“Hilfe, wir machen uns verrückt!” – eine kurze Rezension zu diesem neuen Buch von Steve Ayan, Redakteur von Gehirn&Geist, gibt es im Blog des Religionswissenschaftlers Michael Blume vom 5. Febr. 2013. Aber um dieses Buch soll es hier nur am Rande gehen. Blumes Rezension interessiert sich insbesondere für Kriterien der Wissenschaftlichkeit. Darauf wird zurückzukommen sein. Es geht bei der angesprochenen Psychologisierung (des Alltags, “des ganzen Lebens”) um insbesondere zweierlei: Beruf und Liebe. Überall gelte es, sich zu optimieren bzw. umgekehrt wird immer mehr “pathologisiert” als sozusagen “falscher” Lebensstil: als “Symptom” für etwas. Was für eine Rolle spielt hier “Religion”? Geht es nur darum, “dass die boomende Zahl der post-religiösen ‘Seelsorge’-Anbieter knallhart auf Kundensuche ist” (Blume), oder müsste eine systematische Kritik / “Systemkritik” weiter ausholen?

Wie hier an der Kölner Hohenzollernbrücke gibt es weltweit an zentral gelegenen Brücken sogenannte "Liebesschlösser", welche Paare anbringen, um symbolisch ihre Liebe zum Ausdruck zu bringen. Ein Klick auf das Bild führt auf einen Artikel von Spiegel online vom 12. Oktober 2012 über die entgegengesetzte Praxis des "Lovepicking", welche mittels Aufbrechen der Schlösser fragt: "Was ist das für eine Gesellschaft, in der das Symbol für Liebe ein Vorhängeschloss ist?"
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Mit den “religiösen” bzw. “utopischen” Aspekten von “Arbeit” und “Bildung” wurde sich bereits in anderen Artikeln auseinandergesetzt. Z.B. Religion und Sexualität kam wiederum bisher eher am Rande vor (REMID sucht zu dem Themenbereich InterviewpartnerInnen). Leicht festzustellen ist allerdings, dass beide Bereiche “Beruf” und “Liebe”, wie sie auch die klassische Struktur eines Tageshoroskopes darstellen, relativ starken Wandlungsprozessen unterworfen sind (vgl. auch Interview “Ihr Kinderlein kommet? Religiosität und Familienideal als Faktor der Demographie“). Im Folgenden soll nun aus der Perspektive einer Metaebene, die keine Wertung vorwegnehmen soll, durchaus aber unter Einbezug der grundsätzlichen Historizität auch dieser Lebensbereiche und der sie prägenden Diskurse ihre systematische Funktionalität betrachtet werden. Radikale Positionen von besonderer “Natürlichkeit” oder “Künstlichkeit” der Verhältnisse können dabei als unterschiedliche Diskursstrategien verstanden werden. Die vermutlich im 19. Jahrhundert durchgesetzte “bürgerliche” Konzeption eines (patriarchalen) Joint Venture von Ehe und Beruf säkularisierte vorherige Formen z.B. religiöser Begründung der Verhältnisse. Dies geschah allerdings ohne eine vollständige Aufkündigung durch einen Aufbau paralleler Strukturen. Geheiratet wird per Standesamt sowie potenziell kirchlich. Daher resultieren bis heute Zuständigkeitsansprüche der Religionen (die dann auch insbesondere dort zum Tragen kommen, wo kirchliches Recht entscheidend wird, z.B. wo die Kirchen als Arbeitgeber in Erscheinung treten).
Man könnte schlussfolgern, für dieses Konzept einer bürgerlichen Gesellschaft (oder des “Kapitalismus”) ist die Verbindung von “Ehe” und Beruf konstitutiv. “Ehe” steht dabei in Anführungszeichen, da zu fragen bleibt, inwiefern das emanzipatorische Auflösen fester Geschlechterrollen diese konstitutive Verbindung aufbricht bzw. ob das ebenso für aktuellere Konzepte von “Partnerschaft” gilt. Indizienhaft sei auf ‘ideologiekritische’ Texte aus linkem Milieu verwiesen, welche sich entsprechend mit dem Konzept der “romantischen Liebe” auseinandersetzen (z.B. das “Manifest der Anti-Liebe” [vor 2001] von “CrimethInc”: “Die romantische Liebe ist die Regenerationsmaschine der Ware ‘Arbeit'”).
An dieser Stelle kommen die ‘neuen’ Seelsorger ins Spiel. Denn neue Ideale scheinen noch nicht überzeugend in Sicht. Auch die Mutter-Kind-Familie ließe sich ja, wie Nina Power in “Die eindimensionale Frau” bemerkt (Berlin: Merve 2011, man vgl. z.B. die Rezension in der TAZ), als Ideal konzeptionalisieren anstatt sie zu problematisieren (das Defizitäre am Begriff de[r/s] “Alleinerziehenden”). Oder man nehme die zumeist als Horrorvision gedachte Vorstellung, Beziehungen bzw. “das Private” vollständig in warenmäßige Dienstleistungen zu transformieren.
Überlastungserscheinungen in der Arbeitswelt sind aktuell immer häufiger ein Thema in den Medien. Inwiefern das auch für die Welt der Beziehungen gilt, lässt sich nur schwer einschätzen. Da selbst säkulare Psychologien mindestens in Ansätzen Idealvorstellungen von ‘gesunden’ Beziehungen bzw. Partnerschaften entwickeln – stehen diese nun im Detail im Widerspruch mit oder in Ergänzung religiöser Ideale -, wäre es schwerwiegend, sich hier für eine Schule zu entscheiden, um nach deren Folie “Überlastung” bestimmen zu können. Jedenfalls deuten Bücher wie die von Steve Ayan an, dass es ein Ansteigen subjektiven Leidensdrucks zu geben scheint – gleichgültig, ob man diesen ernst nimmt (und dabei unter Umständen die Pathologisierung fortschreibt) oder ob man eher beschwichtigt, das sei doch eigentlich ‘normal’ (aus dem Motiv heraus die Tendenz zur Pathologisierung und Selbstoptimierung zu kritisieren):
“Eine feste Grenze zwischen ‘normal’ und ‘gestört’ gab es noch nie; wo man sie zog, war schon immer davon abhängig, wie sehr man die Andersartigkeit von Menschen tolerierte. Heute ist ein wachsender Trend zu Pathologisierungen zu erkennen: Vor lauter Drang zur Selbstoptimierung erscheinen uns immer mehr Ticks als behandlungswürdige Störungen. Wer früher nur schüchtern war, leidet heute an sozialer Phobie. Jähzorn wird zur Impulskontrollstörung, Dünnhäutigkeit zur Hypersensibilität und der Hang, Erledigungen bis zum Sanktnimmerleinstag aufzuschieben, zur Prokrastination. Ein ungestümer Bewegungsdrang zeugt vom Aufmerksamkeits-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS), bei Erwachsenen genauso wie bei Kindern. Wer beim Essen extrem wählerisch ist, leidet an Orthorexie, und wer gefühlsmäßig nicht ‘mitschwingt’, ist alexithym” (Quelle: Ayan zitiert nach Blume, s.o.).
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Es ist nicht schwer, bei vielen der Beispiele Bezüge zum Berufsleben herzustellen. Dabei sind “wir” es, die “uns” “selbst” optimieren wollen. Und so wie “wir” “unseren” Kindern immer noch die “Märchen” des 19. Jahrhunderts vorlesen (oder sie abspielen lassen), so ist auch das alte Ideal des ‘Joint Ventures’ von – modifiziert – (gleichberechtigter) Partnerschaft und Beruf weiterhin gültig, auch wenn es realiter vielleicht nur mehr mit fremder Hilfe aufrecht erhalten werden kann. Ob das “Glück” dabei mittels Psychotherapie gekittet wird oder mittels Versenkungs- oder Körperübungen aus dem Traditionsfundus der Weltreligionen (und sei es als “Esoterik”, vgl. Artikel “Esoterik: Ein ungewolltes Kind von Reformation, Aufklärung und Kolonialismus?“), ist wie auch bereits der Leidensdruck eine subjektive Frage. Wo es subjektiv nichts gebracht hat, könnte es passieren, dass der Kundenstamm dieses Anbieters schwindet. Mit “seriöser” Wissenschaft mag vieles davon wenig zu tun haben. Und doch lässt mich als Religionswissenschaftler die allzu deutliche Parallele von “Psychologie” zu “Psychokult” und “Religion” zu “Sekte” davon Abstand nehmen, hier eine Differenzierung vorzunehmen (man vgl. aber das bereits früher einmal erwähnte Heft 3/2012 der Zeitschrift des Verbands der Psychotherapeuten zu Religion und Spiritualität, PDF). Entscheidender ist, dass der Unterschied für die hier vorgestellten Überlegungen keine Bedeutung hat – es sei denn lediglich als immanente Variation in der tatsächlichen ‘Effektivität’.

Erst die achte und letzte Wiegendruck-Auflage des Ehebüchleins Albrechts von Eyb (1495) enthält einen Holzschnitt (MRFH 40201). Die Abbildung zeigt, dass "Ehe-Berater" keine moderne Erscheinung sind: "Hie fragt ein jüngling einen heydnischen meister Ob einem mann sey zu nemen ein eelich weib oder nit. Hienach in disem buechlin wirstu die antwurt des meysters hoeren". Interessanterweise inspirierte die Formulierung des Textes den Nachdrucker Johann Schobser dazu, den Meister mit einem Turban darzustellen (bzw. einen solchen Holzschnitt zu wählen). Gemeint ist eigentlich Sokrates, der in seiner Antwort nahelegt, dass jede Entscheidung notwendig falsch sein müsse.
In der Verteidigung einer solchen “seelsorgenden” Schule spielen dabei unterschiedliche Konzepte von “Natürlichkeit” eine Rolle (die aber meistens biologisch oder religiös motiviert auf potenzielle Fortpflanzungsgemeinschaften hinauslaufen). Ähnlich spielen Naturalisierungen aktuell in der Beschreibungssprache des Wirtschafts(krisen)geschehens eine besondere Rolle (neben “Sachzwang”-Argumentationen). Offenbar bedarf es aber zur Aufrechterhaltung einer solchen “Natur” inzwischen in gesteigertem Umfang helfender Hände. Allerdings vermutlich gehörte das sogar von Anfang an dazu. Insofern wäre auch “Psychologisierung des Alltags” kein neues Phänomen, sondern eine seit dem 19. Jahrhundert etablierte Konstante, die immer wieder neue Terminologien entwirft und neue Schulen hervorbringt sowie die bisherigen stabilisierenden Institutionen wie z.B. die Kirchen ergänzt.
Kris Wagenseil
Eine Hannelore Schlaffer hat ein Buch über die “intellektuelle Ehe” geschrieben und meint damit allgemein einen “Plan vom Leben als Paar” als Modell der Partnerschaft im 20. Jahrhundert. Die Autorin ist etwas blauäugig, was die ökonomischen Entwicklungen betrifft, aber sonst ganz interessant:
http://www.heise.de/tp/artikel/38/38720/1.html
Danke für den interessanten Artikel!
Das aus meiner Sicht Problematische an der vermeintlich zunehmenden Pathologisierung ist, dass deren praktische Voraussetzungen in vielen der zahlreichen psychotherapeutischen Angebote eingeebnet oder “privatisiert” werden. Die Verhaltensweisen der behandelten Personen werden häufig ausschließlich mithilfe “wissenschaftlicher” (es wird beansprucht, dass es sich bei dem untersuchten Verhalten primär um kausal beschreibbare Phänomene handelt) Methoden begutachtet. Über die Wissenschaftlichkeit einiger dieser Methoden lässt sich sicherlich streiten, der entscheidende Punkt ist m.E. jedoch ein anderer: die Gründe, die Menschen in Bezug auf ihre Handlungen verfolgt haben, werden schlichtweg ausgeblendet, und Probleme, die eigentlich einen ethischen und politischen Gehalt haben, werden naturalisiert oder historisiert (System, Geschichte, Bewusstsein, Unterbewusstsein, Diskurs usf.). Fragen, die eigentlich von höchster ethischer, juristischer oder politischer (d.h. praktischer) Relevanz sein sollten, werden im hermeneutischen Hinterzimmer domestiziert. Die Imperative, die den Leuten an die Hand gegeben werden, unterliegen nicht mehr gesellschaftlich ausgehandelten Hypothesen, die dazu beitragen sollen, das Leben allgemein zu verbessern, sondern sie dienen der (gut finanzierten) Glückseligkeit von Privatpersonen.
Zwar sollte man keine Verfallsgeschichte daraus machen: die wissenschaftliche Beschreibung unseres Verhaltens und unserer Tätigkeiten kann ja durchaus hilfreich sein, denn ohne solche Beschreibungen können wir unser Handeln nicht orientieren. Der Umstand aber, dass die praktischen Dimensionen menschlichen Lebens zunehmend historisiert, naturalisiert und “hermeneutisiert” werden, lässt sich jedoch kaum von der Hand weisen. Vielleicht sind sie auch ein Zeichen dafür, dass unsere Wissenschaft nach wie vor sehr stark von Theorien beeinflusst sind, die sich darum bemüht haben Sein und Sollen in einen gemeinsamen Horizont zu integrieren, und diese Trennung “aufzuheben”: auf je ganz unterschiedliche Weise: Hegel, Stirner, Marx, Freud, Heidegger, Gadamer……
Grüße,
David
Das lässt tief blicken:
Leserbrief Thorsten Padberg, Berlin, im Psychotherapeutenjournal 1/2013, S. 47: “Gegenwärtig ist in der Psychologischen Psychotherapie eine Situation entstanden, in der die naturwissenschaftlichen orientierten Grundlagenwissenschaftler die psychotherapeutischen Praktiker instruieren sollen. Letztere stehen aber – aus den dargestellten praktischen Gründen – oft den Geisteswissenschaften näher. Das hat zu einer Anomalie im Wissenschaftsbetrieb geführt: Große Teile der psychologischen Forschungsliteratur werden von den Praktikern nicht gelesen, Forscher und Praktiker gehen recht gereizt miteinander um (vgl. Padberg, 2012 = Warum lesen Psychotherapeuten keine Forschungsliteratur? Psychotherapeutenjournal 11 [1], 10-17).”
“Der Weg dorthin zerfällt in mehrere Etappen, unterwegs zerfasert die Spannung. Außerdem ist diese Entwicklung auffällig autoritär strukturiert, nach Befehl und Gehorsam aufgebaut und mündet in eine seltsam halbesoterische Überwindungsphantasie. Wer darin das “Auditing” von Scientology sieht, liegt sicherlich nicht falsch. Mindestens genauso wahr ist aber, dass die Selbstoptimierung, die hier einer Selbstmaschinisierung gleicht, zu den Basisidealen zahlloser Religionen und philosophischer Schulen, ja auch und vor allem zum neoliberalen Kapitalismus gehört.” (Aus der Spiegel-Rezension zu dem neuen Kinofilm “After Earth” mit Will Smith).
Vielleicht wird am Ende die Liebe selbst zum Psychokult? Vom Ehe- zum Energiearbeitspartner (mit dem Begriff der Energiearbeitspartnerschaft entfiele auch die andauernde Notwendigkeit der Erläuterung für Sprachwandelunkundige, dass man zwar eine “Affäre” habe, aber niemanden betrüge).
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