29/das-erste-fachjournal-f-r-die-evolutionsforschung-zur-religiosit-t-religion-brain-and-behavior
Im englischen Sprach- und Forschungsraum entwickelt sich das Forschungsfeld weiterhin sehr dynamisch.
Dr. Blume, was halten Sie von der These, dass deutsche Geistes- und Kulturwissenschaftler aufgrund der NS-Geschichte den Kontakt mit Naturwissenschaften meiden? Wer GEN sagt, steht doch in D. ganz schnell unter Nazi-Verdacht, oder?
Anmerkung der Redaktion:
Gene innerhalb der Geistes- und Kulturwissenschaften irgendetwas oder irgendwem spekulativ zuzuordnen, wäre auch nichts anderes als entsprechende Rassenideologie. Das wäre vor allem keine Wissenschaft.
REMID behält sich vor, in die Diskussion einzugreifen.
Liebe @Kasslerin,
ja, ich denke durchaus, dass die spezifische deutsche Geschichte einen Anteil an – sich langsam abschwächenden – Befürchtungen vor naturwissenschaftlichen Argumentationen hat. Wobei es solche Befürchtungen durchaus auch andernorts gab und gibt – und in den USA z.B. auch noch in den 70er Jahren auch E.O. Wilson für sein Hauptwerk “Soziobiologie” sogar tätlich von Studierenden attackiert wurde. Später gewann er dann den Pulitzerpreis für sein “On Human Nature”, in dem er zur Evolution des Menschen – übrigens einschließlich dessen Religiosität – informierend schrieb.
Meines Erachtens ist es völlig richtig, im Dialog zwischen Natur-, Kultur- und Geisteswissenschaften immer wieder sorgfältig zu reflektieren. Auch im Namen “der Natur” wurden und werden ja Menschenbilder, Geschlechter- und Familienrollen, normative Aussagen (z.B. pro- oder contra Homosexualität) u.v.m. konstruiert und die Abwertung der Frau (auch bei Darwin selbst) im Namen der frühen Evolutionsbiologie ist noch kaum aufgearbeitet. Da ist die kritisch-konstruktive Begleitung durch Kultur- und Geisteswissenschaftler sogar notwendig und es braucht übrigens z.B. auch die Kunst, um überholte Vorstellungen aufzubrechen. Im eigenen Lebenslauf hat dies z.B. Michael Ende mit seinem Jim Knopf geleistet, der auf einen Bekannten Darwins zurück geht und die NS-Rassenideologie überwindet:
http://www.chronologs.de/chrono/blog/natur-des-glaubens/fantasy/2010-06-27/jim-knopf-war-ein-reisegef-hrte-von-charles-darwin
Die (Nicht-)Debatten um Thilo Sarrazin haben m.E. gezeigt, wie gefährlich es ist, wenn Kultur- und Geisteswissenschaftler praktisch keinen Zugang mehr zum aktuellen Stand der Evolutionsforschung haben – und also entsprechendem Mißbrauch weitgehend sprach- und hilflos gegenüber stehen. Dabei war für Kundige in der Evolutionsforschung beispielsweise klar, dass dessen “eugenische” Fantasien auch empirisch und philosophisch unhaltbar sind und bereits vor Jahrzehnten überzeugend zurück gewiesen wurden – in der Öffentlichkeit und weiten Teilen der Wissenschaft aber war (und ist!) das nicht angekommen, vgl.
http://www.chronologs.de/chrono/blog/natur-des-glaubens/fa-von-hayek/2010-10-06/warum-eugenik-unm-glich-ist
Also: M.E. sollten sich Kultur- und Geisteswissenschaftler auch deswegen um Dialog und Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen der Naturwissenschaft bemühen, “WEIL” die Gefahren verkürzter Rezeptionen und ideologischen Missbrauches auch von Naturwissenschaft(en) mehr als deutlich geworden sind. Veraltete Kenntnisse oder hilflose Tabuisierungsversuche auf diesen Gebieten sollte sich eine demokratische Öffentlichkeit und eine reflektierte Wissenschaft m.E. nicht mehr leisten. Eifriges Wegschauen löst Probleme für gewöhnlich nicht.
Vielen Dank Dr Blume! Die Informationen zur Emanzipation von Frauen & antonette Brown Blackwell haben mich überrascht. Bis dahin hatte ich immer gedacht, dass die Kirchen gegen Gleichberechtigung und Wissenschaftler dafür waren! Was sagen denn Darwinisten heute zum Frauenbild ihres Heros?
Liebe @Kasslerin, gerne geschehen. Nun, reflektierte Evolutionsforscherinnen und -forscher nehmen durchaus wahr, dass auch in Rekonstruktionen der Evolutionsgeschichte bewusst und unbewusst immer weltanschauliche Vorannahmen mitschwingen. Wirklich aufgearbeitet ist dazu aber wenig – und dies wäre ja z.B. ein Feld, auf dem die interdisziplinäre Zusammenarbeit sehr wertvoll wäre. Natur-, Kultur- und Geisteswissenschaften können m.E.gemeinsam sehr viel mehr entdecken (und ggf. auch weitreichende Fehler vermeiden), als je isoliert voneinander möglich wäre.
Es sei informativ ergänzt, dass es seit 2009 eine Initiative der Cambridge University gibt (http://www.darwinproject.ac.uk/darwin-and-gender). Diese interessieren sich neben Gender im wissenschaftlichen Kontext etwa auch für Darwins Korrespondenz mit Frauen. Der dazugehörige Blog (http://darwinandgender.wordpress.com/) informiert über biographische Details (etwa das Familienunternehmen Darwin) als auch über Frauen in der Wissenschaft des 19. Jh. u.v.m.
Zudem sei auch einen Artikel in der Nature verwiesen: Darwin, Race and Gender von Steven Rose 2009 (http://www.nature.com/embor/journal/v10/n4/full/embor200940.html).
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