Das Gespenst oder die Geister gelten im allgemeinen als eine alte Kategorie so genannter “niederer Mythologie”, wie es die deutsche Philologie des 19. Jahrhunderts nannte. Sie werden erst im religionswissenschaftlichen Blickpunkt zu einer phänomenologischen Kategorie universaler Relevanz. Doch ist das den Forschern geläufige europäische Vorbild, welches ihnen weltweit für die Konzepte der Totengespenster, aber auch der Ahnengeister als Erklärungsmuster Modell stand, wirklich alt? Oder ist es vielmehr wie mit vielen in Zeiten des Nationalismus für traditionell ausgegebenen Bräuchen, wo es galt, mit “Volksaberglauben”, Märchen und Sagen einen kulturellen Wettbewerb auszufechten?
Wer kümmert sich schon um Gespenster? Warum sollte man sich um sie kümmern? Hegen viele – auch Religionswissenschaftler – nicht gerne den elitären, aufgeklärten oder ästhetischen Gestus, im Gespräch mit den Religionen aus nicht nur christlicher Perspektive sich an reiner scheinende Begriffe zu halten, seien es moralische Prinzipien, Götter oder Bodhisattvas. Bewundernd schaut man auf die abstrakten Begriffe buddhistischer Philosophie und greift alles auf, was sich für mystische Dialoge eignet. Es sei diese mystische Erfahrung, welche eine, eingebettet in das Gleichnis des Elefanten, von dem jede Religion, im Gleichnis entspricht ihr ein Blinder, nur ein Körperteil kenne, jede ein anderes (Die blinden Männer und der Elefant).
Begibt man sich aber in die Untiefen der semantischen Differenzen, bei dem, was man früher bzgl. der germanischen Mythologie die “niedere” nannte (alles außer Götter und Riesen), stellt man zunächst in beinahe jedem außereuropäischen Kontext fest (soweit er nicht gerade westliche Konzepte rezipiert), dass die mitgebrachten Ideen vom Geisterreich nicht passen. Weitere Skepsis ergibt sich mit dem Blick in die eigene Geschichte.
1. Die Jagd nach der Begriffsgeschichte
Im Mittelhochdeutschen Wörterbuch findet sich zuerst die Vokabel getwâs.
Etwa gibt es da Rüdiger von Müners (Munre) „Irregang und Girregar“ (um 1350), eine Schwankerzählung, in der ein Jüngling ein Mädchen aufsuchen möchte, die beiden werden erwischt – obwohl er gestanden hatte, gelingt es mit einer gespenstischen Story und einem Trick (auch der Vater liegt auf einmal neben einem männlichen ‚Alp‘, wo er seine Gattin wähnte) das Geschehene zu verdecken:
Die Wirtin: „Dich hàt geriten der mar,
Ein elbischez às,
dû solt daz übele getwàs
Mit dem kriuze [Kreuz] vertriben.“Der Alte: […] „daz ir immer des jeht,
Uns [mannen] (be)triege der alp“Die Wirtin, S. 61:
„Wan sò vil, daz dich zoumete
ein alp, dàvon dir troumete [träumete];
Der vare, der sunnen haz! [Fußnote Hagen: „Die nordischen Alfen (Zwerge) versteinern, wenn die Sonne sie bescheint“]
ez ist etewaz,
Dàvon dù sus verirret bist“
Friedrich von der Hagen spricht 1850 zwar von “Gespenstergeschichte”, nennt den Alp später auch “Kobold”; der „Geist“ wird beschworen mittels „Davids Psalter, Wuthungis Herr (dem Wüthenden, Wodans Herr), und Peters Bann“ (Hagens Nacherzählung). Der Text, wird von Hagen mit Giovanni Boccaccios Decamerone (zw. 1349 und 1353: “lieber Johanns weyst du nicht das es die fantasma ist die mir in den vergangenn nächten so grosse forcht auff getan …. soliche geyst wie vil krafte sy haben so mügen…” [Arigo-Übersetzung 15. Jh.]) und Geoffrey Chaucers Legend of Good Women“ (1385, Legend of Dido: “This night my fadres gost Hath in my sleep so sore me tormented”) verknüpft.
Diese beiden Autoren der Renaissance greifen bereits auf neues Wissen aus und über die Antike zurück (die “Good Women” sind allesamt historische oder mythische Personen der Antike, und gerade Dido als “Zauberin” steht nicht immer in einem solchen Ruf). Der Schwank wiederum stellt schon qua Gattung eine Reflexionsform dar, welche ihren Gegenstand zudem kritischem Spott aussetzt.
Im Englischen soll ab dem Beginn des 14. Jh. “Holy Spirit” auftauchen und allmählich “Holy Ghost” verdrängen. Doch warum sollte die dritte Person Gottes auf einmal nach einem Spukgespenst geklungen haben, wie zitierter Interpret des Wandels mutmaßt?
Also was finden wir vor den ersten Autoren der Renaissance und des Humanismus? Etwa im 12. Jahrhundert des armen Hartmann “Rede vom Glauben” (abgedruckt bei Massmann 1837, aus Straßburger Pergament-Hs. C. V. 16.6. 4°). Es geht um die Natur des Erzengels Michael und des gefallenen Engels Luzifer:
„michil ist sin [Gottes?] othmut.
er ist ein spiritus
incurcumscriptus [vielleicht: incursum oder incurvum?],
er ist ein geist ungesichtlich [unsichtbar].
ime njst nvit gelich [gleich].
Er ist ineffabilis [unaussprechlich, wunderbar],
multum mirabilis…“Luzifer bzw. “luzil” hingegen,
„der wart uz geworfen
uon den himelen uerstozen
er viel nider zo der erden […]
„er ne comet jemer mere
an di selben ere,
da er wilen ane was,
er ist ein bose getwas
zo himele hine widere.
er vil also nidere
tiefe in der helle grunt.“
Entsprechend musste auch ältere Antike-Rezeption mit dem Problem der nicht-christlichen Religionen umgehen, so etwa Herborts von Fritzlar Liet von Troye (Lied von Troja, entstanden zw. 1190 und 1217, hrsg.von K. Frommann 1837):
Daz der [Apoll] got were
Daz ist anders niht [nicht] mere
Wen daz der tufel [Teufel] sathanas
Sin gespenste unð sin getwas
Uz [aus] eime bilde sprach
Vnð sagete in swaz in geschach
Stille vnð offenbare
Zv wane [Wahn] vnd zv ware [Wahrheit]
Beide in ernste vnð in spot
Des hette[n] [halten] sie in [ihn] vur eine[n] got
Ez was ein heidenische diet
Sie achte[n] anders geloube[n] niet
Diz was lange vor gotes geburt
Nv spreche wir vnse rede furt…“ (S. 41).
Die Passage ist deutlich als Dichter-Exkurs gekennzeichnet (erst danach wird die eigentliche “Rede” fortgesprochen). Dieser ist offenbar nötig, um die Rolle des “heidnischen” Gottes Apoll für sein christliches Publikum zu erläutern, dem Achill zuvor in Delphi ein Opfer brachte, um seine Hilfe zu erbitten. Dahinter steht die Lehre von den dämonischen Einflüsterungen des Teufels, die als Hirngespinste, Halbwahrheiten und Sinnestäuschungen begriffen werden. Die Differenz zu einem aufgeklärten Standpunkt besteht eigentlich nur darin, dass ein Wirken des Teufels in diesen Irrtumsgründen angenommen wird.

Detail einer Darstellung der sieben freien Künste aus dem Hortus delicarium der Äbtissin Herrad von Landsberg (um 1180). Jenseits des Kreises der (anerkannten) Wissenschaften sind die Dichter und Magier, die den Einflüsterungen der Teufel (am Ohr) lauschen.
Man beachte aber, dass es außer bei den Renaissance-Autoren Boccaccio, Chaucer und dann im 16. Jahrhundert William Shakespeare mit seinem “Hamlet”, dem der Geist seines Vaters erscheint und über die Hintergründe seines Todes aufklärt, nicht um Totengeister geht.
Im Gegenteil, dieses Derrivat von “etwas”, das getwâs, eignet sich auch als Emotionen andeutendes Stilmittel, so in der Karlsdichtung “Karl Meinet” von um 1320-1340 (A 120a Vers 29: „Id was allet eyn gedwas / Vur Karlle, als hey wolde stryden“, ed. A. von Keller 1858) oder in einem Marienlied von Bruder Hans von um 1400 (R. Minzloff 1863):
[S-Initiale]o ich mich gern solt ziren bas [lieber],
So spreech ich alziit: cras, cras.
Und daz ist alles eyn ghedwas.
Wir durren sam eyn brant von vlas,
Daz bald verbrint [verbrennt] mit eynen vlacker [Flackern].
Wir sint vil broescher [zerbrechlicher] wen [als] eyn glas.
(Minzloff S. 353 [Hs. Bl. 136], Marienlied ab Vers 5089)
Insbesondere fehlt eine klassische Spukgeschichte, wie sie oft mit dem Mittelalter assoziiert wird. Man denke nur an folgende Episode aus dem 19. Jahrhundert, als der romantische Dichter Heinrich von Kleist eine Bibliothek betritt und nach den Werken von Goethe und Schiller fragt:
Die möchten hier schwerlich zu finden sein. – ›Wie? Sind alle diese Bücher vergriffen? Wird hier so stark gelesen?‹ – Das eben nicht. – ›Wer liest denn hier eigentlich am meisten?‹ – Juristen, Kaufleute und verheiratete Damen. – ›Und die unverheirateten?‹ – Sie dürfen keine fordern. – ›Und die Studenten?‹ – Wir haben Befehl ihnen keine zu geben. – ›Aber sagen Sie uns, wenn so wenig gelesen wird, wo in aller Welt sind denn die Schriften Wielands, Goethes, Schillers?‹ – Halten zu Gnaden, diese Schriften werden hier gar nicht gelesen. – ›Also Sie haben sie gar nicht in der Bibliothek?‹ – Wir dürfen nicht. – ›Was stehn denn also eigentlich für Bücher hier an diesen Wänden?‹ – Rittergeschichten, lauter Rittergeschichten, rechts die Rittergeschichten m i t Gespenstern, links o h n e Gespenster, nach Belieben. – ›So, so.‹ – –
Mit Verweis auf manche der erwähnten Belege, den “so getân gespüc” der “warsagerinne” und “nahtfrouwen” (Nachtfrauen, Hexen) in der (vermutlich unechten und eigentlich späteren) 43. Predigt des Berthold von Regensburg (13. Jh.) und Johann Geilers von Kaysersbergs “Emeis” (gedruckt 1516) konsistiert auch das Wörterbuch der Gebrüder Grimm: “erst in den letzten jhh. wurde der ausdruck [Gespenst] recht gewöhnlich”.

Die Emeis || Sis ist das bùch von der || Omeissen, vnnd auch. Her der künnig ich diente || gern, Vnd sagẽ von Eigentsohafft der Omeissen/ vnd gibt vnderveisung võ dẽ || vnholden vnd hexen/ vnd von gespenst der geist/ vnnd von dem wuetenden heer || wunderbarlich/ vnd nützlich zewissen/ was man daruon halten oder glauben soll. || Vnd ist von dem hooh=||gelerten doctor Joãnes || Geiler võ Keisersperg || Predicant der Keiserli=||chen freien statt Straß||burg ... || ge=||predigt worden alle son=||tag in der fasten ... || Straßburg : Grüninger, Johann, 1516.
Aber auch bei Geiler von Kaysersberg geht es nicht um Totengeister, sondern, “[d]es teuffels gespenst ist nit anders den[n] das[s] er macht das[s] etwas scheint / vnd daz selb doch nit ist” (S. XXXIX). Insgesamt wendet er sich gegen Hexen, denen unter anderem diese Art Truggespinste sowie im so genannten Hexenhammer auch Besessenheit ursächlich zugeschrieben werden.
Entsprechend hat Luther die Totenbeschwörerin in 1. Buch Samuel 28 als “Hexe von Endor” übersetzt, so dass die Szene erst sehr viel später und über Umwegen Vorbild der spiritistischen Séance werden konnte (um 1800). Es passt zu dem Konzept des “vnsauber Geist” / “inmundus spiritus” / “ἀκάθαρτον πνεῦμα” von Matthäus 12:43. Während diese “unreinen Geister” die lateinisch-theologische Tradition der “Unterscheidung der Geister” (dämonisch, natürlich, engelartig) schon seit dem Hochmittelalter beschäftigt, ist die Totenbeschwörung nur teilweise als solche präsent. Wie ist es anders zu erklären, dass “Nekromantie” schließlich nicht mehr verstanden wurde, man begann irrtümlich “nigros” (schwarz) zu lesen, und es entstand ein nebulöser Begriff der “schwarzen Kunst”, die eher Gespinste erzeugt. So etwa in Ulrich Boners “Edelstein” (zwischen 1324 und 1349; ed. Pfeiffer 1844) im Kapitel 94, „Von einem der Konde diu swarzen Buoch. / Von betrogener Vriuntschaft“, V. 5:
nigromanzîe kond er wol;
diu buoch sint swarz und vreisen [sind an Wissenswertem] vol
Es geht um Meister und Gesellen: Eine Freundschaft wird getestet, indem V. 21 „der meister bracht mit listen [List, Zauberei] zuo“, dass der Geselle von dreißig Leuten als König ihres fernen Landes empfangen werde. Schließlich folgt das Platzen dieser Illusion (nachdem der Geselle seinen neuen Reichtum nicht teilen will), V. 54: „diu gespenst zergieng und wert nicht mê“.
2. Parallelstellen: Antikeüberlieferung, althochdeutsche Glossen, nordische Sagas und “volkskundliche” Feldforschung
Grimm muss aufgrund dieser Lücke in der begrifflichen Überlieferung ausweichen, und zwar insbesondere auf altnordische Sagas und diejenigen Sagen und Legenden, die in Grimms Gegenwart noch mündlich überliefert werden (allerdings wie auch bei den Märchen haben durchaus einige schriftliche Vorlagen – man muss sich hier vor den Gründungsmythen der Volkskunde hüten, welche ins Hinterland der eigenen “Nation” aufbrachen, um dort noch überlebende quasi-“wilde” Sitten aufzuzeichnen, “primitive rites”, urtümliche Folklore). Diese besondere altnordische – letztlich nicht einmal phänomenologisch begründete – Parallelisierung hat seitdem Tradition in der Gespensterfrage. Die Sagas sind zumeist in Handschriften des 13.-15. Jh. erhalten, deren Ab- oder Niederschreiber oft schon nicht mehr ganz verstand, was er da bearbeitete. Zudem dürften sie bis zu ihrer vereinzelten Verbreitung durch den Buchmarkt kaum in Kontinentaleuropa bekannt gewesen sein, bis auf wenige Ausnahmen (z.B. Übernahmen innerhalb von Saxo Grammaticus, Gesta Danorum 1206-1216).
So findet man diese Parallelisierungstradition auch bei Claude Lecouteux, Geschichte der Gespenster und Wiedergänger im Mittelalter (Köln / Wien: Böhlau 1987). Immerhin kennt er doch noch einige Geschichten von wiederkehrenden Toten:
12. Jh.: Walter Map, William of Newburgh, 12./13. Jh.: Caesarius von Heisterbach, 13. Jh.: Reimpaarerzählung “Rittertreue” von einem dankbaren Toten, um 1250: das “Eckenlied” und die Wolfdietrich-Sage [Mutprobe in einer Kirche zu übernachten, wo der Held seine einstigen Feinde erneut besiegen muss], 14. Jh.: “Der Württemberger” mit einer Schar der Verdammten, um 1400: der Mönch von Bylander, 15. Jh.: ein Gedicht von Michael Beheim über eine Begegnung von Graf Eberhart von Württemberg mit einem verdammten Jäger (man vergleiche auch Franz-Josef Holznagels Artikel über die “Gespenster” des Wilhelm Werner von Zimmern 1485-1575, dort insb. Anmerkung 1).
Doch gerade für den deutschen Boden konstatiert Lecouteux, auf ihm seien “die Nicht-Toten kaum zu finden” (S. 160).
Auch bezüglich der möglichen antiken Quellen (z.B. Cicero, De divinatione I, 27, 57; Cicero, Tusculanae I, 16,36; Livius III, 58, 11; Plautus’ Komödie vom Gespenst; Tertull, De anima 56-57; Plinius Secundus ep. 7.27; Sueton, Caligula 59; Horaz, Satyrae I, 8; Apuleius, Metam. III, 17; Petron, Satyricon, LXXI) – manche einschlägige Autoren waren allerdings eventuell noch gar nicht allgemein verbreitet (Livius wird z.B. erst von Humanisten wieder verstärkt gelesen) – kann man bei Lecouteux die Worte von William of Newsburgh bedenken:
Historia rerum Anglicarum or Historia de rebus anglicis V, 24: Es ist wahrlich verblüffend, daß, wenn sich solche Dinge [daß Leichname von Toten umgehen] in der Vergangenheit zugetragen haben, nichts darüber in den Büchern der Alten steht, die so sorgfältig alles Denkwürdige aufzeichneten. Da sie nämlich nie versäumten minder wichtige Sachen niederzuschreiben, wie konnten sie denn etwas verschweigen, das so viel Aufsehen und Grauen erregt? (ebd., S. 146f.).
So mag das Vorgehen spannend sein, mittels Überlegungen zu übersetzenden Glossen, welche althochdeutsche Begriffe mit dem lateinisch-christlichen Vokabular (larva, spectram, phantasma, lemures, demones) unterschiedlos gemacht wurden, schließlich über die Sagas, sehr viel spätere “Volkssagen” und ein wenig Archäologie eine spekulative Ur-Schamanismus-Theorie (zu “Schamanismus” vgl. man unsere Kurzinformation) zu entwickeln, welche drei verschiedene Seelen Fylgja [ein “folgender” Schutzgeist], Hugr [“Wunsch”, “Gedanke”, “Geist”] und Hamr [eine zweite “Haut”] unterscheidet und die bereits als Überbleibsel einer Vorreligion der germanischen vorausgegangen und verdeckt weitergewirkt haben soll (Lecouteux, S. 203-215). Sehr naheliegend erscheint das Vorgehen allerdings nicht.
3. Die weiße Frau und der Kolonialismus der Gespenster
In England wie auf dem Kontinent zeugen Walter Map, William of Newburgh und Caesarius von Heisterbach sowie der anonyme Bylander mit ihren chronikalischen oder mirakel-orientierten Sammlungen eher von einer Unvertrautheit von Totengespenstern (denen in diesen Texten noch[?] eine eigene Bezeichnung fehlt und die umschrieben werden müssen). Mit der Idee des Fegefeuers (sowie mit der antisemitischen des “ewigen Juden” Ahasver, der z.B. Bezüge zum erwähnten verdammten Jäger hat) etabliert sich schließlich spätestens im 15. Jh. mit einigen heterogenen Vorgängern die Idee der im Fegefeuer gepeinigten Seele, welche sich an die Hinterbliebenen wendet. Ein Beispiel hierfür ist Arnt Buschmanns Mirakelbuch.
Gerade William of Newburghs Ausdruck der Verwunderung in Bezug auf “die Alten” kann hier nicht genug betont werden. Bei ihm reihen sich die wandelnden Toten ein in eine bunte Sammlung von Prodigien (göttliche Zeichen), darunter auch z.B. die Geschichte von aufgefundenen grünen Kindern, welche heutzutage selbstverständlich auch bereits ihre naheliegende außerirdische Deutung erfahren durfte.
Schließlich bleibt zu bemerken, dass auch die berühmte weiße Frau, wenn auch eine nur grob ähnliche Vorlage bei Caesarius von Heisterbach überliefert ist (XI, 63: Die weiße Frau zu Stammheim), zum ersten Mal 1486 gesehen worden sein soll. Allerdings ist die Geschichte um die Wiederkehr der aus Liebe mordenden Kunigunde von Orlamünde (14. Jh.) zuerst in der “Chronologia Monasteriorum Germaniae praecipuorum“ des Kaspar Brusch von 1551 niedergeschrieben worden – und die erste eigentliche Geschichte um einen andauernden Spuk, hier im Kloster Himmelkron und im Berliner Schloss (auch wenn “weiße Frauen” mit gewissen vorchristlichen Konzepten wie der Perchta Ähnlichkeit haben mögen und eine Bertha von Rosenberg aus dem 15. Jh. als weitere “weiße Frau” gleich in “Perchta von Rosenberg” umgetauft wurde).

Die Tradition der Perchtenläufe (hier 2008 in Salzburg) soll zwar bereits im 16. Jh. vorübergehend existiert haben, zurück gehen sie allerdings auf das 19. Jahrhundert.
Bild von Matthias Kabel unter Creative Commons CC-BY-SA-3.0 Lizenz.
Und das wiederum ist erst die Zeit, in welcher die angeblich aktiv Spukenden englischer Gespensterschlösser gelebt haben sollen, im 15. Jahrhundert Henry VI. im Muncaster Castle, dort kommt im 16. Jh. “Tom the Fool” hinzu, im 16. Jh. im Hampton Court Palace:
Wie die meisten englischen Schlösser besitzt auch Hampton Court mehrere Geister, die der Legende nach im Gebäude umherspuken. Einer von ihnen soll der Geist von Sibell Penn, dem Kindermädchen Edwards VI. [1537-1553] sein, ein anderer Jane Seymour [1537 gestorben], die dritte Ehefrau Heinrichs VIII., sowie der von Catherine Howard [1542 gestorben], seiner fünften Ehefrau.
Erst im 17. Jh. lebte das Geisterpärchen Alice Birch und Charles Clifford, welche während des englischen Bürgerkriegs starben und seitdem im Goodrich Castle spuken sollen. Ähnlich sieht es für deutsche Gespenster wie Sophie Dorothea Maria von Anhalt (gest. 1617) oder Sidonia von Borcke (hingerichtet 1620) aus. Dass nicht alle unbedingt unmittelbar nach ihrem Tod vor Zeugen zu spuken begonnen haben mögen, ist nur wahrscheinlich. Im anglikanischen England zudem wieder losgelöst von Fegefeuer-Konzepten, in Deutschland unter Einfluss des Pietismus.

Lady Dorothy Walpole soll 1726 verstorben sein und seit mind. 1835 im Herrenhaus von Raynham Hall spuken. Captain Hubert C. Provand machte dort 1936 diese bekannte Aufnahme.
Insofern dürfte deutlich geworden sein, dass das Gespenst, gerade wie wir es kennen, erst allmählich entstanden ist – und zwar in genau derselben Zeit, in welcher der europäische Kolonialismus einsetzte, der nicht allein weitere Gespensterkonzepte aus Übersee mitbrachte. Oder umgekehrt ein frisch gebackenes reformkatholisches oder gerade wieder von Zwischenhöllen gereinigtes protestantisches Gespenst in die Welt hinaustrug? Eines, das schließlich im 17. Jahrhundert auch durch die strikte Unterscheidung zwischen Geist (res cogitans) und Außenwelt (res extensa) von René Descartes seine weiteren Schliffe erfährt?
Nur wenn dem so sein sollte: Eignet sich eine solche moderne Konstruktion als Vorlage für eine Universalkategorie? Oder bildet sich hier nur der muntere Zirkelschluss, so dass die spannenden Übertragungen der Gespenster in die Ferne und zurück wieder für manche wie Lecouteux und seinen Ur-Schamanismus zum Argument für die Rekonstruktion der Gespenster in der urtümlicheren Vergangenheit geworden sind?
Typisch Gespenst. Spukt selbst in seiner Analyse.
Kris Wagenseil
Historia V, 24: „Es ist wahrlich verblüffend, daß, wenn sich solche Dinge [daß Leichname von Toten umgehen] in der Vergangenheit zugetragen haben, nichts darüber in den Büchern der Alten steht, die so sorgfältig alles Denkwürdige aufzeichneten. Da sie nämlich nie versäumten minder wichtige Sachen niederzuschreiben, wie konnten sie denn etwas verschweigen, das so viel Aufsehen und Grauen erregt?“
Weiß nicht, ob dieser Textzeuge zu spät ist, aber der hier fehlt: Ludwig Lavaters “Gespenster” (Zürich 1578).
Die Archäologen Christopher Read und Catriona McKenzie fanden 2007 im irischen Lough Key im County Roscommon Skelette sogenannter “deviant burials” mit großen Steinen im Mundbereich (Datierung per C-14-Methode auf 7.-9. Jh.). Eine Rezension vom Institute of Technology Sligo datiert Vampir- oder Wiedergänger-Phänomene aus archäologischer Perspektive auf die Zeit um 1500 und später. Die Doku “Vampirskelette – Untote im Mittelalter” macht zwar die These stark, es hätte immerzu entsprechende Glaubensvorstellungen gegeben, muss aber eingestehen, dass ein Beleg für eine solche Praxis vor der ersten schriftlichen Erwähnung (die Doku erwähnt insbesondere William von Newburgh) aussteht. Als eventuell besondere irische Tradition eines frühen Vampirglaubens wird allerdings auch the First Synod of St. Patrick herangezogen. Doch ist der Begriff “vampire”, der hier in einer handelsüblichen Übersetzung Verwendung findet, irreführend. “Christianus qui crediderit esse lamiam in saeculo, quae interpraetatur striga…” steht mit der Verwendung des Begriffes “lamia” keinesfalls als Sonderfall dar, der mit der Behandlung der Toten zu tun hätte. Es geht einfach um das Verbot der Fortführung heidnischer Praxis (etwa heilzauberkundiger Frauen; vgl. Love Magic in Medieval Irish Penitentials, Law and Literature: A Dynamic Perspective von Jacqueline Borsje).
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