Religionsfreiheit gehört zu unseren Grundrechten. Diese hören in einem Rechtsstaat auch nicht hinter Gefängnisgittern auf. Doch wie sieht es eigentlich aus mit der Wahrung und Inanspruchnahme dieses Rechts in Deutschland? Sarah Jahn forscht in ihrem aktuellen Dissertationsprojekt zu “Religion und Strafvollzug in der Bundesrepublik Deutschland”.
Wie religiös sind denn unsere Häftlinge in Deutschland?
Die Frage nach der Religiosität von Häftlingen lässt sich nicht eindeutig beantworten. Wenn Sie damit die institutionalisierte Religionszugehörigkeit von Insassen meinen, kann ich aufgrund fehlender zuverlässiger Zahlen keine Antwort geben. Wenn Sie aber nach der individuellen Religiosität fragen, kann die Frage nicht nur bezüglich der offiziellen Mitgliedschaft verstanden werden, sondern wie religiös sich die Häftlinge selbst beschreiben. Im Rahmen meiner Forschung werden Religiosität gemeinhin weniger negative und destruktive Eigenschaften zugeschrieben als positive. Demgegenüber höre ich von Außenstehenden oft, dass es im Gefängnis sicher keine Religiosität gäbe, da dort ja nur „böse“ Menschen sitzen würden. Diese plakative Annahme kann so nicht stehen gelassen werden. Noch gibt es keine zuverlässigen Studien darüber, wie gläubig oder ungläubig Straftäter mehrheitlich sind.
Generell gibt es viele unterschiedliche religiöse Praxen in den Anstalten. Hier ist sowohl die institutionalisierte Praxis der Gefängnisseelsorge zu nennen, die vor allem Gottesdienste und Einzelseelsorge anbietet, als auch unterschiedliche individuelle Praxen. In Rahmen meiner Erhebungen bin ich immer wieder erstaunt wie vielfältig diese sein können. Von christlich-traditionellen Formen der religiösen Praxis, über Yoga bis hin zu Engelglauben ist alles vertreten. Genauso sieht es bei der Ausprägung aus. Hier gibt es von Interessierten über sporadische Praktiker bis hin zu Enthusiasten alle Varianzen. Der Strafvollzug ist ein Teil der Gesellschaft und bildet demnach auch die Vielfältigkeit von Religiosität ab, die seit einigen Jahren auch der deutschen Gesellschaft zugeschrieben wird. Die Frage, welche spezielle Motivation hinter jeder einzelnen Religiosität steckt, kann dabei jedoch nicht beantwortet werden.
Wieso gibt es denn keine zuverlässigen Zahlen zur Religiosität von Häftlingen?
In Deutschland gibt es wegen dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung kaum größere Mengen an Daten bezüglich der Religionszugehörigkeit von Insassen. Braucht man eine solche Angabe, muss man diese selbst erheben. Das wäre ein kosten- und zeitaufwendiges Verfahren.
Wie sieht es aus mit Seelsorge im Strafvollzug?
Die so genannte Gefängnisseelsorge ist eine spezielle Form der Seelsorge wie sie in allen öffentlichen Anstalten (Krankenhaus, Militär, Polizei, Gefängnis etc.) stattfindet. Seelsorge wird heute als Glaubens- und Lebenshilfe verstanden. Neben der religiösen Begleitung durch einen Experten, gilt es vor allem, die Religion zu praktizieren. Die jeweilige Praxis hängt dabei von dem Stand des Seelsorgers ab, da heute nicht nur Priester und Pfarrer, sondern auch Diakone und Pastoralreferenten als Gefängnisseelsorger tätig sind. So sind beispielsweise nur Priester und Pfarrer kirchenrechtlich befugt die Sakramente wie das Abendmahl (evangelisch und katholisch) sowie die Eucharistie und Beichte (katholisch) zu spenden.
Es muss beachtet werden, dass die Gefängnisseelsorge eine spezifisch christliche Form der Begleitung ist, die es in anderen Religionen so nicht gibt. Sie ist historisch in der europäischen Geschichte verhaftet und mit ihr gewachsen.
Die rechtliche Stellung der Gefängnisseelsorge spiegelt beispielhaft das enge Verhältnis wieder. Die Gefängnisseelsorge ist im Grundgesetz durch Art. 4, dem Strafvollzugsgesetz bzw. den Strafvollzugsgesetzen der Länder mit den dazugehörigen Verwaltungsvorschriften sowie in den Kirchenverträgen und Konkordaten, die zwischen Kirchen und Ländern abgeschlossen worden, fest verankert und geregelt. Gesetze und Vorschriften geben den allgemeinen Rahmen vor, die jeweilige Umsetzung in den Anstalten ist jedoch individuell und von den strukturellen Gegebenheiten der Anstalt (Zuständigkeit, Größe, Personal etc.) abhängig.
Neben der fest institutionalisierten katholischen und evangelischen Gefängnisseelsorge gibt es auch andere Formen der religiösen und seelsorgerlichen Begleitung. Diese Formen der Seelsorge oder Begleitung betreffen neben Vereinen der christlichen Straffälligenhilfe vor allem Religionen, die weder Körperschaft des öffentlichen Rechts noch Religionsgemeinschaften im juristischen Sinn sind (bspw. muslimische Gemeinschaften). Auch betrifft es Religionen, die zwar als Körperschaft oder Religionsgemeinschaft eingetragen sind, aber keine entsprechenden Vereinbarungen auf föderaler Ebene haben (bspw. jüdische Verbände). Ein aktuelles Thema in verschiedenen Bundesländern ist die Betreuung von muslimischen Insassen. Nach dem Bundesamt für Statistik leben derzeit 3,8–4,3 Millionen Muslime in Deutschland [vgl. auch die REMID-Statistik; Anm. C.W.]. Damit ist der Islam die drittgrößte Religion in der Bundesrepublik. Das spiegelt sich auch in den Justizvollzugsanstalten wider. Jedoch gibt es bislang kein Äquivalent zur christlichen Seelsorge sowie ein etabliertes Konzept muslimische Insassen professionell betreuen zu lassen. Einige Bundesländer arbeiten derzeit daran.
Der Rat der islamischen Gemeinschaften in Hamburg e.V. (Schura) hat beispielsweise zum Thema Gefängnisseelsorge einen Ausschuss eingerichtet (man vergleiche auch die Webseiten der evangelischen und kath. Konferenzen für Gefängnisseelsorge).
Das Thema Religion im Strafvollzug ist ja in der Öffentlichkeit weniger bekannt. Woran könnte das liegen?
Ihre Einschätzung kann ich nur bestätigen. Religion und Strafvollzug ist in der Öffentlichkeit kaum ein Thema. Dafür gibt es meines Erachtens mehrere Ursachen: Religion ist zwar zunehmend in den Medien präsent, Strafvollzug ist jedoch ein anrüchiges, beinahe ein Tabuthema. Öffentliches Interesse gibt es für bestimmte Formen des Vollzuges wie dem Jugendstrafvollzug und dem Vollzug von Freiheitsstrafen im Alter – sowie für bestimmte Deliktarten wie Sexualdelikte, besonders schwere Gewaltdelikte und Wirtschaftsdelikte. Mit Religion haben diese Interessenfelder jedoch weniger zu tun. Eine Ausnahme bildet seit dem 11. September das Interesse an der so genannten religiösen Fundamentalisierung von Insassen während der Haftzeit.
Was wären mögliche Forschungsfelder?
Zum einen ist die Frage zu stellen, in welchem Verhältnis Religion und Strafvollzug stehen. Dieses Verhältnis kann zumindest für die Bundesrepublik Deutschland vor allem aus rechtlicher Perspektive beschrieben werden, indem man sich Artikel 4 des Grundgesetzes anschaut, der u.a. die Religionsfreiheit regelt. Interessant wird es, wenn man weiterhin betrachtet, wie dieser rechtliche Rahmen in einzelnen Anstalten umgesetzt wird, wo es Grenzen und Möglichkeiten der Gestaltung gibt. Neben der rechtlichen Perspektive kann nach dem Einfluss von Religion auf Kriminalität gefragt werden und, inwiefern Religion kriminalpräventive Wirkung entfalten kann. Im Kontext des Strafvollzugs ließe sich dies ausbauen, indem geschaut wird, ob Religiosität hilft mit der konkreten Haftsituation umzugehen oder ob Menschen in dieser Situation vermehrt zu Religion finden bzw. sich von ihr abkehren. Neben dieser gegenwartsorientierten Forschung ist eine historische Beschäftigung mit dem Thema gleichsam interessant. Religion bzw. religiöse Trägergruppen und Inhalte sind ein wichtiger Bestandteil der Entwicklung des Resozialisierungsgedankens und der Geschichte des Strafvollzugs.
Was ist Ihre Fragestellung bzw. Perspektive auf das Thema?
Ich arbeite zum Verhältnis von Religion und Recht in der Bundesrepublik Deutschland anhand der staatlichen Institution Strafvollzug. Vor allem beschäftigt mich der Einfluss von Recht auf Religion im Strafvollzug. Hier untersuche ich, inwiefern der rechtlich gegebene Rahmen unter den institutionellen und sozialen Bedingungen im Strafvollzug umgesetzt werden kann und umgesetzt wird. Forschungspragmatisch konzentriere ich mich dabei auf den Erwachsenenstrafvollzug, speziell den Strafvollzug für Männer, der im Vollstreckungsplan lange Haftstrafen vorsieht.
Die Arbeit ist als eine Kontextanalyse angelegt, die sowohl Makro-, Meso- und Mikroperspektive bedient. Es werden Erkenntnisse auf der allgemeinen Ebene (Religion und Recht in Deutschland), der speziellen Ebene (Religion und Recht im bundesdeutschen Strafvollzug) und der individuellen Ebene (Umgang mit Religion im Strafvollzug) angestrebt. Das Herzstück meiner Arbeit ist die individuelle Ebene, in dem ich in den Anstalten vor Ort forsche. Im Rahmen meiner Feldstudien untersuche ich unterschiedliche Anstalten in der Bundesrepublik Deutschland. Ich bin eine Woche vor Ort, lasse mir die Anstalt zeigen und erklären und führe Interviews sowohl mit dem Anstaltspersonal als auch mit den Insassen durch.
Danke für das Interview.
Das Interview führte Kris Wagenseil.
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