Vielen Menschen ist heute vertrauter, dass “Hinduismus” ein Sammelbegriff ist, hinter dem sich eine Vielzahl von Religionen verbirgt. Bewegungen wie die Hare Krishnas haben einen indischen Hintergrund, agieren aber international, auch in Deutschland. Die Frage, ob bzw. inwieweit und aus welcher Perspektive letztgenannte z.B. “hinduistisch” sind, lässt sich gar nicht so einfach beantworten. Wir haben zu aktuellen Entwicklungen um globale Gurus und indische Religiosität Prof. Dr. Frank Neubert (Religionswissenschaft in Bern) befragt. Von ihm ist bei REMID die Studie “Krishnabewusstsein. Die International Society for Krishna Consciousness (ISKCON) – ‘Hare-Krishna-Bewegung’” mit Unterstützung des Sonderforschungsbereiches Ritualdynamik der Universität Heidelberg erschienen. Seine aktuellen Arbeiten beschäftigen sich neben vielem anderen mit Neuformierung von Religion in der Gegenwart und “Global Hinduism”.
Herr Neubert, eine Ihrer Forschungen betraf die Hare-Krishna-Bewegung. Viele assoziieren an dieser Stelle “Sekte”, “Jugendreligion”. Aber eigentlich handelt es sich um einen in Indien anerkannten Vertreter des Hinduismus?
Das sind viele Fragen auf einmal. Also von vorn: Tatsächlich war die Hare-Krishna-Bewegung, offiziell Internationale Gesellschaft für Krishna-Bewusstsein (oder abgekürzt nach der englischen Bezeichnung als ISKCON), vor allem in den 1970er, 80er und 90er Jahren ein Thema in den Diskussionen um „gefährliche Sekten“ und „Psychokulte“. Dazu trugen tatsächlich aufgetretene Probleme innerhalb der Bewegung sicherlich ebenso bei wie stereotype Vorurteile gegenüber alternativen Religionen im Allgemeinen, zu denen auch die ISKCON gezählt wurde. Das hat sich allerdings aufgrund interner Reformen und aufgrund von Akzentverschiebungen in der öffentlichen Diskussion über Religion sehr verändert, so dass die ISKCON inzwischen wohl als eine Religionsgemeinschaft unter vielen anerkannt ist.
Anders gelagert ist die Frage nach dem Hinduismus. Da ist zunächst einmal zu sagen, dass eine solche Zuordnung für den Gründer der Bewegung und auch für die frühen Anhänger außer Diskussion stand. „Hinduismus“ galt ihnen einerseits als eine korrumpierte Religion, andererseits ohnehin als westliches Konstrukt. Deshalb lehnte man eine Klassifizierung als „Hindus“ ab. Das änderte sich allerdings recht schnell – zumindest in manchen Kontexten. Einerseits nutzten viele indische Migranten in Europa und den USA die ISKCON-Tempel. Sie verstanden sich selbst oft als Hindus und wurden meist nicht Mitglieder der Bewegung. Hier setzt eine Wahrnehmung der Tempel als Hindu-Tempel ein. Dazu kommt zweitens, dass die Bewegung gerade in Indien sehr stark wächst und sich dort nicht mehr gegen eine Kategorisierung als „Hindu“ wehrt. Drittens schließlich beteiligen sich Vertreter der ISKCON häufig an Veranstaltungen des interreligiösen Dialogs und treten dabei explizit als Vertreter des Hinduismus oder der Hindu-Religionen auf. Insofern spielt die Selbstbezeichnung als „Hindu“ in der Kommunikation nach außen eine zunehmend wichtige Rolle. In der internen Diskussion ist diese Frage jedoch nach wie vor untergeordnet. Hier spielt eher ein Selbstverständnis als Vertreter einer original vedischen Kultur und Gesellschaftsordnung eine Rolle.
Eine dritte Frage ist die nach der Anerkennung in Indien. Hier ist ein vorsichtiges Jein angebracht. Kurz gesagt: Im Großen und Ganzen anerkannt sind die Bewegung als ganze und ihre Tempel, etwas anders sieht das beim Anspruch der einzelnen westlichen Mitglieder aus, Hindus oder gar Brahmanen zu sein. Eine abschließende Antwort ist da aber derzeit nicht möglich.
Sai Baba ist verstorben, die Osho/Bhagwan-Bewegung feiert dieses Jahr ein Jubiläum, die Hare-Krishna-Bewegung tritt mit öffentlichen Prozessionen in Erscheinung. Wie sieht es aktuell in Deutschland aus mit dem Interesse an indischer Religiosität?
Ich denke, in einer breiten Öffentlichkeit wird hinduistische Religiosität in Deutschland kaum mehr wahrgenommen, abgesehen von einzelnen „Events“ wie Tempelfesten von Tamilen in Hamm oder Wagenfesten der Hare Krishnas in einigen deutschen Städten. Das sind aber meistens nur kurze Momente einer medialen Präsenz. Dennoch würde ich die Anhängerschaft der ISKCON und anderer Bewegungen für relativ stabil halten. Ein interessantes Phänomen sind die Bewegungen „globaler Gurus“, wie beispielsweise der von Ihnen angesprochene Sathya Sai Baba, der im April dieses Jahres verstarb. Wie sich die Bewegung nach seinem Tod weiterentwickeln wird, bleibt abzuwarten. Großer Beliebtheit erfreuen sich inzwischen die großen Veranstaltungen von Amma („the hugging mother“ oder niederländisch „knuffelgoeroe“, Mata Amritanandamayi), die regelmäßig in München und Mannheim stattfinden und zehntausende Besucher anlocken.
Könnten Sie für unsere LeserInnen kurz diese beiden zuletzt genannten Richtungen religionsgeschichtlich skizzieren? Was eint sie, was trennt sie? Wie international sind diese Bewegungen inzwischen geworden?
Beide Bewegungen sind um eine einzelne Person zentriert, die aufgrund von besonderen religiösen Errungenschaften zum Guru geworden ist. Sathya Sai Baba bezeichnete sich schon in jungen Jahren als Wiedergeburt eines indischen Heiligen des frühen 20. Jahrhunderts und wurde vor allem durch seine Wundertätigkeit weltweit bekannt, neben dem „Entstehenlassen“ von heiliger Asche und anderen Gegenständen werden von seinen Anhängern immer wieder auch die spirituelle Kommunikation über große geographische Räume hinweg sowie auf ähnlichem Weg erfolgende Heilungen berichtet. Amma machte zunächst lokal im südindischen Staat Kerala durch ihre Ekstasen auf sich aufmerksam. In diesen Zuständen nahm Gott Krishna oder die Göttin Lakshmi von ihr Besitz. Sie begann dann, in solchen Ekstasen die Menschen in ihrer Umgebung zu umarmen. Inzwischen finden regelmäßig Welttourneen statt, während derer in zahlreichen Ländern der Welt so genannte darshanas stattfinden, während derer Tausende von Anhängern sich für die göttliche Segnung einer Umarmung von Amma anstellen.
Beide Bewegungen verfügen inzwischen neben den jeweiligen lokalen Zentren in Indien über ein breites Netzwerk von Institutionen, Tempeln, Gemeinschaftszentren und Anhängergruppen weltweit, auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Schon das zeigt die große internationale Bedeutung beider Bewegungen und ihrer Gurus. Dazu kommt die Bedeutung, die die Zentren inzwischen für viele im Ausland lebende Inder gewonnen haben. Die wird inzwischen auch von solchen Gruppierungen anerkannt, die versuchen, einen einheitlichen globalen Hinduismus zu fördern. Die von einer solchen Gruppe herausgegebene Zeitschrift Hinduism Today beispielsweise hat Sathya Sai Baba und Amma bereits in den 1990er Jahren je einmal den Titel Hindu of the Year verliehen.
Wie sehen Sie den westlichen Einfluss bei der Entstehung dieser Neuen Religionen in Indien? Oft wird dem europäischen Kolonialismus ja zugeschrieben, mit seinem Interesse für den klassischen Hinduismus und seine Schriften eine Art Wiederbelebung bzw. Erneuerung angeregt zu haben.
Auch hier ist wieder eine ganze Reihe von Antworten möglich.
Wenn wir erst einmal bei Amma und Sathya Sai Baba bleiben, dann kann man zunächst feststellen, dass schon in der Frühphase der Verbreitung der Bekanntheit beider westliche Anhänger eine grosse Rolle spielten. Die ISKCON dagegen entstammt zwar einer mehrere Jahrhunderte alten Tradition der Verehrung des Gottes Krishna, ist aber als Organisation (auch im juristischen Sinne) eindeutig eine Gründung aus den USA. Es waren auch in erster Linie konvertierte Amerikaner und Europäer, die die Bewegung vorangetrieben und auch bei der Etablierung in Indien mitgewirkt haben.
Die Frage zielt aber auch in eine andere Richtung, die hier nur schwer angemessen zu beantworten ist. Ein vorsichtiger Versuch, sich dem zu nähern, würde wohl darin bestehen, auf den großen Einfluss westlicher Philosophie und Wissenschaft (v.a. die Sanskrit-Philologie und die entstehende Religionswissenschaft, aber auch – vermittelt durch Missionare – die Theologien) in Indien im so genannten „langen 19. Jahrhundert“ zu sprechen zu kommen. Dazu kommen die koloniale Situation in Indien, ein erwachendes Interesse im „Westen“ an indischen Religionen und ein stärker werdender Nationalismus in Indien. All diese Stränge führten zu teilweisen Neudefinitionen von „Hinduismus“ als „Religion“ oder gar „Weltreligion“, und diese sind wiederum in verschiedenster Art und Weise in das Selbstverständnis der verschiedenen reform-hinduistischen Bewegungen eingegangen. Bei den v.a. von „Westlern“ rezipierten Neugründungen spielten dann natürlich auch deren Vorstellungen von indischer „Spiritualität“ eine große Rolle für die Ausformulierung von Lehren und die Gestaltung von Praktiken und sozialen Strukturen.
Was sind aus Ihrer Sicht die interessantesten Entwicklungen auf dem indischen Religionsmarkt?
Wenn wir von der Situation in Indien selbst sprechen, dann ist für mich besonders interessant, in welchem Maße inzwischen Einflüsse stark werden, die nicht unmittelbar aus Indien kommen, sondern in verschiedener Weise „westlich“ oder – korrekter gesagt – „global“ geprägt sind. Da sind erstens zahlreiche indische Migranten, die durch teils sehr große Geldspenden Tempelbauten und Tempelrenovierungen, aber auch religiöse Organisation in Indien unterstützen und finanzieren. Etwas anders gelagert ist zweitens die Möglichkeit, gegen Geld rituelle Dienste in Indien bspw. online in Anspruch zu nehmen, eine Möglichkeit, die viele indische Migranten wahrnehmen und so ebenfalls zu großen Veränderungen in Indien selbst beitragen. Drittens haben einige der hindu-fundamentalistischen und hindu-nationalistischen Bewegungen großen Zulauf gerade unter den Non Resident Indians – also Indern, die nicht in Indien leben – und sie verändern sich auf diesem Wege auch in Indien selbst. Viertens gibt es in noch immer sehr kleiner, aber durchaus wachsender Zahl westliche Konvertiten zum Hinduismus, worauf sich einige Bewegungen inzwischen einstellen. So wurde erst im letzten Jahr ein gebürtiger Amerikaner, jetzt Baba Rampuri, ins Leitungsgremium eines großen shivaitischen Asketenordens berufen. Dem könnte man problemlos weitere Punkte hinzufügen.
Interessante Entwicklungen spielen sich aber auch in Bezug auf hindu-religiöse Bewegungen außerhalb Indiens ab. Neben dem großen Interesse, das Gurus wie die angesprochenen Sathya Sai Baba und Amma wecken, sind hier Konvertitenbewegungen zu nennen, die mit Publikationen und Vernetzungsaktivitäten einen „globalen Hinduismus“ zu fördern (oder zu kreieren) versuchen. Dazu kommt die Tatsache, dass in den letzten Jahrzehnten Elemente indischer (religiöser?) Traditionen wie Yoga oder Ayurveda verstärkt Eingang in den Esoterik-, Wellness- und Fitnessmarkt finden. Interessant daran ist für mich als Religionswissenschaftler besonders die Tatsache, dass hier mit sehr unterschiedlichen Gründen und Motiven die Zuordnung solcher Aktivitäten als religiös, spirituell, hinduistisch oder eben als Wellness- und Fitnessangebote mal behauptet, ein anderes Mal bestritten wird, je nachdem, ob man von christlichen Nachbarn toleriert oder von Steuern befreit werden möchte, ob man „christlichen Yoga“ praktizieren oder dezidiert einer östlichen spirituellen Tradition folgen will.
Danke für das Interview.
Das Interview führte Kris Wagenseil.
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