Auroville als alternatives Gemeinschaftsprojekt – ein Reisebericht

Der Versandhandel “eurotopia” bringt seit Mitte der 1990er regelmäßig einen Katalog alternativer Gemeinschaftsprojekte und Ökodörfer in Europa heraus. Wie man bereits an dem zusätzlichen Linkkatalog (vgl. auch ältere Version von 2007) erkennen kann, finden sich darunter auch Religionsgemeinschaften wie beispielsweise die Freunde des westlichen buddhistischen Ordens e.V., der Dachverband der Beginen oder auch die Zwölf Stämme [Nachtrag März 2014: entfernt] – neben z.B. dem biologisch-veganen Netzwerk oder dem Kommuja-Netzwerk politischer Kommunen. Solche utopisch gestimmten Gemeinschaftsbildungen haben dabei eine Geschichte bis zu den Versuchen in der Frühen Neuzeit, ein Himmlisches Jerusalem auf Erden zu errichten. Die auch im “eurotopia”-Verzeichnis vernetzte Auroville International Deutschland e.V. ist dabei der deutsche Ableger einer Bewegung, welche in Indien ein alternatives Gemeinschaftsprojekt betreibt. REMID bringt im Folgenden einen Gastbeitrag von Marc Nemitz, u.a. Student der Politikwissenschaft, Soziologie und Philosophie in Marburg, über seinen Besuch dieses Projekts 2011.

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Die Denker des Reformhinduismus prägten ein eigenes Sujet der (religiös motivierten!) Kritik an der (älteren) Religionswissenschaft: “Seine [des gründlichen Rationalisten; Anm. Red.] Versuche einer Erklärung der Religion haben dazu geführt, daß er eine riesige Menge bewundernswerter geistreicher Perversionen zusammentrug, wie z.B. gewisse pseudowissenschaftliche Versuche, eine vergleichende Religionswissenschaft aufzubauen” (Sri Aurobindo, Zyklus der menschlichen Entwicklung, Bern / München / Wien 1974, S. 155); “Deine kritische Haltung, deine so genannte Religionswissenschaft oder Sektenkunde sind nur subtilere Formen deines Egotrips.” (Anonymer Devotee, zitiert nach Georg Schmidt, Sehnsucht nach Spiritualität: neue religiöse Zentren der Gegenwart, 2000, S. 65).

Bild von Marc Nemitz unter Creative Commons Lizenz CC BY-SA 3.0.

Auroville mag vielleicht nicht vielen Leute etwas sagen, aber vielleicht handelt es sich dabei um eines der spannendsten gesellschaftspolitischen Experimente unserer Zeit. In Deutschland kennt man mehr die kleinen Kommunen, die autark lebenden Dörfer und Kleingemeinschaften, aber Auroville tritt in einer ganz anderen Größendimension an. Das Selbstverständnis: Eine universelle Stadt, für jeden offen und ausgelegt für 50.000 Bewohner, keine Machtpolitik, offen für Spiritualität, basisdemokratisch und ausgerichtet auf Forschung und Wissenschaft. Das Projekt Auroville konnte ich selbst besuchen und mir mein eigenes Bild der Lage machen.

Damit man meinen Erfahrungsbericht besser einschätzen und -ordnen kann, ein paar Worte zu meiner Person. Ich bin Marc Nemitz, Student der Politikwissenschaft, Soziologie und Philosophie an der Universität Marburg. Das Studium verfolge ich allerdings nur aus reinem Interesse. Meinen Lebensunterhalt verdiene ich als Geschäftsführer der Protomedia UG, als geschäftsführender Gesellschaft der Vermögensverwaltung Marc Nemitz und der Leitung des Internetservice Nemitz. Religiös sehe ich mich als sehr interessiert, bin aber dennoch atheistisch eingestellt. Mit diesem Hintergrund versteht man vielleicht, warum ich auf die Idee kam, als nicht unbemittelter Student mit dem Rucksack Indien zu bereisen und mir selbst ein Bild von der Lage zu machen.

Vorstellung Aurovilles

Es handelt sich um ein 25 km² großes Gebiet, welches aktuell etwas mehr als 2.000 Aurovillianern im engeren Sinn eine Basis bietet. Hinzu kommt in etwa die gleiche Anzahl an Gästen, Besuchern, Anwärtern und Praktikanten. Die größte Bevölkerungsgruppe bildet daneben die tamilische Bevölkerung mit circa 5.000 Menschen, die sich in Siedlungen bis zu 100 Bewohner aufteilt.

Auroville liegt im Bundesstaat Tamil Nandu in direkter Nähe zu Puducherry und etwas über 100 Kilometer südlich von Chennai. Begründet wurde sie auf den Lehren des Sri Aurobindo [vgl. auch Alphons van Dijk: Neohinduismus und Indologie am Beispiel der Beziehung Sri Aurobindo – Max Müller; 1981; Anm. Red.] und seiner spirituellen Schwester The Mother (Mira Alfassa). Diese hatten in Puducherry (ehemals Ponducherry) den Sri Aurobindo Ashram gegründet, der auch heute noch existiert, aber in keinem direkten Zusammenhang mehr zu Auroville steht. Die französische Kolonialgeschichte hat aber ihre Spuren hinterlassen und wirkt bis in die Gegenwart stark nach. Dadurch unterscheidet sich der Distrikt deutlich vom Rest Indiens.

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Unter der Überschrift “Food & Farming” erläutert diese Tafel in Auroville, woher “wir” kommen, wieweit wir gekommen seien und was der Einzelne tun könne. Klicken Sie auf das Bild zur Vergrößerung.

Bild von Marc Nemitz unter Creative Commons Lizenz CC BY-SA 3.0.

Im Jahr 1966 wurde von der UNESCO eine Resolution verabschiedet, in der Auroville anerkannt und unterstützt wird. Nicht zuletzt aufgrund dieser Tatsache ist Auroville ein gesellschafts- und religionspolitisch spannendes Projekt. Die offizielle Eröffnung fand 1968 statt unter der Leitung von The Mother statt, welche mit dem Projekt die Ideen Sri Aurobindos nach dessen Tod weiter vorantrieb. Die Grundlage für den Betrieb ist die aus vier Punkten bestehende Charta:

1. Auroville gehört niemandem im besonderen. Auroville gehört der ganzen Menschheit. Aber um in Auroville zu leben, muss man bereit sein, dem Göttlichen Bewusstsein zu dienen.
2. Auroville wird der Ort einer Erziehung ohne Ende, ständigen Fortschritts und einer Jugend sein, die niemals altert.
3. Auroville möchte die Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft sein. Durch Nutzung aller äußeren und inneren Entdeckungen wird Auroville zukünftigen Verwirklichungen kühn entgegenschreiten.
4. Auroville wird der Platz materieller und spiritueller Forschung für eine lebendige Verkörperung einer wirklich menschlichen Einheit sein.

Sehr spannend ist hier der direkte Zusammenhang zwischen Spiritualität und eine Offenheit für Wissenschaft. Dies erschien mir sehr ungewöhnlich, gerade im Hinblick auf die Einbeziehung technischer Errungenschaften und Entwicklungen. Persönlich etwas ungewohnt ist der direkte Erwähnung eines göttlichen Bewusstseins im ersten Zusammenhang mit der Charta und vor allem der daran gebundenen „Unterwerfung“.

Zur Gründung trafen sich Vertreter von 124 Nationen und 23 indischen Bundesstaaten, die jeweils Mutterboden aus ihrer Heimat mitbrachten. Diese Muttererde wurde gemeinsam vergraben und dieser Ort bildet dort bis zum heutigen Tag den zentralen Versammlungsplatz in Auroville.

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Der Matrimandir, das bei weitem auffälligste Gebäude in Auroville.

Bild von Marc Nemitz unter Creative Commons Lizenz CC BY-SA 3.0.

In direkter Nachbarschaft dazu bildet der Matrimandir das geistige und spirituelle Zentrum der universellen Stadt. Aus der Ferne betrachtet sieht es so aus, als wäre eine riesige futuristische goldene Kugel mitten in der Landschaft gelandet. Im Inneren befindet sich ein über zwei Aufgänge erreichbarer vollständig weißer Meditationsraum (innere Kammer) in dessen Zentrum sich ein eigens dafür angefertigter Glaskristall befindet (Durchmesser circa 70 cm). Die einzige Lichtquelle ist ein konzentrierter Sonnenlichtstrahl, der über diverse Spiegel direkt auf den Glaskristall geleitet wird. In den äußeren Bereichen befinden sich weitere acht Meditationskammern zur freien Benutzung für Aurovillianer. Der Öffentlichkeit wird mittlerweile der direkte Zugang zum Matrimandir verwehrt.

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Modell des Matrimandir-Inneren.

Bild von Marc Nemitz unter Creative Commons Lizenz CC BY-SA 3.0.

Ausgehend vom Matrimandir entwickelt sich Auroville spiralförmig nach außen und wird von einem grünen Gürtel umschlossen. Durch den gewählten Aufbau entsteht bei einer Übersicht der gewollte Eindruck einer Spiralgalaxie. Es findet eine grobe Unterteilung in Residental Zone, Industrial Zone, International Zone und Cultural Zone statt.

Kritische Würdigung Aurovilles

Die Grundidee einer alternativen politischen und spirituellen Gesellschaft ist bewundernswert, allerdings lässt ein näherer Blick darauf schließen, dass man sich mit nur all zu weltlichen Problemen herumschlagen muss. Die basisdemokratische Selbstorganisation ist zeitaufwendig und fordert eine fast unüberschaubare Anzahl von Gremien, Ausschüssen, Komitees und Projekten. Um die Arbeitsweise zu verdeutlichen, betrachtet man sich am besten die Bauzeit des Matrimandirs, die über 40 Jahre in Anspruch nahm.

Jedem echten Aurovillianer steht ein bedingungsloses monatliches Grundeinkommen zu, für welches jedoch eine Beteiligung an gemeinnütziger Arbeit erwartet wird. Zudem gibt es eine Gemeinschaftsküche, so dass die grundlegende Bedürfnisse befriedigt werden können.
Die Finanzierung Aurovilles findet über verschiedenste Kanäle statt. So gibt es die eingetragene Marke Auroville, über welche diverse selbst hergestellte Produkte vertrieben werden. Die Qualität der Produkte entspricht dabei dem örtlichen Standard, während die Preise sich eher nah am europäischen Niveau bewegen. Neben den Shops in Auroville gibt es noch einen eigenen Auroville-Laden in Puducherry.

Ein weiterer großer Teil wird durch die Eigenvermarktung Aurovilles beigesteuert: Es gibt sehr viele Guesthouses und Besucher müssen sich Tagespässe holen. Auch wer selbst Aurovillianer werden möchte, muss diesen täglichen Obolus entrichten. Nach einem dreimonatigen Aufenthalt kann man den Antrag auf seine Newcomer-Zeit stellen, die mindestens ein weiteres Jahr andauert. Hinzu kommen noch diverse Aufnahmegebühren.

Das dritte große finanzielle Standbein bilden die Spenden, welche direkt von der Auroville-Foundation und diversen anderen Unterstützervereinen gesammelt werden.

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Ein Solartechnologie-Projekt in Auroville.

Bild von Marc Nemitz unter Creative Commons Lizenz CC BY-SA 3.0.

Im Bereich Wissenschaft und Forschung möchte sich Auroville offen zeigen und betreibt vor allem Schulen für einheimische Kinder. Auch werden Frauen und Männer gleich behandelt. Die Forschungsprojekte wirken aber leider allgemein wenig professionell. Dies kann den basisdemokratischen Strukturen geschuldet sein. Positiv ausgedrückt, man erkennt deutlich, dass sich hier Menschen ausprobieren möchten.

Außerordentlich nicht empfehlenswert ist der Besuch Aurovilles während der Monsumzeit. Die meisten Wege sind nicht geteert oder befestigt, so dass sich buchstäblich die gesamte universelle Stadt in eine Schlammlandschaft verwandelt. Ich persönlich hätte geglaubt, dass man in einem Gebiet, mit einem solchen Anspruch zumindest die grundlegenden Strukturen vorbereitet und diese dann konsequent ausbaut. Dabei geht es nicht um den Transport von Kultur oder geistigen Gütern, sondern um das grundsätzliche Erschaffen zivilisatorischer Lebensgrundlagen.

Nicht nur vor Ort, sondern im gesamten Süden Indiens kommt man immer wieder auf das Thema Auroville zu sprechen. Sei es mit ehemaligen Praktikanten, Besuchern oder Suchenden. Die Meinungen sind hierbei verhärtet und für mich als Atheisten nur schwer nachvollziehbar. Ich kann zwar die Religion, die auch keine sein möchte, verstehen, aber letztendlich kommen mir Ansichten teilweise schon ziemlich dogmatisch vor. Denkt man bei diesem Zusammenhang an die Gestrandeten rund um Auroville (Puducherry, Chennai, etc.), die ansonsten sehr offen und bunt gelebten Religionen und überhaupt den kulturellen Hintergrund, z.B. dass man auf der Straße durchaus auf heilende und Zaubertricks vorführende Schamanen etc. trifft, kommt ein wenig mehr Verständnis auf. Das Land ist entweder trocken und staubig oder unglaublich nass, dabei jedoch immer bunt und laut. Das Bedürfnis nach einem geordneten Rückzugsort wie einem Ashram (das sich von der Ausrichtung her gar nicht so sehr von einem Kloster unterscheidet) und Struktur ist verständlich. Dem entgegen steht der unglaubliche Hunger nach Verbesserung und Erfolg in Indien. Betritt man eine Buchhandlung, besteht fast die Hälfte des Angebots aus Ratgebern, Lebenshilfen und verlockenden Büchern über den eigenen zukünftigen Erfolg. Man spürt an jeder Ecke, wie das Land sich mitten im Aufbruch in die Moderne befindet.

Trotz aller Kritik ist Auroville ein bemerkenswertes Experiment. Allerdings muss man über die Schwächen in der Umsetzung hinwegsehen. Zum spirituellen Hintergrund sollte sich jeder selbst ein Bild machen. Ich bin kein Religionswissenschaftler. Auffällig war, dass Sri Aurobindo und The Mother behaupteten, sie hätten den Ausgang des Zweiten Weltkriegs durch ihre Gebete und Meditationen beeinflusst. Diese Information war bis vor kurzem noch überall wiederzufinden, aber wie es scheint, wird sich aktuell aktiv darum bemüht, ein möglichst positives Bild der geistigen Führer zu formen. Auch ist fraglich, wie lange man die Basisdemokratie erhalten kann, gerade wenn man bedenkt, dass Auroville letztendlich für 50.000 Menschen geplant ist und schon jetzt mit 2.000 Bewohnern die Probleme zunehmen. Ich bin gespannt, wie sich Auroville entwickelt, und werde es sicher noch einmal in einer Dekade besuchen.

Marc Nemitz

Dieser Artikel ist teilweise eine Überarbeitung eines Beitrages auf Literaturasyl durch den Autoren. Aufmacher und Bildkommentare von Kris Wagenseil.