Religionswissenschaft im Aufwind?

Bei zunehmender Intoleranz ist in einer pluralistischen Gesellschaft eine genauere Sorgfalt bei der Auswahl von Experten in den Medien unverzichtbar – unter Einbezug empirischer Religionswissenschaft. Gerade heute braucht die Gesellschaft religionswissenschaftliche Expertise für die Anforderungen einer pluralistischen Gesellschaft. Zwar findet das diesjährige Symposium der Deutschen Vereinigung für Religionswissenschaft DVRW im September zu dem Thema „Religionswissenschaft im Aufwind. Eine Profilbestimmung angesichts steigender gesellschaftlicher Relevanz“ statt, doch ist die optimistische Perspektive noch etwas zaghaft:

„Der überkonfessionelle, nicht an religiöse oder ideologische Perspektiven und Intentionen gebundene Charakter der Religionswissenschaft wird in der Öffentlichkeit immer stärker wahrgenommen, so dass die von der Religionswissenschaft vertretene empirisch-kulturwissenschaftliche Form der Religionsforschung auch zunehmend nachgefragt ist und Wertschätzung erhält.
Religionswissenschaft ist also ganz real ‚im Aufwind‘.“

Blickt man in das Gedächtnis des Internet, finden sich noch 27.100 Ergebnisse zum deutschen Begriff „Religionswissenschaft“ aus dem Jahr 2000 bei Google.de. Da ist ein Anstieg auf 199.000 Treffer aus dem Jahr 2010 sicherlich ein Fortschritt, aber im Vergleich zu Naturwissenschaften (Biologie und Psychologie liefern 2010 jeweils „ungefähr“ 2.390.000) oder zu etwa dem Begriff „Religionen“ (ca. 2,1 Mio.) ist sie in der digitalen Welt noch nicht so präsent. Während man beim Spiegel seit 2005 19mal die Erwähnung von Religionswissenschaft findet (allerdings häufig lediglich als biographische Angabe zu einer Person, die das Fach studiert hat), findet sich der Begriff im gleichen Zeitraum bei faz.net 68mal, bei der gedruckten taz 33mal (seit 1986 66mal) und im Telepolis-Archiv 12mal (seit 1996).

Ein Problem dieser statistischen Schnappschüsse ist zudem, dass der Begriff „Religionswissenschaft“ sowohl von gesellschaftswissenschaftlichen Fakultäten verwendet wird als auch von theologischen. Das kann inhaltliche Konsequenzen haben, bis dahin, dass manche katholische Lehrstühle es schon im Namen der Disziplin, z.B. „Religions- und Missionswissenschaft“ betonen, dass sie eben gerade nicht neutral sind. Der Förderung des Dialogs sollen an der evangelischen Theologie in Frankfurt am Main sowohl die Iman-Ausbildung (islamische Theologie seit Wintersemester 2010/11) als auch z.B. der Teilstudiengang „Islamische Religionswissenschaft“ seit 2005 (Bachelor) mit türkeifinanzierten Stiftungsprofessuren dienen. Das Ergebnis dürfte wohl zwischen Fachkräfteschulung für den interreligiösen Dialog und empirischer Religionswissenschaft mit theologischem Bezug liegen, die Islamische Religionsgemeinschaft Hessen interpretierte es allerdings bereits damals als „Beitrag zur Abdeckung des Bedarfs an islamischen Theologen“. Während inhaltlich bei dieser Variante der bekenntnisorientierten Religionswissenschaft die Zahl der Weltreligionen sich gerne auf die drei monotheistischen abrahamitischen Religionen reduziert, versuchen andere evangelische Standorte Konzepte wie „interkulturelle“ oder „pluralistische Theologie“ – etwa in Basel in „reformierter Tradition“ (Religionswissenschaft hier „in Kooperation mit der Philosophisch-Historischen Fakultät“):

„Die Theologische Fakultät siedelt sich bewusst im Kontext dieser Herausforderung an. Sie begreift sich als Institution wissenschaftlicher Reflexion auf Religion. Dabei bleibt sie sich ihrer reformierten Tradition bewusst und öffnet sich zugleich für den weiteren Horizont eines kulturellen, religiösen und weltanschaulichen Pluralismus“ (ebd.).

Inwiefern allerdings tatsächlich mit oder ohne christliche Perspektive gelehrt wird, ist an den nicht explizit nichtkonfessionellen Standorten personenabhängig. Zugleich ist es an vielen evangelischen Instituten möglich, auch als atheistischer oder konfessionsloser Religionswissenschaftler eine Anstellung zu finden. Und manche Einzelpersonen vermitteln auch auf gesellschaftswissenschaftlichen Lehrstühlen persönliche religionsproduktive Ideen; heutige Religionen von Religionswissenschaftlern (vgl. den Begriff der “religionswissenschaftlichen Religiosität”, den Hiroshi Kubota an Jakob Wilhelm Hauer im Kontext des Freien Protestantismus entwickelte) verstecken sich oft hinter essenzialistischen Begriffen, entgrenzten Metatheorien (und Meta-Religionskonzepten). Daher profilieren sich manche Institute betont in soziologische Richtung (um möglichst Exaktheit zu suggerieren), während andere sich hin zu der Praxis des Dialogs und oft letztlich damit hin zur Theologie öffnen.

Von insgesamt dreißig Instituten oder Seminaren listet die DVRW fünfzehn an philologischen oder kultur- bzw. gesellschaftswissenschaftlichen Fakultäten im deutschsprachigen Raum auf. An katholisch-theologischen Fakultäten werden nur Wien und Graz aufgeführt, bis auf die Humboldt-Universität Berlin fehlen die missionswissenschaftlich ausgerichteten Religionswissenschafts-Standorte auf der Liste. Während auf der einen Seite ein starkes Bestreben nach Abgrenzung von der Theologie besteht, ist die Geschichte der allmählichen Wandlung des Faches im Laufe des zurückliegenden 20. Jahrhunderts weg von religionsphänomenologischen Wesensschauen einer universalen Religion im Singular (zumeist aus protestantischer Provenienz) hin zu empirischer Sozialforschung und historisch-kritischer philologischer Analyse noch hin und wieder spürbar.

International ist zudem die versiert konfessionslose Religionswissenschaft eher ein Sonderfall, der insbesondere in Deutschland, der Schweiz, den skandinavischen Länder sowie teilweise England, an manchen Universitäten der USA, den Niederlanden, in Israel, der Tschechei, Irland und vielleicht in Ungarn, China und Japan begegnet (sofern dieser Umstand auf den Internetseiten der Institute auszumachen ist). Die überhaupt außerhalb von Deutschland, Skandinavien, Amerika, England und der Schweiz nicht sehr weit gesäte Religionswissenschaft pendelt in englischer Sprache daher auch zwischen „study of religions“ und „religious studies“, was manchmal auch inhaltlich einen Unterschied ums Ganze bedeuten kann. Andere Länder wie z.B. Frankreich überlassen das Gebiet gänzlich der Religionssoziologie, was aber auch bedeutet, dass es in Frankreich etwa so gut wie keine Forschung zu neuen religiösen Bewegungen gibt.

Die Öffentlichkeit wiederum – und häufig auch die Medien – haben in den Debatten, seien es die „Sekten“ genannten Neuen Religiösen Bewegungen oder die Integration des Islam, kaum zwischen Religionswissenschaftlern, Sekten- und Weltanschauungsbeauftragten der Kirchen, Islamwissenschaftlern und anderen Experten unterschieden. Es ist oft beinahe zufällig, ob sie etwa beim Religionswissenschaftlichen Medien- und Informationsdienst REMID e.V. nachfragen oder ob sie eine Adresse mit christlicher oder gar antipluralistischer Perspektive wählen. Schließlich findet man gerade bei den beiden genannten Beispielthemen zusätzlich das Feld weiterer Akteure, im einen Fall aus Wissenschaftlichkeitsmotiven handelnde Skeptiker, daneben Aussteiger- sowie Selbsthilfegruppen, antipluralistisch ausgerichtete Vereine, im anderen Fall z.B. Dialogvereine, rechte Islam“kritiker“ und Ex-Muslime. Oft besteht allerdings auch der Verdacht, dass ein „Experte“ mit einer entsprechend ablehnenden Haltung bevorzugt befragt wird.

Dabei sollte im 21. Jahrhundert Europa nicht mehr länger eine betont antipluralistische Haltung pflegen, die überhaupt einen religionsgeschichtlichen Sonderfall darstellt, sei sie religionskritisch oder religiös begründet.

Die interne – noch papierne – Statistik des erwähnten Vereines REMID e.V. (seit 1989) der Anfragen zeigt einen allgemeinen Rückgang der Fragen um neue Religionen und „Esoterik“ (mit einem möglichen Höhepunkt um 1998). Die stattdessen häufigeren Anfragen zum Islam waren oft entweder praktischer Natur (Feiertage, internationale Hotels mit halal-Küche), im Rahmen von Integrationsprogrammen, Schul- oder Dialogprojekten, referats- bzw. fachbezogen von Schülern, Azubis, Studenten, Promovenden aller möglichen Fachrichtungen oder nur an den von Medien suggerierten Gefahrenpotenzialen interessiert (Kopftuch, Konvertiten, Moscheebau). In anderen Worten ein gesteigertes neutrales Interesse am Islam, welches sich durch entsprechendes Nachfragen zeige, kann nicht bestätigt werden, wohl aber der vermehrte Einbezug des Islam in Schulungsbereichen.

1998 konnte auch durch die Mitwirkung der Religionswissenschaftler Prof. Dr. Hubert Seiwert (Leipzig) und Hartmut Zinser (FU Berlin) in der Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ (Drucksache 1310950) die Debatte um Neue Religionen und religiöse Bewegungen beruhigt werden. Auch wurde empfohlen, auf eine weitere Verwendung des Begriffes „Sekte“ zu verzichten (Punkt 6.2.12, S. 154).

In der Frage nach einem konfessionsübergreifenden, von Religionswissenschaftlern gestalteten Religionsunterricht statt dem zweigliedrigen System aus konfessionsgebundenem RU oder philosophischer Ethik steht Deutschland hinter dem nördlichen Europa zurück (vgl. Wanda Alberts, „Integrative Religious Education in Europe. A Study-of-Religions Approach.“, Berlin 2007); stattdessen gibt es einzelne Projekte jüdischen, alevitischen oder muslimischen Religionsunterrichts als Ergänzung des konfessionalen Systems. In diesen Kontext gehört auch die Ausbildung islamischer Theologen. Das Konzept einer neutralen Religions- und Weltanschauungskunde taucht in der öffentlichen Debatte dagegen kaum auf.

Insgesamt ist die Religionswissenschaft zwar durchaus bekannter geworden (letztlich medienstark auch – nicht notwendig zum eigenen Vorteil – durch neue Prominenz im Mystery-Genre dank zunächst Akte X und später Dan Brown), im Unterschied zur Situation vor zehn Jahren begegnet man heutzutage bei religiösen Themen im Internet schnell religionswissenschaftlichen Beiträgen. Das übliche Spiel “Nein, ich studiere nicht Theologie, bei Religionswissenschaft geht es darum…” ist in vielen Bereichen nicht mehr notwendig (aber gilt weiterhin für andere). Andererseits muss das noch nicht bedeuten, es bestünde Klarheit über das, was Religionswissenschaft ausmacht. Es gibt noch viel zu tun!

Kris Wagenseil