Bildungsarbeit mit der “Erfahrung des Krisenhaften, des Unvollständigen, des (noch) Unerklärlichen”

Bisher wurden für den REMID-Blog hauptsächlich ReligionswissenschaftlerInnen und Vertreter von akademischen Nachbardisziplinen interviewt. Für die Zukunft sind zusätzlich Interviews mit VertreterInnen aus den Religionsgemeinschaften zu speziellen Fragen geplant sowie – und damit soll heute begonnen werden – mit Vereinen, Organisationen, Gruppen wie Einzelpersonen, die im Umfeld der Religionen agieren, mit Religionen oder Religiösem / Spirituellem arbeiten, sei es aus den Bereichen Integration, Dialog, besondere Dienstleistungen, Journalismus, Bildung, Politik oder Kunst. Um letztere geht es bei Alexander Graeff und dem von ihm und anderen ins Leben gerufenen Verein: Kunstpädagogik, Lebensreform, Avantgarde und Okkultismus. REMID interviewte den freien Schriftsteller, Dozenten und Herausgeber über das die Künstlergruppe prägende Konzept okkulter Kunst zwischen Hermetik und Surrealismus.

Vor ungefähr zehn Jahren haben Sie eine Vereinigung ins Leben gerufen, die sich okkulter Kunst widmet. Was verstehen Sie darunter?

Vor exakt 10 Jahren, um genau zu sein.
Unter okkulter Kunst verstehe ich eine Position, die sich künstlerisch und kunstphilosophisch dem Verborgenen von Welt und Selbst explizit widmet. Wichtig ist mir, dass diese Position eine praktische und theoretische Dimension erhält. Ich verstehe das Praxisfeld »Kunst« auch als eine Kunstphilosophie, die keine ihrer Inspirationsquellen ausschliessen darf. Inspirationsquellen okkulter Kunst wären zum Beispiel Weisheitslehren, Religionen und spirituelle Systeme, weil diese oft auch das Verborgene explizit zum Thema haben. Als systematische, nicht zwingend als historische Schablone ziehe ich den Begriff »Okkultismus« als Substratkategorie für diese, die Kunst inspirierenden Quellen vor. Ich möchte betonen, dass ich diesen Okkultismus wirklich nur als inspirierend betrachte, er ist meines Erachtens weder bestimmend, noch notwendig für okkulte Kunst.

Nun ist das ja nicht unbedingt der einzig mögliche Begriff von Okkultem, Okkultismus….?

Sicher. Man könnte auch vom Numinosen sprechen. »Okkult« ist meiner Meinung nach aber ein passender Begriff, um das auszudrücken, worum es bei dieser Art der Kunst und ihrer Auffassung geht: um die Auseinandersetzung mit dem Verborgenen, dem Marginalen, dem Unsichtbaren, dem Inoffiziellen, dem Versteckten usw. Die Kunst und Literatur handelt unterschwellig ja sowieso immer von diesen Themenfeldern, okkulte Kunst und Literatur hingegen thematisieren diese Tatsache und führen, wenn man so will, eine zusätzliche Ebene ein, eine Metaebene. Okkulte Kunst polarisiert. Das meine ich mit »explizit«. Diese Metaebene führt möglicherweise zu einer erkenntnisstiftenden Darstellung des Okkulten, um aufzudecken, zu entschleiern – aber möglicherweise auch, um zu lernen, einen gewissen »okkulten Rest« zu akzeptieren.

Ich begreife Okkultismus als Denkfigur, weil er die Literatur und Kunst zu einer gewissen Systematik, die in zahlreichen Poetiken und Ästhetiken sichtbar wird, inspirieren kann. Die Geschichte der modernen Kunst ist voll von Künstlern und Künstlerinnen, deren Kunst ohne diese systematische Denkweise des Okkulten nicht auskommt (man vergleiche den Austellungskatalog Okkultismus und Avantgarde. Von Munch bis Mondrian, 1900-1915, herausgegeben von der Schirn-Kunsthalle Frankfurt 1995).

Würden Sie die Arbeit in Ihrem inzwischen eingetragenen und als gemeinnützig anerkannten Verein überhaupt als “religiös” oder “spirituell” bezeichnen?

Überhaupt nicht. Ich begreife unseren Verein als ein Projekt der Kulturarbeit. Sicher spielen spirituelle Traditionen und religiöse Überlegungen keine unbedeutende Rolle, wenn wir aber als Verein Identität über Religion oder Spiritualität gewinnen wollten – was bei einer Bezeichnung mit diesen Attributen ja der Fall ist –, wäre die aus diesen Quellen resultierende Kunst keine freie, keine unabhängige Kunst. Sie wäre zweckbestimmt. Es geht also in erster Linie um Kunst.

Was bedeutet das für die Kunst der Mitglieder Ihres Vereins?

Das kann ich im Einzelfall gar nicht mit voller Bestimmtheit sagen. Okkulte Kunst ist sicher ein Angebot, eine Denkweise und auch Kreativmethode, sie ist jedoch kein inhaltlich vorbestimmtes und vorbestimmendes Konzept. Sie ist formal. Im Verein begreifen wir sie als Diskursfeld, in das sich – bei Akzeptanz des formalen Angebots – alle möglichen Positionen und auch Künste einbringen können.

Es gibt kein einheitliches Konzept, keinen ideologischen Überbau oder ähnliches. Wir liebäugeln zwar mit den Avantgardebewegungen der klassischen Moderne, doch tun wir dies sicher nicht aufgrund ihrer mitunter dogmatischen Art und Weise. Die Kunst unserer Mitglieder ist folglich sehr unterschiedlich.

Eins haben vielleicht alle Aktivitäten im Vereinskontext gemein: einen gewissen Hang zur Selbstfühlung inklusive der Akzeptanz eines wie auch immer gearteten Okkulten und den Versuch, dieses Denken auf Werkebene zu exemplifizieren. Das ist alles, und doch viel, denn ich bin immer wieder erstaunt über die Toleranz bei der schier unübersichtlichen Diversität unserer Mitglieder.

2005, Sebastian Gräff. Acryl auf Leinwand, 30 x 40 cm

Gemälde eines Mitglieds des Künstlervereins: Der Fall in die Welt, Sebastian Gräff 2005. Acryl auf Leinwand, 30 x 40 cm

Wie steht ihr zu anderen Gruppen, die sich dem Okkulten widmen? Die meisten anderen verstehen sich ja nicht hauptsächlich als künstlerisch…

Dadurch, dass wir uns mehr oder minder intensiv mit gewissen Inspirationsquellen auseinandersetzen, haben wir auch Berührung mit mancher religiösen Strömung oder spirituellen Schule. Von Zeit zu Zeit haben wir dann auch Kontakt zu diesen Gemeinschaften oder Gruppen. Bisher haben wir nur gute Erfahrungen gemacht. In der Vergangenheit kooperierten wir mit Thelemiten ebenso wie mit Anthroposophen oder evangelischen Jugendzentren.

Sie selbst sind ja auch im Bereich der Kunstpädagogik aktiv. Bitte erläutern Sie doch kurz Ihre Forschungsinteressen. Wie verstehen Sie aus dieser akademischen Perspektive die Tätigkeit ihres Vereins?

Meine Lehrtätigkeit im Feld der Ästhetik befasst sich in erster Linie mit den Grundlagen, mit einem ästhetischen Denken, welches in einer bestimmten Systematik besteht, um durch den kognitiven Halt, der durch dieses Denken erreicht werden soll, das kreative Chaos, die Vielgestaltigkeit der Kunst erfahrbar machen kann, damit die angehenden Kreativen, die ich unterrichte, sich am Ende in der Welt (der Kunst) zurecht finden können, ihre Geschichte ebenso kennengelernt haben wie auch zu neuen Positionen und zu Kritik befähigt wurden. Pädagogik und Kunst sind beides Praxen, die mit dem Okkulten in besonderem Maße operieren. Ich sehe da mehrere Verbindungslinien. Ein Beispiel: Lernen kommt ohne die Erfahrung des Krisenhaften, des Unvollständigen, des (noch) Unerklärlichen nicht aus. Kern aller Bildung ist, mit einem im Wissen und Können noch nicht vollzogenen Etwas umgehen zu lernen. Bildungsarbeit ist in systematischer Hinsicht also okkulte Arbeit.

Sie feiern dieses Jahr ja auch das erwähnte Jubiläum. Was ist denn alles geplant?

Wir haben uns gegen eine große zentrale Jubiläumsfeier entschieden. Da unsere Mitglieder und Interessenten über ganz Deutschland verteilt leben, wird es 2011 einige Events in unterschiedlichen Städten geben. Der Vorstand arbeitet fleissig an den Jubiläumsveranstaltungen.

Am 23. September 2011 gibt es einen Abend des okkulten Films mit Christoph-Philipp Schneider in Berlin; am 23. Oktober 2011 in Worms einen Vortrag von mir über 10 Jahre okkulte Kunst mit anschließender Podiumsdiskussion mit dem Künstler und Mitarbeiter der Joseph-Campbell-Foundation Martin Weyers, dem Kurator des Nibelungen-Museums Dr. Olaf Mückain und dem Psychoanalytiker Dr. Werner Zintl.

Ich danke für das Interview.

Das Interview führte Kris Wagenseil.