2010 ‚feierte’ die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), das internationale Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge den 60. Geburtstag. Die vom Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) veröffentlichten Weltflüchtlingszahlen 2010 belegen, dass dieses Abkommen auch heute noch notwendig ist, den internationalen Flüchtlingsschutz sicherzustellen. Mit insgesamt 43,7 Millionen Flüchtlingen – das entspricht der Bevölkerungszahl von Skandinavien und Sri Lanka zusammengenommen – stellte 2010 einen neuen Rekord auf. Seit 15 Jahren waren nie mehr Menschen auf der Flucht. Mehr als die Hälfte von ihnen – 27,5 Millionen Menschen – waren innerhalb ihres Heimatlandes auf der Flucht. Von denen, die ihr Land verlassen konnten / mussten fanden 4/5 Zuflucht in den unmittelbaren Nachbarländern.
Anlässlich diese traurigen Rekords sprach REMID mit Rita Schillings, Geschäftsführerin des Flüchtlingsrates Leverkusen, über ihre Erfahrungen mit ‚religiösen’ Fluchtgründen in ihrer Beratungstätigkeit.
Nach der GFK wird ein Flüchtling als Person definiert, die sich aufgrund einer begründeten Furcht vor Verfolgung wegen, der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Überzeugung außerhalb ihres Heimatlandes befindet. Ist diese Definition noch zeitgemäß? Wer wird im 21. Jahrhundert zum Flüchtling?
Die Fluchtursachen haben sich seit Beginn der Aufzeichnungen nicht geändert. Nach wie vor fliehen Menschen aus ihrer Heimat, weil sie dort aus den o.g. Gründen verfolgt werden. Allerdings sind Menschen auch immer schon aus anderen Gründen, z.B. aufgrund von Naturkatastrophen geflohen. Flucht aus ökologischen Gründen wird in der GFK nicht als schutzwürdig anerkannt, gewinnt aber zunehmend an Bedeutung. Die Folgen des Klimawandels z. B. aktuell am Horn von Afrika, wo in zwei Jahren hintereinander der Regen ausblieb, um sich dann, Monate später sintflutartig über das Land auszubreiten, zerstören die Lebensgrundlage der gesamten Bevölkerung. Da hierdurch nicht eine bestimmte soziale Gruppe, Rasse oder Religion betroffen ist, kann nach der GFK auch nirgendwo der Flüchtlingsschutz beantragt werden. Erst wenn der Klimawandel, die ökologische Zerstörung in den jeweiligen Herkunftsländern zu Verteilungskriegen z.B. um den Zugang zu Wasser führt und dann eine bestimmte Gruppe davon ausgeschlossen wird, kann die GFK eine Schutzwirkung entfalten. Bereits in 2008 bezifferte Ban Ki-moon, Generalssekretär der Vereinten Nationen, ca. 20 Mio. Umweltflüchtlinge, die dauerhaft ihre Heimat verlassen mussten. Die Internationale Organisation für Migration prognostiziert, dass bis 2050 mehr als 200 Mio. Menschen umwelt- und klimabedingt fliehen werden müssen. Es besteht also dringender Handlungsbedarf, denn bisher gibt es keine adäquaten Schutzmechanismen für diese Flüchtlinge.

Aus der Broschüre “Aktuelle Zahlen zum Asyl” (August 2011) des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF).
Spielt die religiöse Verfolgung heute überhaupt noch eine Rolle in den Asylverfahren?
Der Glaube oder auch der Unglaube, die damit verbundenen Traditionen und Verhaltenskodizes spielen leider auch heute noch – weltweit – eine sehr große Rolle bei Vertreibung und Flucht. Die Vertreibung und Flucht führt in aller Regel zunächst in die unmittelbaren Nachbarregionen und Staaten. Dort sitzen sie mitunter jahrelang in einer ausweglosen Situation fest. Es gibt kein Vor und kein Zurück. Wer kann, flüchtet weiter. Dies sind – obwohl die meisten Flüchtlinge Frauen und Kinder sind – in der Regel junge Männer, denn nur wer stark genug ist, die Strapazen einer Flucht zu überstehen, schafft es bis in die Bundesrepublik, um hier in einem Asylverfahren vielleicht als Flüchtling anerkannt zu werden. Auch bei den wenigen, die in der Bundesrepublik ankommen und einen Asylantrag stellen, wird der Fluchtgrund „Glaube / Unglaube“ häufig genannt.
Sie sprechen von Glaube, Unglaube, Tradition und Verhaltenskodex. Was ist denn ‚religiöse Verfolgung’?
In den Beratungsgesprächen und den Protokollen zu den Asylanhörungen werden ganz unterschiedliche Facetten ‚religiöser Verfolgung’ beschrieben, die eine Einordnung des Fluchtgrundes als religiöse Verfolgung nicht immer einfach machen. Am eindeutigsten kann von einer ‚religiösen Verfolgung’ gesprochen werden, wenn die Herkunftsländer keine Trennung von Religion und Staat kennen und/oder eine Staatsreligion vorgegeben ist. Dies ist z.B. bei Ländern wie dem Iran der Fall. Dort ist der religiöse Führer zugleich das Staatsoberhaupt. Auch die Rechtsprechung orientiert sich an den schiitischen Glaubensgrundsätzen. So wird Fehlverhalten z.B. Homosexualität mit dem Tod bestraft und untreue Ehefrauen werden öffentlich gesteinigt. Auch die Religionsausübung anderer Glaubensgemeinschaften ist stark eingeschränkt und ein öffentliches Bekenntnis zu einem anderen Glauben impliziert immer die Gefahr, einer Verurteilung zum Tode wegen der Abkehr vom Islam. Dies führte und führt insbesondere zu einer systematischen Verfolgung der Bahai, aber auch andere Glaubensgruppen wie Christen und Juden waren und sind davon betroffen.
Wir kennen aber auch den umgekehrten Fall, z.B. Aserbaidschan: 2009 wurde von der aserbaidschanischen Regierung allen Religionsgemeinschaften eine Zulassungs- bzw. Neuzulassungsfrist gesetzt. Diese ist 2010 abgelaufen, so dass gegenwärtig alle Tätigkeiten von Glaubensgemeinschaften ohne rechtlichen Status – z. B. Treffen zu Predigt- oder Gebetstunden – illegal sind und diese Gebetsstunden polizeilich beendet werden. Derzeit warten mindestens 300 Religionsgemeinschaften darauf, ihren Rechtsstatus (wieder)zuerlangen.
In diesen Fällen geht die religiöse Verfolgung vom Staat aus, ist das der Regelfall?
Religiöse Verfolgung kann von vielen Akteuren ausgehen. Einerseits gibt es die eben erwähnte rechtliche, d.h. staatliche Verfolgung, anderseits gibt es auch Verfolgung durch sog. nichtstaatliche Akteure. Dies können z.B. andere Religionsgruppen sein. In 2008 gab es z.B. im indischen Bundesstaat Orissa eine massive Verfolgung von Christen. Diese wurde – laut Presseberichten – von radikalen hinduistischen Parteien organisiert und durchgeführt, die im Sinne der Ideologie von „Hindutva“ arbeiten und die in Indien einen Hindustaat unter Ausschluss anderer Religionen durchsetzen wollen.
Sie haben jetzt Beispiele religiöser Verfolgung genannt, die vom Staat oder von anderen Glaubensgemeinschaften ausgehen. Wird in ihrer Beratungspraxis denn auch eine Verfolgung durch die eigene Glaubensgemeinschaft thematisiert?
Das Beispiel Iran ist ja auch schon ein Beispiel für eine Verfolgung durch die eigene Glaubensgruppe. Neben der offiziellen iranischen Rechtsprechung, die Untreue und Homosexualität – ein Verstoß gegen die Glaubensgrundsätze – mit dem Tode bestraft, findet in diesen Fällen durchaus auch eine Verfolgung durch die eigene Familie oder das unmittelbare Umfeld statt und macht die Betroffenen besonders schutzlos. Denn gerade die Familie und das engere Umfeld können bei einer Verfolgung durch den Staat oder andere Glaubensgruppen einen gewissen Schutz vor Verfolgung darstellen. Gerade dann, wenn der Schutz durch die eigene Familie oder Glaubensgemeinschaft versagt wird, ist eine Flucht ins weiter entfernte Ausland oft unumgänglich. Aber nicht nur aus dem Iran oder aus muslimisch geprägten Gsellschaften wird die Verfolgung von „Fehlverhalten“ und „Abkehr von den Glaubensgrundsätzen“ thematisiert. Human Rights Watch berichtet, dass in den indischen Bundesstaaten Haryana, Punjab und Uttar Pradesh jährlich 900 Menschen durch sog. „Ehrenmorde“ getötet werden. Die Todesurteile werden durch ‚khap panchayats’ (inoffizielle Dorfräte) gegen Paare ausgesprochen, die unterschiedlichen Kasten oder Religionsgemeinschaften angehören oder innherhalb ihres Klans (gotra) heiraten. Strenge Heiratsregelungen gibt es z.B. auch bei Yeziden, einer ursprünglich in kurdischen Siedlungsgebieten beheimateten, monotheistischen und mündlich weitergegebenen Religion. Yezidi wird man durch Geburt und eine Konvertierung ist daher ausgeschlossen. Aus der mündlichen Überlieferung resultieren unterschiedliche Inhalte des Glaubens und eine ebenso vielfältige Praxis der Religionsausübung. Traditionell wurde ein Verstoß gegen die Heiratsregelungen mit dem Tod bestraft. Yeziden, die in der Diaspora leben, sprechen sich gegen die Todesstrafe aus und befürworten stattdessen nur einen Ausschluss aus dem Yezidentum. Ob dies aber auch in den jeweiligen Herkunftsländern Allgemeingültigkeit erlangt hat oder in der eigenen Familie und unmittelbaren Umgebung so gesehen wird, ist mehr als fraglich.
Wie wird denn im Asylverfahren festgestellt, dass eine Verfolgung durch die eigene Glaubensgemeinschaft vorliegt?
In jedem Asylverfahren kommt es grundsätzlich auf die Würdigung der gesamten Umstände im Einzelfall an. In erster Linie obliegt es dem Flüchtling diese Umstände dem Bundesamt bzw. nachfolgend dem Verwaltungsgericht darzulegen. Hierbei kommt es wesentlich darauf an, dass der Flüchtling die Fluchtgründe ausführlich und nachvollziehbar darstellt. Natürlich wird eine Beurteilung des geschilderten Sachverhaltes erleichtert, wenn die „religiöse Verfolgung“ vom Staat ausgeht, d.h. in den Gesetzen verankert ist und in der jeweiligen „Rechtsprechung“ umgesetzt wird. Aber auch in diesen Fällen wird nur das „religiöse Existenzminimum“ geschützt. In all den Fällen, in denen die Bedrohung und Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure erfolgt, muss überprüft werden, ob der Herkunftsstaat in der Lage ist, bei dem geschilderten Sachverhalt wirksamen Schutz zu bieten.
Religiöses Existenzminimum?
Religiöse Fluchtmotive werden in Deutschland nur anerkannt, wenn das “religiöse Existenzminimum” im Herkunftsland gefährdet ist. Das religiöse Existenzminimum teilt die, durch die Europäische Menschenrechtskonvention geschützte, Glaubens- und Gewissensfreiheit in einen privaten und einen öffentlichen Teil auf. Hierbei stellt nur der private Bereich des Glaubens das Existenzminimum dar. Beispiel Iran: Hier geht die deutsche Rechtssprechung davon aus, dass Christen im Iran ihren christlichen Glauben im Privaten – wenn auch unter konspirativen Vorkehrungen – leben können. Würde also ein „christlicher“ Flüchtling aus dem Iran kommen und hier Asyl wegen seines christlichen Glaubens beantragen, würde dieser Asylgrund für sich genommen nicht anerkannt werden. Ein in Deutschland zum Christentum konvertierter Flüchtling würde jedoch anerkannt werden, da er bei der Rückkehr in den Iran, keinen Zugang in die konspirativen Kreise der Christen erlangen kann.
Bei der angesprochenen Vielfalt der religiös motivierten Flucht, drängt sich die Frage nach den Chancen der Anerkennung auf.
Leider ist das deutsche Asylrecht von sehr vielen formalen Aspekten dominiert. Damit meine ich, dass nicht so sehr das persönliche Verfolgungsschicksal des Flüchtlings im Vordergrund steht, sondern Faktoren wie der Einreiseweg, die Frage, ob er den Asylantrag in einem „sicheren Drittstaat“ stellen kann oder die sog. „inländische Fluchtalternative“. Zudem ist es die Aufgabe des Flüchtlings, nicht der Behörden, die behauptete Verfolgung nachzuweisen oder glaubhaft zu machen. Viele scheitern in ihren Asylverfahren, weil Verfolgungstatbestände nicht ausreichend nachgewiesen werden können oder der mündliche Sachvortrag den Anforderungen nicht genügt.

Foto mit Genehmigung von José Palazón (PRODEIN). Kleidung von Flüchtlingen verfing sich im Stacheldraht, als sie versuchten, die Grenze von Marokko nach Spanien auf dem Weg in die spanische Enklave Melilla zu überwinden (Oktober 2005). Motiv einer Postkartenaktion von Amnesty International.
Ein hoher Prozentsatz von Flüchtlingen ist auch aufgrund der erlittenen Verfolgung und der oft lange währenden und gefährlichen Flucht traumatisiert und darum kaum in der Lage, das Verfolgungsschicksal lückenlos und detailliert zu schildern. All diese Faktoren – und es gibt noch viel mehr davon – können die Chancen auf Anerkennung entscheidend beeinflussen. Das deutsche Asylrecht hat mit den Schutzbedürfnissen von Flüchtlingen recht wenig zu tun.
Danke für das Interview.
Das Interview führte Kris Wagenseil.
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