Es war im Jahr 1978, als Edward Said den Begriff “Orientalismus” prägte und damit den westlichen, “eurozentrischen” Blick auf die arabische Welt als einen „Stil der Herrschaft, Umstrukturierung und des Autoritätsbesitzes über den Orient“ (1981, S. 10) analysierte. Auch wenn es Said um die akademische Orientalistik der Kolonialmächte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ging, ist sein Vorwurf weiterhin aktuell. Während zwar von unten inzwischen der “Tahrir-Platz” zum geflügelten Wort mit universaler Einsetzbarkeit aufgewertet wird, zeichnen die konventionellen Medien in Europa weiterhin gewohnte Bilder eines “Orients”. Nicht nur zum arabischen Frühling und zum interkulturellen Dialog interviewte REMID Wenke Krestin von eurient e.V.

Der Tahrir-Platz in Kairo am 8. Feburar 2011.
Bild von Mona unter Creative Commons CC-BY-2.0 Lizenz.
Mit Diskussion, Bildung und Austausch setzt eurient e.V. sich ja ähnliche Ziele wie REMID. Der Fokus erscheint mir auf den ersten Blick internationaler orientiert als wir es bisher sind? Ich lese von Austauschprojekten, postsowjetischer Islam…
Das Ziel all unserer Aktivitäten ist es, gegen Stereotype vorzugehen, die den Islam, Muslime und die arabische und islamische Welt betreffen. Von den Medien wird das Bild des Krisenherdes trotz des arabischen Frühlings stetig weiter bedient und dadurch gefestigt. Man scheint überrascht, dass sich das Verlangen nach Demokratie und Selbstbestimmung auch in islamisch geprägten Gesellschaften heraus bildet und eben doch kein christliches Gut zu sein scheint.
Die internationale Ausrichtung ergibt sich dabei auch durch unsere Mitglieder. Alle eurient-Projekte werden ausschließlich von ehrenamtlichem Engagement getragen und werden von unseren Mitgliedern geplant und umgesetzt, von denen viele in der arabischen und islamischen Welt gelebt, gearbeitet und Freunde gefunden haben. Dies spiegelt sich auch in unseren vielfältigen Projekten wider – sei es in Form von Austauschprojekten oder eben in der inhaltlichen Gestaltung einer Vortragsreihe. Zudem sind wir überzeugt, dass ein interkultureller Dialog nicht nur auf einer Ebene stattfinden kann. Aus diesem Grund setzen wir neben Aufklärungsarbeit in Form von Vorträgen auch auf kulturelle Angebote, wie unsere arabische Filmwoche und auf Austauschprojekte, wie bei unserem Frauenfußballcamp kick it! 2009 und 2010.
Mit Angeboten wie dem Projekt Hiwar Fanni, dem Dialogue-Tools-Training oder einem internationalen Fußballspiel konnten Sie kreative Formen der Fortbildung entwickeln. Erzählen Sie doch ein wenig, wie es dazu kam.

Im Projekt Hiwar Fanni trafen sich 2006 Studenten aus Kairo in Leipzig.
Die Idee ist durch eine gemeinsame Leidenschaft – sei es dem Fußball wie bei kick it! oder der Kunst wie bei Hiwar Fanni oder Dialogue Tools – zu einem gemeinsamen Miteinander zu finden. Das interkulturelle Training ist dabei nur ein Aspekt des gemeinsamen Treffens, im Vordergrund steht die verbindende Leidenschaft. Auf diese Weise sollen Vorurteile eher indirekt aufgebrochen werden. Gemeinsames Sport treiben, Zeichnen oder Theater spielen verbindet und bringt Menschen zusammen, die sonst mitunter nichts mit einander zu tun gehabt hätten.
Sie verstehen Ihr Angebot als “interkulturellen Dialog”. Welche Rolle spielen da die Religionen?
Wir wollen den Dialog zwischen Menschen fördern. Die Religion spielt dann in dem Maße eine Rolle, wie es die miteinander Sprechenden für sich persönlich definieren.
Der viel besprochene Dialog zwischen den Religionen betont – unserer Meinung nach – ein einziges Identitätsmoment zu stark und täuscht darüber hinweg, dass Identitäten aus verschiedenen Aspekten bestehen: dem Geschlecht, der Herkunft, der Nationalität, der bevorzugten Musikrichtung, der politischen Gesinnung, dem Alter, und vielen mehr. Religion ist also ein Aspekt unter vielen. Wir wollen uns mit diesem Ansatz bewusst gegen eine Islamisierung des interkulturellen Dialogs stellen und das Stereotype Araber = Muslim gerade nicht fördern.
“Dialog” als solchen interpretieren manche in der Religionswissenschaft als “interreligiöse” Angelegenheit. Also Vertreter einer Religion, zumeist des Christentums, laden Vertreter anderer Religionen zum interreligiösen Gespräch. Da Religionswissenschaftler aber keine christlichen Theologen sind, stehen manche dem kritisch gegenüber. Auch, da manche diese Dialogsituationen als bevormundend wahrnehmen. Spielt das bei eurient e.V. eine Rolle?
Nein – aus zwei Gründen: Erstens liegt, wie gerade beschrieben, unser Fokus nicht auf der Religion. Zweitens ist es uns wichtig, allen Menschen eine Stimme zu geben und nicht nur mit Vertretern zu sprechen. „Dialog“ interpretieren wir eher so, dass wir mit allen Betroffenen und Repräsentanten auf gleicher Augenhöhe sprechen wollen bzw. ihnen ermöglichen wollen auf gleicher Augenhöhe miteinander ins Gespräch zu kommen. Wir wollen alle Positionen hörbar machen.
Es gibt auch derzeit eine Vortragsreihe zum arabischen Frühling: ‘UmBrüche in der arabisch-islamischen Welt. Frühling oder Eiszeit?’. Eine Motivation war die mediale Berichterstattung um neue Aspekte zu ergänzen. Dabei lassen Sie auch Stimmen aus der arabischen Welt zu Wort kommen lassen. Erläutern Sie das doch bitte kurz.

Plakat der Vortragsreihe 'Umbrüche' zum arabischen Frühling.
Die von Ihnen angesprochene Vortragsreihe findet dieses Wintersemester an der Universität Leipzig statt und ist ein Gemeinschaftsprojekt des eurient e.V. mit dem Orientalischen Institut und dem Center for Area Studies der Universität Leipzig. Seit Dezember 2010 verändert sich die arabisch-islamische Welt in atemberaubendem Tempo. Die Berichterstattung darüber schien uns zu einseitig: die frustrierte Jugend und die unbegrenzten Möglichkeiten der sozialen Netzwerke wurden als Erklärungsmuster herangezogen. Zudem breiteten sich die Proteste wie ein Flächenbrand aus: Tunesien, Ägypten, Bahrain, Jemen, Syrien, Marokko, Libyen. Da kann man schnell den Überblick verlieren und die länderspezifischen Besonderheiten und Ursachen des jeweiligen Protestes übersehen. Genau an der Stelle wollten wir ansetzen: Wir wollten einerseits die jeweils spezielle Situation in einzelnen Länder thematisieren und andererseits verschiedene bereits viel besprochene Ursachen – wie die sozialen Netzwerke oder die Armut – dazu in Bezug setzen.
Wie schätzen Sie die Erfolge Ihrer bisherigen Arbeit ein?
Der eurient e.V. wächst und wächst und wächst. 11 Leute gründeten vor sieben Jahren diesen Leipziger Verein. Mittlerweile zählen wir über 70 Mitglieder im Alter zwischen Anfang 20 und Ende 60 und sind auf der ganzen Welt verteilt.
Wir prägen seit sieben Jahren mit regelmäßig wiederkehrenden Kulturveranstaltungen, wie unserer Dokumentarfilmreihe MUSALSAL oder unserer Arabischen Filmwoche die Kulturlandschafts Leipzig und der Region. Wir haben über mehrere Jahre verschiedene Menschen zusammen führen können: 2009 und 2010 fussballbegeisterte Frauen aus Europa und der arabischen Welt, 2006 – 2008 Kunststudenten aus Kairo, Damaskus, Tripolis und Leipzig.
Seit 2004 bieten wir alternative Sichtweisen zum Mittleren und Nahen Osten und zu Muslimen in aller Welt an. Und das wichtigste ist: wir haben immer noch neue Ideen.

Filmausschnitt aus 'Massaker', einer Koproduktion aus Deutschland, dem Libanon, der Schweiz und Frankreich von 2004, gezeigt in der MUSALSAL-Reihe von eurient e.V. am 14. November
Was ist aktuell geplant bzw. wie geht es in der Zukunft weiter?
Die bereits angesprochene Vortragsreihe UmBrüche über die Umwälzungen in der arabisch-islamischen Welt läuft noch bis Februar 2012. Auch unsere Dokumentarfilmreihe MUSALSAL, welche jeden Monat eine Dokumentation zeigt, plant derzeit ihr Programm für 2012. Die Arabische Filmwoche fand Anfang Oktober zum fünften Mal erfolgreich in Leipzig und zum ersten Mal in Halle/Saale statt. Hier rechnen wir gerade ab, um dann – nach kurzem Luft holen – die Arabische Filmwoche 2012 zu konzipieren. Nächstes Jahr wollen wir uns an einem Kinderprogramm versuchen. Auch haben wir dieses Wochenende (am 29.10.) unsere erste Spendengala in Leipzig gefeiert und viele Preise verlosen können. Ideen für die zweite Gala spuken auch schon durch unsere Köpfe.
Eine weitere Idee ist, einen eurientExpress einzurichten, und einmal im Monat über ein aktuelles Thema zu informieren, sozusagen eine monatliche Vortragsreihe zu etablieren.
Daneben wird es eine Kooperation mit einem tschechischen Partner geben, um eine durch den Nahen Osten und Osteuropa tourende Kunstausstellung mit Symposien wissenschaftlich zu unterfüttern. Und zu guter Letzt wollen wir uns an eine Neuauflage von kickit wagen. 2012 wird also ein ereignisreiches eurient-Jahr werden!
Danke für das Interview.
Das Interview führte Kris Wagenseil.
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