Von Paulus bis Scientology: Ein Buch über Sekten-Macher und neue religiöse Bewegungen

Die heutige religiöse Vielfalt und die sie kennzeichnenden gesellschaftlichen Debatten und Konflikte sind nicht angemessen zu verstehen ohne ein Hintergrundwissen der europäischen Geschichte der Religionen. Das betrifft die Sektendebatte (vgl. auch “In Sekten”? Religiöser Nonkonformismus als Auslöser kultureller Dynamik – aktuelle Ansätze in der Religionsforschung), die Auseinandersetzung mit neueren islamischen Bewegungen (vgl. Von Jugend, Radikalisierung und “Sektenberatungen” nicht nur im Islam – ein Déjà-Vu) wie auch die allgemeine Situation der Religionsfreiheit als Menschenrecht im Land (vgl. Religionsfreiheit hat in Deutschland keine Lobby). Zur “wunderbaren Welt der Sekten”, wie neue Religionen oft diskriminierend bezeichnet werden, interviewte REMID den Religionssoziologen Dr. Gerald Willms zu seinem neuen Buch, welches das Thema auch für den interessierten Laien verständlich aufbereitet.

978-3-525-56013-6

Mit Ihrem Titel “Die Wunderbare Welt der Sekten” (Göttingen 2012) sprechen Sie bei den Leser_innen eine bestimmte Erwartungshaltung an. Warum dieser Titel, wo es doch um “neue religiöse Bewegungen” und “Sekten-Klischees” geht?

Ich wollte den an religiösen Phänomenen interessierten Menschen ohne religionswissenschaftliche Fachkenntnisse – also den „normalen“ Menschen, wenn ich das hier augenzwinkernd sagen darf – begrifflich in seiner Welt abholen. Und in der Welt der religionswissenschaftlichen Laien gibt es nun mal neben der durch die etablierten Kirchen repräsentierten „guten“ Religion die „bösen“ Sekten [Willms verwendet im Buch wie aktuelle religionswissenschaftliche und -soziologische Literatur nicht diesen diskriminierenden Begriff, sondern spricht von “neuen religiösen Bewegungen”; Anm. Red.]. Und da ich ja über die religiösen Gemeinschaften spreche, die gemeinhin als „Sekten“ in der Öffentlichkeit thematisiert werden, liefere ich, was der Titel verspricht.
Erwartungshaltungen enttäusche ich nur bei jenen, die erwarten, dass ich mich am allgemeinen – oft als „Aufklärung“ getarnten – „Sekten-Bashing“ beteilige. Das tue ich nicht. Aber wer die Neugier aufbringt, den hinteren Umschlagtext des Buches zu lesen, wird darüber informiert, dass mein Thema die „2000-jährige Kultur- und Ideengeschichte der religiösen Bewegungen des Abendlandes“ ist. Deswegen thematisiere ich über die üblichen Verdächtigen aus der Sektenlandschaft hinaus auch jene religiösen Phänomene, die aus christlicher Kulanz niemals in den marktüblichen „Anti-Sekten-Büchern“ auftauchen wie z.B. christliche Mönchsgemeinschaften, von denen etliche die gängigen Sektenklischees besser erfüllen als beispielsweise die Vereinigungskirche oder Scientology.

Sicherlich für manche Leser_innen ungewohnt dürfte auch der Umstand sein, dass Sie mit einer Religionsgeschichte des christlichen Pluralismus beginnen. Was bewog Sie zu dieser Vorgehensweise?

Wie eben schon gesagt: Ich habe eine – platzbedingt sehr kleine – Kulturgeschichte der religiösen Bewegungen des Abendlandes geschrieben. Genau das wäre mein Untertitel des Buches gewesen, wenn hier nicht sogenannte Marketing-Experten des Verlags am längeren Hebel gesessen hätten. Wenn wir mal kurz so tun, als wäre das der sinngemäß richtige Untertitel dann lautet meine Antwort auf die Frage: Ich habe einfach vorne angefangen und da war das eben so. Vor 2000 Jahren fallen ja nicht Jesus, die Kirche und ein paar Millionen Christen vom Himmel. Nein, das beginnt mit einem Häretiker, der u.a. wegen Religionsfrevel hingerichtet wird, und einer Handvoll Anhänger, die schon bevor die Bewegung als solche historisch erkennbar wird, in sogenannte Juden-Christen und Heiden-Christen gespalten ist. Und mit dem Wachstum der christlichen Bewegungen gehen zahlreiche ideologische innerchristliche Grabenkämpfe um das „wahre“ Christentum einher. Nach ein paar Jahrhunderten setzt sich eine Strömung als die mächtigste durch, nimmt für sich in Anspruch die Kirche zu sein und deklariert alle anderen Strömungen als Häresien bzw. Sekten [Anm. der Red.: Sekte ist der lateinische Parallelbegriff des griechischen Wortes Häresie in der Literatur der Kirchenväter]. Und aus dem kirchensprachlichen Gebrauch der Begriffe Sekte/Häresie als Kennzeichnung nicht nur für eine „andere“, sondern für eine „falsche“ religiöse Denk- und Lebensweise, leitet sich die rein negative Wortbedeutung ab.

Aber um zurück auf die Ursprungsfrage zu kommen: Das real existierende Christentum war niemals nur „die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche“ als die sich die lateinische Papstkirche selbst betrachtet. Das ist nur die uns geläufige Sichtweise auf die weltweit größte und in Kontinentaleuropa mächtigste der christlichen Kirchen. Faktisch gibt es in der Gegenwart mehrere Zehntausend eigenständige christliche Bekenntnisse bzw. Kirchen – die meisten davon natürlich protestantische.

Auch der Einbezug des Themas “Esoterik” (vgl. Esoterik: Ein ungewolltes Kind von Reformation, Aufklärung und Kolonialismus?) ist insofern spannend, als sicherlich bisherige “Anti-Sekten-Literatur” ebenfalls diesem Sammelbegriff gerne Kapitel widmete, aber sie innerhalb der Neuen-Religionen-Forschung der Religionswissenschaft lange eher stiefmütterlich behandelt wurde.

Ich weiß nicht, ob ich das wirklich kompetent beantworten kann. Das sind aus meiner Sicht auch ganz verschiedene Fragen. Für die historisch-philologisch orientierte Religionswissenschaft ist da wohl wenig zu holen, weil das immer schon ein leidenschaftlich theologisch-dogmatisch besetztes Thema war: Von Gnosis und Neuplatonismus über die mittelalterliche christliche Mystik bis hin zu Theo- und Anthroposophie. Für die jüngere und stärker sozialwissenschaftlich orientierte Religionswissenschaft fehlt bei esoterischen Phänomenen der Gegenwart oft das „soziale“ Element und überdies sperren sich viele zeitgenössische Esoterik-Phänomene gegen eine ideen- oder kulturgeschichtlich konkludente Betrachtungsweise. Mein empirischer Befund für die Gegenwartsesoterik ist, dass es sich dabei um ein buntes Sammelsurium unterschiedlichster Ideen und Praktiken handelt, die aus allen realen, imaginierten oder transzendenten Welten und Zeitaltern geschöpft sind und sich in allen erdenklichen Sozialformen manifestieren. Das ist zweifellos religionswissenschaftlich unbefriedigend, aber jeder Versuch, das Gesamtphänomen unter einen begrifflich eindeutigen Hut zu stopfen, ist meines Erachtens zum Scheitern verurteilt. Es bleibt also lediglich die Möglichkeit, einzelne Phänomen, historische Phasen oder bestimmte Aspekte zu fokussieren, aber die Ränder werden immer unscharf bleiben und eine Gesamteinordung ist am Ende kaum möglich.

Was die Thematisierung der Esoterik in der Anti-Sekten-Literatur betrifft, so sind die gerade geschilderten Probleme hier von Vorteil. Zunächst ist das esoterische Feld wirklich bunt und unerschöpflich. Da kann man sich also immer irgendwas rauspicken, mit dem Finger drauf zeigen und sagen: „Guckt mal, was für doofe Sachen die machen, die sind ja alle verrückt“ oder „Schaut mal, die spielen da mit Runen, die sind alle rechtsextrem“ oder „seht her, die reden von Lucifer [d.i. auch der „Lichtbringer“ des antiken Götterhimmels, Anm. der Red.], das sind alles Satanisten“. Die Beispiele lassen sich beliebig fortführen. Das heißt, man wird für alles, was man allgemein über Esoterik behaupten will, auch irgendwelche mehr oder weniger passenden Einzelbeispiele finden; obwohl die niemals repräsentativ sind. Aber die Rahmenbedingungen dafür, dass da jedes Beispiel als allgemeines Klischee überdauern kann, sind günstig. Erstens: Um hier irgendwelche Behauptungen aufzustellen, braucht man keine tiefer gehenden Kenntnisse, denn die liegen im Regelfall auch bei den Konsumenten der Anti-Sekten-Literatur nicht vor. Das ist beim Christentum schon anders. Zweitens: Da es keine „esoterische Kirche“ oder auch nur einen esoterischen Grundkonsens gibt, gibt es auch kaum jemanden, der sich dazu aufrafft, irgendwas im Namen der Esoterik zu bestreiten oder klarzustellen. Und drittens gibt es – wie gerade angedeutet – auch keine religionswissenschaftliche Lobby für „die“ Esoterik; allenfalls ein paar elaborierte Phänomene, z.B. innerhalb der Wicca-Bewegungen, verfügen über so etwas.

Es gibt auch ein Kapitel über die Sektengegner-Szene bzw. “Sektenmacher”. Um wen handelt es sich da? Und aus welchen Motiven heraus agieren sie? Welches Klientel wendet sich an sie und wie könnten alternative Beratungsansätze aussehen?

In den anfänglichen Fragen sind, glaube ich, schon ein paar Dinge angeklungen. Da sich ja noch nie eine religiöse Gemeinschaft als „Sekte“ bezeichnet hat, handelt es sich dabei immer um eine Zuschreibung von außen und immer in einer abwertenden, negativen Intention. Das heißt unabhängig davon, was eine religiöse Gemeinschaft selbst tatsächlich will oder tut: wenn sie als „Sekte“ in der Öffentlichkeit auftaucht, dann ist sie ein allein von der Außenwelt konstruiertes Phänomen. Genauer: Ein mit konkreten Stigmatisierungsinteressen konstruiertes Phänomen. Dabei sind die Motive sehr unterschiedlich, weshalb man am besten von einer Anti-Kult-Szene spricht.
Da tummeln sich zunächst die sogenannten Aussteiger und „Opfer“, also Menschen, die aus irgendwelchen Gründen schlechte Erfahrungen mit ihrer religiösen Gemeinschaft gemacht haben. Dazu muss man anmerken, dass das absolut gesehen nur sehr wenige sind. Und „Sektenmacher“ ist darunter auch nur jene Minderheit, die sich bei den Geschehnissen als schuldloses Opfer sieht und zur öffentlichen Apostasie bereit ist. Vor allem in den 1970er und 80er Jahren waren diese „Opfer“ übrigens mehrheitlich sekundär betroffen, d.h. sie waren Eltern, andere Verwandte oder Freunde, die keinerlei Verständnis für die religiöse Orientierung der ihnen nahestehenden Menschen aufbrachten.

Aus dieser Zeit stammen die meisten Eltern- und Betroffeneninitiativen, die als „Anti-Kult-Organisationen“ eine wichtige Rolle im Kreis der weltlich orientierten Sektenmacher spielen, weil sie im Wortsinne „organisiert“ sind. Noch bedeutsamer und besser organisiert ist die Anti-Kult-Arbeit der etablierten Kirchen, deren Motiv natürlich aus der als solcher empfunden religiösen Konkurrenzsituation entspringt. Da hat sich in den letzten 10 bis 15 Jahren glücklicherweise vieles geändert, aber dem Ganzen unterliegt noch immer der herrschaftliche Gestus, andere Religionen und Weltanschauungen zu beaufsichtigen, moralisch zu bewerten und ggf. öffentlich vor ihnen zu warnen. Aus diesen beiden Spektren der organisierten Anti-Kult-Szene hat sich noch ein dritter Typus gebildet, für den die genannten Motive eher nebensächlich sind, weil es dort um professionelle, d.h. berufsmäßig ausgeübte Anti-Sekten-Arbeit geht. Zahlenmäßig ist das zwar der kleinste Teil der organisierten Anti-Kult-Szene, aber fraglos der bedeutsamste, weil hier ja gewissermaßen professionell „gemobbt“ wird. Und dazu gehört das Erzeugen eines größeren öffentlichen – medialen und politischen – Interesses. Und damit ist man bei den Medien bzw. bei den Journalisten, die sich in irgendeiner Weise auf das Sektenthema einlassen. Denen sind die bisher genannten Motive wohl eher egal. Sie leben letztlich vom Verkauf der Sekten-Horrorstorys, das heißt von dort ist alles zu erwarten, aber keine „Aufklärung“. Das Ganze ist also eine ziemliche Gemengelage, aber der Kitt der Anti-Kult-Szene bzw. der „Sektenmacher“ ist letztlich das gemeinsame Interesse an der Erzeugung und Aufrechterhaltung von Sektenklischees.

Zu möglichen alternativen Beratungsansätzen kann und möchte ich gerne nichts sagen. Das ist einfach nicht meine Baustelle. Man kann dazu aber mal in das Buch von Peter Schulte [Neue Religiöse Bewegungen. Gesellschaftliche Dramatisierungsstrategien und soziale Wirklichkeit, Hamburg 2012; Anm. d. Red.] schauen. Das basiert auf den Erfahrungen einer Beratungsstelle bzw. eines Beraters, der da eine tatsächlich religionswissenschaftlich neutrale Sichtweise hat.

Zu Scientology (vgl. auch unsere Kurzinformation sowie Erinnerungen an die Zukunft? “Science Fiction” oder “Scientology”?), der auch ein eigenes Kapitel gewidmet ist, hatten Sie 2005 eine Monographie veröffentlicht. Inwiefern nimmt Scientology eine besondere Rolle in der Sektendebatte ein?

Scientology ist in Deutschland Mitte der 1990er Jahre einfach zum Synonym der bösen Sekte geworden. Da spielen einerseits die Sektenmacher eine überragend wichtige Rolle, die bei Scientology wirklich jedes Augenmaß verloren haben. Ich will das jetzt hier nicht im Einzelnen diskutieren, aber den literarisch behaupteten Leichenbergen und den global ergaunerten Milliardenbeträgen steht in Deutschland eine gerichtlich dokumentierte Realität entgegen, in der für Scientology vorwiegend Verleumdungsklagen, Verstöße gegen das Heilpraktikergesetz und einige Ordnungswidrigkeiten wie das unerlaubte Verteilen von Handzetteln anhängig sind.
Andererseits gibt hier es aber auch ein paar zusätzliche Faktoren, die zu dieser negativen Popularität beigetragen haben. Und man kann durchaus vorneweg erwähnen, dass die Scientology-Organisation da nicht ganz unschuldig ist. Zunächst ist Scientology sehr, sehr amerikanisch, d.h. mit sehr wenig bis gar keinem Gespür für andersdenkende Menschen oder nationale Besonderheiten ausgestattet. Dass die „Germans“ alle „Nazis“ sind, wenn sie Scientology-Kritik üben, versteht zwar der Durchschnittsamerikaner, aber in Deutschland berührt man damit andere Empfindlichkeiten. Auch die Erfolgsmythologie, die Eroberer- und Gewinnermentalität, die das scientologische Selbstbild teilweise bis zur Schmerzgrenze prägen, kommen letztlich nur im amerikanischen Kontext uneingeschränkt gut an. Dann hat sich die Organisation immer mal wieder auch ein paar interne und externe Affären geleistet, bei denen es vielleicht besser gewesen wäre, man hätte dazu mal ein paar Dokumente auf den Tisch gelegt, sich ggf. entschuldigt und „rückhaltlose“ Aufklärung versprochen. Aber Scientology ist – konform mit Hubbards Lehre – generell ziemlich konfrontativ. Das heißt, so etwas wie ein duldsames Hinhalten der anderen Wange gibt es im Streitfall nicht: Da wird sofort zurückgeschlagen! Und dazu hat Hubbard tatsächlich einige, sagen wir mal: „dumme“ Dinge gesagt und das scientologische Bemühen, das zu bestreiten oder solange neu zu übersetzen, bis es weichgespült oder sogar verschwunden ist, ist auch aus neutraler Perspektive nur bedingt klug. Und im Zusammenhang der Konfliktbewältigung mit Apostaten scheut sich die Organisation auch niemals, die viel zitierte schmutzige Wäsche zu waschen, wenn man sich davon Vorteile erhofft.

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Aber um auch die anderen Rahmenbedingungen anzusprechen: Scientology bietet letztlich eine Psycho-Technik an und da liegt es schon begrifflich nahe, dass hier das Klischee der „Gehirnwäsche“ verwendet werden kann und in einer hochgradig psychologisierten Gesellschaft wie der unseren auch sofort greift. Weiterhin verfügt Scientology mit Tom Cruise, John Travolta und noch einigen anderen Promis über den Glamour-Faktor, das heißt für den Medienboulevard steckt da noch mehr drin als reine Opferberichterstattung. Und wenn ein Thema in den Niederungen des Boulevards verhandelt wird, dann tauchen schnell auch selbsternannte „Scientology-Experten“ auf, die mit ihrem „Sektenwissen“ aus den bunten Blättern hausieren gehen. Am Ende ist das Thema dann so in aller Munde, dass zu allem Überfluss auch noch einige Volkvertreter auf den Zug aufspringen. Ich will da jetzt keine Namen nennen, aber schauen Sie sich die führenden Köpfe des Anti-Scientology-Kampfes um die Mitte der 1990er Jahre an und Sie wissen was und wen ich meine…

Ein Unterkapitel behandelt “erfundene Religionen”. Inwiefern stellen sie Religionswissenschaftler_innen vor Probleme?

Die Religionswissenschaft der Gegenwart lehnt es ja mit Recht ab, zwischen „echten“ und vermeintlich „falschen“ Religionen zu unterscheiden, weil das eine theologische bzw. eine dogmatische Perspektive ist, die den Wahrheitsbesitz voraussetzt. Eine im engeren Sinne wissenschaftliche Perspektive kann nicht über die Wahrheit metaphysischer Glaubensgründe urteilen; also beispielsweise ob „unser“ oder ein anderer Gott oder eine sonstige übersinnliche Entität „echt“ ist. Der empirische Ausgangspunkt der Religionswissenschaften ist die Tatsache, dass es Menschen gibt, die sich im Glauben an die eine oder andere Wahrheit zusammenfinden und damit zu Konstituenten einer Religion werden. Für die Beschreibung und Analyse eines in diesem Sinne empirischen Sachverhalts ist es völlig egal, ob der tiefere Grund seiner Existenz „wahr“ ist oder nicht. Das zu verstehen, fällt vielen, vor allem natürlich gläubigen Menschen schwer. Aber: Wenn der Apfel vom Baum nach unten fällt, dann ist das so, egal ob dahinter die Schwerkraft oder Gottes Wille steht. Nun gibt es allerdings tatsächlich Religionen, die zunächst ohne transzendenten Hintergrund und ganz bewusst als Parodie oder Protestbewegung gegründet wurden. Diesen Phänomenen könnte man theoretisch attestieren, sie seien „falsche“ Religionen. Aber faktisch haben sich Teile dieser Religionen verselbstständigt, einen transzendenten Hintergrund generiert und Anhänger gefunden, die sich in einem engeren Sinne als religiös verstehen. Tja, und das war es dann auch schon für die Religionswissenschaft, die sich da wieder nur auf den empirischen Sachverhalt und nicht auf die Glaubensgründe beziehen kann. Wen diese Dinge interessieren, der mag unter Stichworten wie Jediismus oder Fliegendes Spaghetti Monster nachschauen. Wer es etwas ernsthafter mag, kann mal unter dem Stichwort Cargo-Kulte nachschlagen und dann drüber sinnieren, ob das nun „echte“ oder „falsche“ Religionen sind.

Mit etwas Humor unterfüttert stellen Sie am Schluss eine Typologie auf von “Adorno-Religionen”, “Feierabend-Religionen” und “Ellenbogen-Religionen”. Was ist gemeint?

Ich glaube, es wäre nicht gut gewesen, am Ende gar keine Interpretationsmöglichkeit anzubieten, mit dem man sich in diesem komplexen Thema orientieren kann. Die Religionswissenschaftler wissen natürlich, dass es etliche Ansätze der Kategorisierung und Differenzierung gibt. Leider setzen die meisten Ansätze relativ viele Fachkenntnisse voraus, weshalb sie sich nur bedingt für den religionswissenschaftlichen Laien eignen. Eine Ausnahme ist der weithin akzeptierte Ansatz von Roy Wallis, der, in Anlehnung an Max Weber, neue religiöse Bewegungen in „world-rejecting-“, „world-accommodating-“ und „world-affirming-movements“ kategorisiert. Diese auf Deutsch etwas sperrig zu übersetzenden Begriffe habe ich assoziativ und etwas plastischer adaptiert. Im Kern geht es um das Verhältnis religiöser Gemeinschaften zu der sie umgebenden „normalen“ Welt. Da gibt es eben Gruppen, die diese, „unsere“ Wirklichkeit völlig ablehnen und sich entsprechend verhalten. Adorno-Religionen habe ich das genannt, weil es einen geflügelten Satz nach Theodor W. Adorno gibt, nach dem es „kein richtiges Leben im falschen“ gibt. Für diese Religionen und ihre Anhänger ist die gegebene Welt grundsätzlich „falsch“, eine Illusion, ein Irrtum oder allenfalls ein göttlich errichtetes Straflager, das demnächst vernichtet wird und das es durch bedingungslosen Gehorsam perspektivisch zu überwinden gilt. Mit der gegebenen Welt kann man sich demzufolge nicht arrangieren, sie wird grundsätzlich zurückgewiesen, sodass man hier typischerweise auf sehr dichte und von der Welt abgeschottete Sozialformen trifft. Das findet man beispielsweise bei Jehovas Zeugen oder der gerade mal wieder in den Medien thematisierten „Gemeinschaft der Zwölf Stämme“ [vgl. Peter Pan und die zwölf Stämme: Das Spiel als Paradigma; Anm. Red.]. Auch ein so spektakuläres Esoterik-Phänomen wie Heaven‘s Gate kann man hier einordnen. Die besten Beispiele dafür geben freilich eher die traditionellen Mönchsgemeinschaften ab – egal ob sie christlich, buddhistisch oder hinduistisch sind.
Mit den Feierabend-Religionen sind jene gemeint, die sich mit der normalen Welt arrangieren. Typische Anhänger einer Feierabend-Religion leben den Alltag nach den alltäglichen Regeln der anderen. Nach Feierabend, also außerhalb des Alltags, schlüpft man in sein anderes Ich und lebt die Wahrhaftigkeit seiner religiösen Wirklichkeit aus. Hierzu gehören die meisten radikalen Christen, allen voran die Pfingstler und Charismatiker, und viele der (insgesamt sehr wenigen) sozial organisierten esoterischen Gemeinschaften.
Die „affirming-movements“ habe ich mit Ellenbogen-Religionen übersetzt, weil sie der gegebenen Welt mit einer gewissen Übererfüllungsmentalität begegnen. Dazu gehören viele Gemeinschaften, die sich selbst als „satanistisch“ bezeichnen oder die der männlich geprägten Ordensesoterik zugerechnet werden können, viele Ausprägungen des christlichen New Thought, die Transzendentale Meditation und natürlich Scientology. Diese Religionsformen zeichnen sich dadurch aus, dass sie bestimmte Elemente des ideologischen Grundinventars der modernen Welt (Freiheit, Individualismus, Wettbewerb, Erfolg usw.) als transzendente – typischerweise als „wissenschaftlich bewiesene“ – Wahrheiten in das Selbstbild eingeflochten haben. Und viele dieser Religionen bieten dementsprechende religiöse „Techniken“ an, mit denen man frei, reich und erfolgreich wird bzw. sie verhelfen einem zu den notwendigen „Ellenbogen“, um im materiellen Leben nicht nur bestehen, sondern auch siegen zu können.
Das alles ist aber – wie gesagt – nur eine Orientierung und kaum eine religiöse Gemeinschaft entspricht den genannten Idealtypen.

Danke für das Interview.

Das Interview führte Kris Wagenseil.

17 Kommentare:

  1. Sehr spannend, auf das Buch freue ich mich schon! Danke für das engagierte, mutige, stellenweise geradezu humorvolle Interview! .-)

  2. Gereon Vogel-Sedlmayr

    Wenn ein Buch mit einem so pejorativen Wort wie “Sekten” im Titel publiziert wird, das sich über “Ellenbogen-Religionen” auslässt, ist das alles Andere als seriositätsverdächtig.

    • Sehr geehrter Herr Vogel-Sedlmayer,
      es handelt sich um ein populärwissenschaftliches Buch. Nur im Titel taucht der Begriff der “Sekte” in dieser Weise auf. Das dürfte auch Verlagsinteressen geschuldet sein. Den Begriff “Ellenbogen-Religionen” finde ich zwar auch unglücklich gewählt als Übersetzung von “affirming-movements”, aber das Interview wurde realisiert, weil das Buch von Gerald Willms gerade kein Bashing (abwertendes Auslassen) von (Neuen) Religionen fortsetzen möchte, sondern die Mechanismen der Sektendebatte und ihrer Klischees besprechen will anhand der europäischen Religionsgeschichte.

    • Robert Stephanus

      Aha, warum nicht?
      Der Autor erklärt doch eingangs warum er das macht.

  3. Es ist wichtig, dass auch Religionswissenschaftler populärwissenschaftliche Bücher schreiben!

  4. Ein sehr interessantes und meines Erachtens förmlich wichtiges Buch über dieses Thema. Durch Scientology und andere neue Religionen sind die Methoden der “Sektenmacher” beinahe täglich live zu beobachten. Sehr interessant. Es ist Manipulation, die leider von wenigen wahrgenommen wird. Ich hatte mal das Vergnügen den Autoren privat in Berlin kennenzulernen und war sehr begeistert. Das Buch ist sehr zu empfehlen – auch um Vorurteile abzubauen!

  5. Pingback:Überall “Sekten”? Religionsbezogene Diskriminierung (nicht nur) in öffentlich-rechtlichen Medienanstalten « REMID Blog

  6. Reinhard Rieder

    Habe bereits das Buch “Neue Religiöse Bewegungen” von Peter Schulte gelesen. Schulte ist ein Sozialwissenschaftler, der selbst zwölf Jahre Sektenbeauftragter der Tiroler Landesregierung war (Leiter von “kult & co tirol”).

    Das neue Buch des Religionssoziologen Dr. Gerald Willms analysiert nicht nur Neue Religiöse Bewegungen, sondern die Anti-Sekten-Bewegung der Vergangenheit und Gegenwart.

  7. Pingback:“Intensivgruppen”? Alter Wein in neuen Schläuchen « REMID Blog

  8. Gibt es denn keine “Opfer” von “Sekten”? Übertreiben diese in Ihren Berichten, kann die neue religiöse Bewegung nichts für ihr Leid oder was die sog. “Opfer” glauben / behaupten, das ihnen angetan wurde? Es wird ihnen durch diese Anti-Anti-Kult-Autoren ja Unglaubwürdigkeit vorgeworfen.
    Und ich denke an Neonazistische Gruppen. Diese haben stark religiösen Charakter, besonders in Ideen des Antisemitismus und der Holocaustleugnung abzulesen. Hier findet Gehirnwäsche statt, und die Gefährlichkeit dieser Gehirnwäsche ist hier deutlich zu sehen. Zumindest habe ich dies von einem Aussteiger gehört; natürlich im Fernsehen. Auch nur ein Hype und unwahr oder aufgebauscht? Die Beobachtung durch den Verfassungsschutz zu Unrecht und hauptsächlich durch Sektenmacher oder in diesem Fall Nazimacher auf den Plan gerufen?
    DAS scheint mir unwahrscheinlich. Aber die Herangehensweise, auf ein “bashing” zu verzichten, finde ich hingegen sehr richtig – denn so würden sich die festen Ideen der (in meinen Augen) realen Opfer dieser Gruppen nur noch verhärten, die Abschottung vergrößern – auch das sagte der Nazi-Aussteiger.

    • Es geht nicht darum, zu behaupten, es gebe nichts Kritikwürdiges in der Welt der Religionen (neuere wie ältere). Die Begriffe sind entscheidend. Der Begriff “Sekte” ist abwertend und nicht genau. Hinzukommen Klischees, die in den meisten Fällen nicht stimmen. Es werden Extremfälle zum Maßstab desjenigen, wie es in einer “Sekte” zugehe (vgl. Überall “Sekten”? – Religionsbezogene Diskriminierung (nicht nur) in öffentlich-rechtlichen Medienanstalten). Entsprechendes gilt für den Mythos “Gehirnwäsche” und die ihm zugrundeliegende psychologische Konzeption von Identitäts- und Einstellungsentwicklung. Eher sollte man auf die Ergebnisse von Konversionsforschung schauen (vgl. “Intensivgruppen”? Alter Wein in neuen Schläuchen). Auch werden neue religiöse Bewegungen mit Ausnahme von Scientology (sowie, falls man dies hinzurechnen möchte: Salafismus) nicht vom Verfassungsschutz beobachtet, und diejenige von Scientology soll aktuell beendet werden (vgl. Spiegel-Artikel vom 24. Nov. 2013).
      Neonazistische Gruppen werden sehr wohl beobachtet, aber nicht weil ihre Ideen religiösen Charakter hätten. Antisemitismus und Holocaustleugnung werden unabhängig von der Art ihrer Motivation strafrechtlich verfolgt. Diese kann religiös sein (wie bei Richard Williamson, ehemalig Piusbruderschaft). Inwiefern rassistische und verschwörungstheoretische Motivationen von Antisemitismus und Holocaustleugnung ebenfalls eine religiöse Dimension haben, kann man diskutieren, reicht aber sicherlich nicht dafür, um neonazistische Gruppen bereits als “neue religiöse Bewegungen” zu begreifen (allerdings kann man solche im Kleinen wiederum ausmachen im Bereich des sogenannten “esoterischen Neonazismus”).
      Im Unterschied zum “Sektenbegriff” lässt sich Rechtsextremismus ziemlich deutlich bestimmen. Diesen zu benennen, ist sozusagen eine Bürgerpflicht. Dagegen mit dem sehr dehnbaren Begriff der “Sekte” zu “bashen”, ist religionsbezogene Diskriminierung. Es gibt keine einfache Grenze zwischen “guter” und “schlechter” Religion.

  9. Danke erst mal für die gute Antwort (ich schreibe manchmal recht provozierend, bitte nehmen Sie es mir als Eigenart nicht übel).
    Aber: Mir ist sauer aufgestoßen, wie hier Opfer / Aussteiger von “neuen religiösen Bewegungen” leicht verächtlich und als unglaubwürdig (aufgebauschte Einzelfälle) dargestellt werden. Und wie sich wohl die Eltern fühlen; haben sie sich die Veränderungen ihrer Kinder ausgedacht? Und jetzt organisieren sie sich auch noch, um die Religionsfreiheit in Deutschland einzuschränken und “ihrer” neuen religiösen Bewegung das Leben schwer zu machen, bzw. um sie mit allen anderen neuen religiösen Bewegungen zusammen zu “bashen”?
    Es gäbe noch viel mehr zu sagen, aber das soll an Kritik reichen.

    Etwas anderes, als religionswissenschaftlicher Laie zur Entwicklung des “wahren” Christentums: “Nach ein paar Jahrhunderten setzt sich eine Strömung als die mächtigste durch, nimmt für sich in Anspruch die Kirche zu sein und deklariert alle anderen Strömungen als Häresien bzw. Sekten” (Zitat). (WER glaubt hier eigentlich, dass etwas vom Himmel gefallen ist?) Wenn man sich diese Strömungen, so z.B. die “Gnostiker”, mal näher anschaut, läuft es einem bei solch einer Verdrehung nicht nur des christlichen Glaubens sondern allgemein der Menschlichkeit und der Vernunft, kalt den Rücken runter. Wie sollte diese Strömung(en) als Teil der Kirche bestehen bleiben, wenn sie doch im Endeffekt das genaue Gegenteil von den anderen lehren? Es geht doch gar nicht ohne Abtrennung; und selbstverständlich sind die anderen schlecht; wofür steht man denn sonst selbst? Die Gnostiker sähen die jetzige “Kirche” genauso als schlecht an. Wie stellen Sie sich die beiden Lehren nebeneinander vor? Sie widersprechen sich diametral. Hier zu fordern, sich nicht zu trennen (den anderen als Irrlehre bzw. Sekte zu bezeichnen) hätte den Untergang dieser Idee (und dann organisierten Kirche) bedeutet.

    • Als ich in meiner vorherigen Antwort kritisch von einzelnen “Extremfällen” sprach, die als beispielhaft für neue religiöse Bewegungen aka “Sekten” genommen werden, meinte ich neureligiöse Ereignisse wie die um z.B. Charles Manson und seine “The Family” – radikale Erscheinungsformen ohne lange Dauer. Gerade auch daher sind sie nicht repräsentativ.

      Aussteigen ist genauso eine Konversion wie das “Einsteigen” in eine neue oder alte Religion. Es geht nicht so sehr darum, dass es unglaubwürdig oder notwendig falsch sei, was “Aussteiger” über das sagen, woraus sie aussteigen. Aber es ist auch nicht repräsentativ für die Innenperspektive in der Religion. Und das gilt auch bei “alten” etablierten Religionen wie dem Katholizismus oder dem Islam. Auch hier gibt es einige Publikationen von “Aussteigern”, die aber dementsprechend Fehlentwicklungen betonen und sich von Gläubigen-Werken unterscheiden.

      Zu Ihrem letzten Absatz kann ich nur sagen, dass aus wissenschaftlicher Sicht nicht von einem “wahren” Christentum (oder z.B. Hinduismus) gesprochen werden kann. Wie diverse christliche und/oder gnostische Kirchen (es gibt kleine Gemeinschaften, welche Ideen der antiken Gnosis reaktivieren) ihren interreligiösen Dialog gestalten, ist sicherlich eine andere Frage. Aber hier kann der Religionswissenschaftler nur beobachten und z.B. sozialwissenschaftlich Toleranz- und Diskriminierungsskalen abfragen. Beansprucht ein Theologe bei der Verurteilung einer “Irrlehre” aus der Perspektive der eigenen Denomination Wissenschaftlichkeit (im Sinne einer zugleich nicht mehr theologisch-konfessionellen Aussage), geht das aber zu weit und darf sicherlich kritisiert werden.

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  13. Mittlerweile gibt es immer mehr populärwissenschaftliche Bücher über das Thema.
    Der oben bereits in einem Kommentar erwähnte Peter Schulte hat im Dezember zum Beispiel das Buch “Die Akte Scientology – Die geheimen Dokumente der Bundesregierung” veröffentlicht. Ein ehr lesenswertes Buch über die Geschichte von Scientology in Deutschland.
    https://wp.me/p2yvX-IR

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