Vom Human Brain Project über die angehäuften einer Auswertung harrenden Scherbenlager aus archäologischen Ausgrabungen zu dem reichhaltigen aufgearbeiteten Transkriptionsfundus des Deutschen Text Archives – in vielen Bereichen haben sich große Datensammlungen entwickelt. Als Digital Humanities versuchen Forschungsprojekte ihr jeweiliges Korpus zu erschließen und über sozusagen Big Data (vgl. auch Claas Triebel: Fünf Jahre nach dem Ende der Theorie, Telepolis 02. Juli 2013, unter Bezug auf Chris Andersons “End of Theory” von 2008) neue Methoden und Erkenntnisse zu gewinnen. REMID interviewte dazu den Religionswissenschaftler Frederik Elwert vom Bochumer SeNeReKo-Projekt “Semantisch-soziale Netzwerkanalyse als Instrument zur Erforschung von Religionskontakten”.

Schreiben am Tipitaka, Wat Chiang Man, Chiang Mai. Im SeNeReKo-Projekt werden buddhistische Texte des Pali-Kanons und altägyptische Quellen mittels computergestützter Verfahren ausgewertet.
Bild von Photo Dharma / Anandajoti (2011) unter Creative Commons Lizenz CC BY 2.0.
Worum geht es bei den “Digital Humanities”?
Dazu gibt es unterschiedliche Auffassungen, aber meiner Ansicht nach ist dies eher eine wissenschaftliche Bewegung als eine Disziplin.
Die Gegenstände der Digital Humanities können so unterschiedlich sein wie die Erforschung digitaler Kultur (z.B. Twitter-Netzwerke), die digitale Erforschung von Kultur (z.B. Analyse digitalisierter historischer Korpora) oder auch digitale Forschungskultur (z.B. wissenschaftliche Blogs).
Schon dadurch, dass wir E-Mails schreiben und für das Verfassen unserer Texte auf Computer zurückgreifen, sind wir eigentlich alle digitale Geisteswissenschaftler. Das neue an den Digital Humanities ist eigentlich, das nicht als unintendierte Nebenfolge eines allgemeinen Digitalisierungsprozesses zu sehen, sondern als vielversprechenden Prozess, den man aktiv gestalten will.
Welche Wissenschaften nehmen daran teil? Welchen Anteil haben Geisteswissenschaften? Welchen Naturwissenschaften oder Informatik?
Eine Paradedisziplin ist sicherlich die Computerlinguistik: Ausgehend von klassischen sprachwissenschaftlichen Fragen hat sich hier eine eigenständige Disziplin herausgebildet, die sehr aktiv Methoden der Datenverarbeitung nicht nur angewandt, sondern auch weiterentwickelt hat.
Geisteswissenschaften und Informatik sehe ich hier als die relevantesten Wissenschaftszweige, und die Zusammenarbeit kann von beiden Seiten ausgehen. Man kann die Informatik als reine Hilfswissenschaft betrachten, aber auch zur Kenntnis nehmen, welche neuen Perspektiven in der Informatik selbst entstehen, z.B. in der Frage der Datenvisualisierung.
Die Naturwissenschaften sehe ich hier als weniger wichtig. Die Sozialwissenschaften nehmen eine ganz interessante Stellung ein: Während die quantitative Sozialforschung ja schon lange die Möglichkeiten computergestützter Analyse nutzt, scheint sich mir die qualitative Sozialforschung nun eher den Ansätzen anzuschließen, die aus dem Feld der Digital Humanities kommen.
Welche konkreten Projekte können “Digital Humanities” zugeordnet werden?
Lange Zeit waren dies vor allem Digitalisierungsprojekte, wie die Perseus Digital Library oder der Thesaurus Linguae Aegyptiae. Mit den jüngsten Ausschreibungen insbesondere des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) ist eine ganze Reihe von Projekten gestartet, die auf der Grundlage digitaler oder digitalisierter Materialien ganz konkreten Fragen nachgehen wollen. Das finde ich spannend, weil damit ausgelotet wird, welchen wirklichen Mehrwert es hat, mit digitalen Quellen zu arbeiten – über Strg+F [Tastenkombination zum Durchsuchen eines Dokuments; Anm. Red.] hinaus.
Das Spektrum ist unglaublich breit. Besonders interessant finde ich dabei, dass über die Methoden auf einmal auch etwa Politikwissenschaftler und Altertumshistoriker miteinander ins Gespräch kommen, wenn es um die Ausbreitung bestimmter gesellschaftlicher Vorstellungen geht.

Paris, Musée du Louvre, E 7717. Eine Stele zeigt die Götter von Theben, Heliopolis und Memphis: Amun-Ra, Re-Harachte und Ptah, umrahmt von Hieroglyphen.
Bild von Guillaume Blanchard (Aoineko) unter Creative Commons Lizenz CC BY-SA 3.0.
Wie verortet sich ihr eigenes Projekt innerhalb dieses Metakonzepts?
Im SeNeReKo-Projekt arbeiten wir an Verfahren zur computergestützten Textanalyse. Mit der Verfügbarkeit riesiger digitaler Sammlungen ist das – eigentlich ja nicht neue – Problem noch einmal offenbar geworden, dass ein einzelnes Wissenschaftlerleben gar nicht ausreicht, um die Materialmenge zu durchdringen. Von sogenannten Text-Mining-Verfahren erhoffen wir uns, gewissermaßen Schneisen durch das Dickicht zu schlagen. Dabei erwarten wir uns nicht, dass uns der Computer Antworten liefert – aber vielleicht gibt er Hinweise darauf, welche Fragen sich lohnen.
Konkret versuchen wir, den Konsequenzen historischer Religionskontakte mithilfe von netzwerkanalytischen Verfahren nachzuspüren. Die Auswahl zweier ganz unterschiedlicher Korpora – des buddhistischen Pali-Kanons und altägyptischer Quellentexte – soll dabei helfen, möglichst verallgemeinerbare Methoden zu entwickeln, die sich dann auch für weiteres Material nutzen lassen.
Neben der besseren Verfügbarkeit von digitalen Ressourcen werden von solchen Datenprojekten ja auch konkrete Forschungsergebnisse erwartet (so wie das europäische Human Brain Project oder das amerikanische Brain Activiy Map Project helfen sollen, bestimmte Krankheiten besser zu verstehen). Kann man schon etwas dazu sagen, inwiefern Wunsch und Realität hier zusammenkommen oder wo nicht?
Für mich war es erst einmal faszinierend zu sehen, was auch auf dem Gebiet der Textanalyse bereits alles möglich ist. Es ist letztlich viel Suchmaschinentechnologie dabei: Auch hier hat man ja versucht, möglichst viel semantischen Gehalt zu berücksichtigen, um Anfragen passgenau beantworten zu können. Auf der anderen Seite ist die Warnung vor überzogenen Erwartungen auch berechtigt: Computer sind von einem wirklichen Verstehen noch sehr weit entfernt.
Wir sind selbst sehr gespannt, was am Ende dabei einmal herauskommt. Aber ich glaube schon, dass die neuen technischen Möglichkeiten auch neue Zugänge auf das Material eröffnen. Als in den 1980er Jahren PCs leistungsfähig genug wurden für statistische Berechnungen, hat dies in der Soziologe Dinge ermöglicht, die zuvor nicht denkbar waren. Texte sind ein ungleich komplexeres Problem, aber aktuelle Rechner ja auch wesentlich leistungsfähiger. Ich glaube, die aktuellen Entwicklungen erlauben Geisteswissenschaftlern, ihre Phantasie spielen zu lassen und darüber nachzudenken, was wir mit unserem Material eigentlich machen wollen würden, wenn wir denn könnten – denn wir können einfach immer mehr.
In Ihrem eigenen Projekt geht es, wie Sie eben sagten, um “Konsequenzen historischer Religionskontakte”, denen ihr mithilfe von netzwerkanalytischen Verfahren nachgeht. Haben Sie da ein Beispiel, wo sich bereits Ergebnisse einstellten oder wie diese aussehen könnten? Geht so ein Ansatz dabei nicht auch notwendig davon aus, es gebe etwas universell Gültiges – eine “natürliche” (?) Regel der Religionskontakte?
Auf dem Weg müssen wir eine Menge ganz praktischer Probleme lösen, deshalb haben wir noch keine konkreten Ergebnisse. Wir sind selbst sehr gespannt, was am Ende herauskommt. Eine universelle Regel erwarten wir aber nicht. Dazu ist auch das Quellenmaterial zu unterschiedlich. Meine Kollegen, Beate Hofmann und Sven Wortmann, könnten dazu sicherlich mehr sagen, ich bin in dieser Hinsicht ja selbst Lernender. Aber im Falle das Pali-Kanons haben wir eine Sammlung narrativer Texte, in denen unter anderem das Verhältnis des Buddhismus zu anderen religiösen Gruppen bestimmt wird. Hier erhoffen wir uns Aufschluss über die diskursiven Formationen sowie die narrativen und rhetorischen Muster, die diese Verhältnisbestimmung prägen.
Im Falle der ägyptischen Texte haben wir zu bestimmten Zeiten das Phänomen eines politischen Überlegenheitsanspruchs, der aber mit der Übernahme religiöser Vorstellungen aus benachbarten Regionen einhergeht. Die Spuren dieses Kulturtransfers möchten wir gerne sichtbar machen.
Wie jede Analyse stellen wir mit den Netzwerken etwas her, das abstrakter ist als das Material, von dem wir ausgehen. Ich gehe nicht davon aus, dass diese Strukturen eine natürliche Eigenschaft des Materials sind und wir daher etwas wie eine zugrundeliegende Regel entdecken können. Wir verfremden vielmehr bewusst unseren Blick auf die Quellen, um Überraschendes bemerken zu können. Aber am Ende kann wieder nur eine ganz klassische Quellenlektüre sagen, ob wir tatsächlich etwas Relevantes entdeckt oder Artefakte erzeugt haben. Das Wechselspiel von Abstraktion und Konkretion ist uns daher sehr wichtig.
Wenn es sehr gut läuft, und wenn wir irgendwann noch mehr Material in komparativer Hinsicht dazunehmen, kommen wir vielleicht einmal zu einer Typologie von Religionskontakten. Aber das wäre ja nichts, was erst mit dem Aufkommen der Digital Humanities zum Instrumentarium der Religionswissenschaft gehörte.

Netzwerkanalyse von Stichproben aus dem buddhistischen Pali-Kanon. Zur Vergrößerung klicken Sie bitte auf die Grafik. Knotenpunkte bilden sich um Begriffe wie “der Erhabene”, “Mönch”, “Brahmane” sowie “sagen” oder “fragen”. Die Farben zeigen Cluster eng verknüpfter Begriffe.
Das klingt in der Tat sehr abstrakt. Nehmen wir den Pali-Kanon. Um welche narrativen und rhetorischen Muster könnte es da z.B. gehen, welche das Verhältnis zu benachbarten religiösen Gruppen bestimmen?
Der Pali-Kanon, so sagt es mein Kollege Sven Wortmann, ist unter anderem deshalb interessant, weil im Kontakt mit unterschiedlichen religiösen Experten und Gruppen deren Terminologie aufgegriffen, dann aber entsprechend der buddhistischen Lehre umgedeutet wird. Für uns ist interessant, wer mit wem über was spricht, welche Themenfelder also schwerpunktmäßig mit welchen Gruppen verbunden werden.
Zwar sind wir für Pali noch nicht so weit, dass wir unsere Analysen schon über große Textmengen laufen lassen können. Aber wir haben einmal ein Experiment mit einer kleinen Textgruppe gemacht und diese mit netzwerkanalytischen Verfahren ausgewertet. Man sieht, was für diese Textgruppe wenig überraschend ist, dass der „Erhabene“, „Mönch“ und „Brahmane“ die zentralen Akteure sind, und dass sie vor allem über die Verben „sagen“ und „fragen“ miteinander verbunden sind. Interessanter sind aber bestimmte inhaltliche Cluster. Da mir der Hintergrund fehlt, um die Ergebnisse inhaltlich zu interpretieren, habe ich Sven Wortmann einmal um eine Einschätzung gebeten:
Das Cluster „lenken – ziehen – Welt – Macht – gehen – entstehen – Geist“ ist insofern typisch buddhistisch, als es den menschlichen Geist als Motor der Welt beschreibt. Das Cluster „gelehrt – von großer Einsicht – von scharfer Einsicht – denken – eigener Schaden – anderer Schaden – eigenes, anderes und beiderseitiges Wohl“ ist ein Beispiel für interreligiöse Umdeutung: Der brahmanische Begriff „gelehrt“ (im Sinne einer Texttradition) wird hier als Gewaltlosigkeit in Gedanken und Tat definiert und somit im Sinne der buddhistischen Ethik umgedeutet.
Das ist natürlich erst ein erster Versuch, aber ich denke, man kann eine Vorstellung davon bekommen, in welche Richtung eine solche Analyse gehen kann.
Danke für das Interview.
Das Interview führte Kris Wagenseil.
Sehr spannend, vielen Dank! 🙂
Ich bin sehr optimistisch, dass uns da einige fruchtbare Arbeiten und Erkenntnis-Überraschungen bevorstehen könnten! Freue mich schon darauf, das dann zu lesen – vielleicht ja auch auf dem REMID-Blog!? 😉