“Polemik gegen die Schwerkraft”? Religionskritik am Beispiel eines neuen Kompendiums

Oft hören wir bei REMID, wir oder die Religionswissenschaft seien nicht kritisch. Oft ist damit eine Kritik von Religion als solcher gemeint – aufgrund metaphysischer Überlegungen – bzw. eine Herrschaftskritik (vgl. Artikel Die Linke und die Religion). Letztere hat aber in säkularen Gesellschaften nicht den gleichen emanzipatorischen Wert wie in theokratischen (vgl. Interview Gleiche Rechte für alle Religionen und Weltanschauungen). Allerdings auch Kritik an (einzelnen) Religionen sollte Kriterien ernstnehmen, die ein Abgleiten in religionsbezogene Diskriminierung, Antisemitismus, Islamophobie etc. zu vermeiden suchen. Der folgende Gastbeitrag von Friedemann Rimbach-Sator (Religionswissenschaft Marburg) vergleicht das neu erschienene Werk “Problemfall Religion – Ein Kompendium der Religions- und Kirchenkritik” von Gerhard Czermak mit dem Band “Kritik an Religionen” (REMID 1997).

1. Rezension des Buches: „Problemfall Religion – Ein Kompendium der Religions- und Kirchenkritik“ von Gerhard Czermak

9783828832855_1

Um zur Webseite des Verlages zu gelangen bzw. das Buch dort zu bestellen, klicken Sie auf das Cover.

“Man kann die Welt nicht vernünftig machen – aber ein wenig vernünftiger, das geht schon!” Das Motto des Verlegers Dr. theol. Heinz-Werner Kubitza (Der Jesuswahn, Tectum 2011 [vgl. Interview mit ihm über säkularen Humanismus; Anm. Red.]) für seine Rubrik im Tectum-Verlag ‚Religionskritik und Humanismus‘ war ausschlaggebend dafür, dass das Buch des Dr. jur. Gerhard Czermak ‚Problemfall Religion – Ein Kompendium der Religions- und Kirchenkritik‘ bei Tectum Aufnahme fand. Nach Veröffentlichungen wie ‚Religion und Weltanschauung in Gesellschaft und Recht‘ oder ‚Christen gegen Juden‘ meldet sich der Verwaltungsrichter, Schriftsteller und Beiratsmitglied der Giordano-Bruno Stiftung (gbs) damit in der modernen Kirchenkritik fachkundig zu Wort.

Eine große Ansammlung unterschiedlichster Themen heutiger Kirchenkritik findet sich auf etwa 470 Seiten im Spagat zwischen wissenschaftlicher Genauigkeit und politischer Meinungsbildung. Durch einen leicht verständlichen Stil ermöglicht es Cermak, einem breit gefächerten Publikum einen Überblick über heutige Diskussionspunkte zu verschaffen. Die „Herstellung der Rechtsgleichheit zwischen religiösen und nichtreligiösen Weltanschauungen“ ist ihm dabei das Hauptanliegen. Gemäß der Weltanschauung eines nicht-religiösen naturalistischen Humanismus will er die Idee der europäischen Aufklärung fortführen (vgl. Gerhard Czermak: Problemfall Religion – Ein Kompendium der Religions- und Kirchenkritik, Marburg 2014, S. 408).

Das seiner Meinung nach vorherrschende Bild einer kulturellen Bereicherung durch Religion, vor allem durch das Christentum, will Czermak als irreführend entlarven und einer von ihm angenommenen Bedrohung der Konfessionsfreien und deren im Zusammenhang mit Kirchenprivilegien stehenden Diskriminierung entgegenwirken. Das vorherrschende Bild von Kirche sei das Ergebnis einer „systematischen Verdrängungsarbeit“ (S. 20) und „historischen Glättung“ (S. 272) seitens der Kirche. Dem setzt Czermak durch Vergleiche und Aufdeckung einen naturalistischen Humanismus entgegen. Gemäß dem Leitbild der gbs verweist Czermak schließlich auf das ‚Manifest des evolutionären Humanismus‘ von Michael Schmidt-Salomon und dessen Versuch einer „alternativen politischen Leitkultur“ (S. 410) durch Wissenschaft, Philosophie und Kunst.

Gegliedert ist das Buch in fünf Teile. Während im ersten Teil Grundbegriffe und allgemeine Themen besprochen werden, konzentrieren sich die nächsten beiden Kapitel mit etwa 230 Seiten auf die Kritik des europäischen Christentums, besonders im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg. „Die wichtigsten nicht-christlichen Religionen“ (S. 339) folgen daraufhin sehr gerafft auf etwa 30 Seiten, wobei auch hier mit Verweisen das Christentum thematisiert wird (S. 356: „Die islamische Judenfeindschaft war insgesamt bei Weitem nicht so aggressiv wie die christliche“; S. 363: „Zur Götterwelt gibt es Epen, die trotz vieler Widersprüche z.T. noch große Bedeutung haben. In einem nimmt der Hauptgott Vishnu Menschengestalt an, um die Welt vom Bösen zu befreien.“). Die weiteren Kapitel bieten eine Gesamtbilanz und schließen mit einem eindringlichen Appell an das Gebot der Religionsfreiheit und an staatliche Neutralität. Bei dieser starken Gewichtung werden allerdings viele Themen, etwa die russisch-orthodoxe Kirche, neue religiöse Bewegungen oder z.B. ‚chinesische‘ Religionen zu wenig oder kaum angesprochen. Die Betrachtung ‚nichtchristlicher‘ Religionen wie des Islams wird im Vergleich zu einer großen Differenzierung der Ansichten Luthers, Calvins oder einzelner Päpste sehr stark zusammengefasst: „Der Islam (welchen Inhalt er auch jeweils haben mag) und seine politische Herrschaft wurden hauptsächlich durch Eroberungskriege verbreitet, Massaker an der Bevölkerung inbegriffen“ (S. 354 [zu stereotypen Islambildern vgl. Interviews zu Orientalismus und Eurozentrismus und zu religiöser Erziehung im Islam; Anm. Red.]). Korrekterweise wäre von diesem Buch als einem Kompendium der Christentums-Kritik im Geiste beispielsweise Karlheinz Deschners 2013 abgeschlossener ‚Kriminalgeschichte des Christentums‘ zu sprechen.

Die in dem ersten Teil besprochenen Grundbegriffe bieten einen ausführlichen Überblick und leisten nebenbei eine Einführung in die Theorie des ‚Neuen Atheismus‘ [vgl. Interview zu (A)Theismus und Religionsphilosophie; Anm. Red.]. Der Religionsbegriff ist sehr weit gefasst („Wegen der Fülle unterschiedlichen Aspekte ist die (…) Religionswissenschaft nicht in der Lage, eine allgemein anerkannte Definition von ‚Religion‘ zu entwickeln“; Czermak, S. 22). Ergänzt wird dieser durch eine funktionale Betrachtung (Ordnung, Trost, Kontingenzbewältigung, vgl. S. 25) sowie Konzepte der Hirnforschung, zum Beispiel

„…unter diesen Voraussetzungen haben Menschen eine natürliche Tendenz zum Erwerb religiöser Vorstellungen. Mit vielen anderen Biologen hält Richard Dawkins diese Tendenz für ein Nebenprodukt einer anderen evolutionär entstandenen Eigenschaft. Diese sieht er in der Neigung des kindlichen Gehirns, den existenziellen Autoritäten, insbesondere den Eltern, zu glauben, ihnen bedingungslos vertrauen.“ (S. 29, [vgl. auch Interview zu Evolutionary Religious Studies; Anm. Red.])

In seiner Beschreibung eines „nicht zielgerichteten Entwicklungsprozesses“ (vgl. S.26) der Evolution stellt er in durchschimmernder Geringschätzung der Religionen diesen den humanistischen Naturalismus gegenüber:

„Zum Frühstadium der uns bekannten Religionsgeschichte gehört der Animismus“ (S. 24).

„‘Naturalismus‘ ist nach den hier vertretenen Verständnis eine wissenschaftlich-philosophische Grundhaltung. (…) eine durch eine Gottheit eingepflanzte Teleologie ist entbehrlich“ (S. 408).

„Wenn Religionen entzaubert sind, bleibt bei manchem doch etwas Sehnsucht. Wer also etwas ‚Höheres‘ fürs Gemüt braucht, mag es unbehelligt in irgendeiner Religion finden. Aber er soll andere damit in Ruhe lassen“ (S. 410f.).

Mit Statistiken und Betrachtungen, beispielsweise der Menschenopferungen, belegt er seine Thesen wie z.B. die der Religion als Legitimierung und Sakralisierung von Gewalt: „Kriege, bei denen Religion eine Rolle spielt, sind in der Regel grausamer als andere“ (S. 79). Es folgt die umfassende Darstellung fundamentaler und spezieller Kritikpunkte gegenüber dem Christentum. In seiner „Zusammenfassung der Kritik in Thesen“ (S. 102) bezieht er dabei explizit Stellung, beispielsweise:

„250 Jahre wissenschaftlicher christlicher Bibelkritik haben die Bibel ad absurdum geführt (…) Die 2000jährige Geschichte des Christentums ist die blutigste Religionsgeschichte von allen. (…) Das Christentum strebt nach wie vor nach Macht und politischen Einfluss (…) Das Christentum hat insgesamt die Menschen nicht besser gemacht“ (S.103f.).

Er scheint dabei kaum ein problematisches Thema auszulassen: Homophobie, Frauenunterdrückung, Legitimation der Sklaverei, Inquisition, Hexenverbrennung bis hin zum Genozid. Ein besonderer moralischer Anspruch wird der Bibel dabei grundsätzlich abgesprochen. Stattdessen sieht er beispielsweise den christlichen Antisemitismus erst als Vorbedingung des Dritten Reiches:

„Beide Kirchen trugen, insbesondere durch ihre starke Judenfeindschaft und Gegnerschaft zur demokratischen Weimarer Republik, wesentlich mit zum Untergang derselben bei“ (S. 211).

Weiterhin hebt er hervor, dass die besondere Verstrickung der katholischen Kirche während und nach dem Nationalsozialismus mittels gezielter Seligsprechungen durch den Vatikan verzerrt werde:

„Wesentlich bei der Fluchthilfe der Naziverbrecher war das Zusammenspiel des Vatikans mit der ODESSA, der Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen, die die „Klosterroute“ Österreich-Italien-Südamerika aufgebaut hatte.“ (S. 216)
„Die Politik der Seligsprechung aus der Zeit des Faschismus ist in ethischer Hinsicht verwerflich, denn sie wird als taktisches Mittel zur historischen Glättung, wenn nicht Reinwaschung der Kirche eingesetzt.“ (S. 272)

Ein umfassend angelegtes Literaturverzeichnis leistet aber für ein weitergehendes Studium der Quellen nicht genug Transparenz. Für Laien in der Kirchengeschichte sind viele Sätze schwierig einzuordnen, vor allem, da sich nach eigener (kurzer) Prüfung andere oder ergänzende Angaben finden lassen können und so Verwirrung entsteht, zum Beispiel:

„Einer der Kommandanten des KZs war der Franziskanerpater Miroslav Filipovic, der auch durch das Massaker bei Banja Luka Anfang 1942 bekannt wurde, bei dem 2200 Serben (Männer, Frauen, Kinder) mit Spitzhacke und Beil ermordet wurden (Faksimile des Gauleiterberichts: s. Dedijer). Zahlreiche Morde verübte er selbst.“ (S. 236)

Im Vergleich dazu die Erinnerungsseite des früheren KZ Jasenovac:

“Because of his participation in the mass murders in February 1942 the church authorities excommunicated him from the Franciscan order, which was confirmed by the Holy See in July 1942.“

Nach einem Streifzug durch die Geschichte beantwortet Czermak die Frage „Verhalten sich religiöse Menschen besser?“ ,ausgehend von verschiedenen Studien, schließlich mit den Ergebnis:

„Nimmt man alles zusammen, so verhalten sich religiöse Menschen gegenüber ihren Mitmenschen gleich gut und gleich schlecht. In mancher Hinsicht zeigen religiöse Menschen mehr Mängel“ (S. 318).

Und auch der populäre Anspruch, das Christentum habe trotz seiner Vergehen zumindest zur Entstehung der Menschenrechte beigetragen, wird in sein Gegenteil verkehrt und zurückgewiesen:

„Erst seit dem 18 Jh., spätestens seit Kant (1724-1804), gehört zur Menschenwürde die sittliche Autonomie des Menschen, und die so verstandene Menschenwürde ist Grundlage der Freiheits- und Gleichheitsrechte des bundesdeutschen Grundgesetzes. Die christliche Theologie hat demgegenüber, anders als christliche Naturrechtler, diesen Autonomiebegriff 200 Jahre lang bekämpft.“ (S. 393)

Was letztlich vom ‚Glauben an dem Glauben‘ des ‚Problemfalles‘ noch bleibt, beschreibt er durch die Worte des Autors von “Schlußstrich! Kritik des Christentums” (1995), Burkhard Müller:

Wer „eine Kritik des Christentums verfasst, beginnt etwas zugleich Abgetanes, als wollte er darlegen, dass die Erde eine Kugel ist, und etwas Aussichtsloses, als bräche er eine Polemik gegen die Schwerkraft vom Zaun, eine donquixotische Paarung des Unnötigen mit dem Unmöglichen“ (Czermak, S. 20).

Alles in allem legt Cermak hier ein sehr informatives und interessant zu lesendes Buch vor. Der wissenschaftliche Anspruch ist gleichwohl mit dem Vorbehalt zu betrachten, dass durch das Buch eine eigene Weltanschauung präsentiert wird, die in einem ambivalenten Verhältnis zur Religion überhaupt steht, insofern Religionsfreiheit und Toleranz als Ergebnisse der Aufklärung neben einer starken ablehnenden Haltung stehen.

2. Religionswissenschaft und Religionskritik

49-cover

Für nähere Informationen und eine Bestellmöglichkeit klicken Sie auf das Cover.

Wie steht die Religionswissenschaft zur Religionskritik? Ist die Religionswissenschaft zahnlos und zahm geworden? Und wie positioniert sich dazu der ‚Religionswissenschaftliche Medien- und Informationsdienst e.V.‘ (REMID)? Ich bin diesen Fragen anhand des Buches „Kritik an Religionen“ nachgegangen, welches 1997 aus einem REMID-Symposium hervorgegangen ist: Gritt Maria Klinkhammer, Steffen Rink und Tobias Frick (Hrsg.): „Kritik an Religionen“, Diagonal-Verlag: Marburg, 1997.

In dem Unterkapitel „Artikulation von Religionskritik“ beschreibt Gerhard Czermak unter anderem das Verhältnis der Religionswissenschaft zur Religionskritik. Er schreibt:

„Ganz anders geht zumindest im deutschsprachigen Raum die Religionswissenschaft vor. Sie beschreibt zwar unabhängig von theologischen Prämissen die religiösen Phänomene nach säkular-wissenschaftlichen Methoden, verzichtet aber regelmäßig darauf, ihre korrekten Ergebnisse auch in einen kritischen Zusammenhang zu stellen. (…) Daher wurde die christliche Religion meist nicht nach denselben Kriterien kritisch untersucht, wie die anderen Religionen. Zwar wird deutsche Religionswissenschaft heute zunehmend auch außerhalb der Theologie betrieben, aber mit Religionskritik tut sich die Religionswissenschaft immer noch sehr schwer: sie ist politisch-gesellschaftlich unerwünscht.“ (S. 16)

Klinkhammer, Frick und Rink unterteilen anfänglich, welcher wissenschaftliche Standpunkt mit welchem Typ Religionskritik zusammenhängt. Sie unterscheiden hierbei vier Typen, je nachdem ob der Verstehens-Ansatz über die Außen- oder Innenperspektive und Religion als eigenständiges oder nicht eigenständiges Objekt behandelt wird. Ähnlich der kritischen Analyse der Religion durch Karl Marx als ‚Opium des Volks‘ entspräche der Ansatz von Gerhard Cermak dem kritischen Blick aus der Außenperspektive auf den reduziblen Gegenstand. Kritik im diesen Sinne diene der ‚emanzipatorischen Selbsterkenntnis‘ (REMID: Kritik, S. 18). Demgegenüber stehe das (religionswissenschaftliche) „Verstehen über die Innenperspektive und Irreduzibilität des Gegenstandes“ (ebd., S. 20), dessen oberstes Gebot die „‘objektive‘, weil unverzerrte und nicht theoriebefrachtete Beschreibung“ sei (ebd.). Gegen die Auffassung einer Überwindung der Distanz zwischen dem Beobachter und seinem Objekt entwickelte sich in diesem Modell eine Form der Kritik, welche sich als

„‚…Pendelbewegung zwischen der Analyse der eigenen und derjenigen der fremden Gesellschaft‘ versteht. Die kritische Betrachtung erfolgt hier dann als ein selbstreflexiver Akt des Beobachters zwecks einer ‚interkulturellen Katharsis‘ und Wahrnehmung oder Durchbrechung der Herrschaftsstrukturen in seiner eigenen Kultur.“ (S. 21, enthaltendes Zitat aus: M. Endheim, Die gesellschaftliche Produktion und Unbewußtheit, Frankfurt 1982 S. 32).

Mitautorin Edith Franke skizziert das Spannungsfeld des Religionswissenschaftlers zwischen der ‚Metaebene‘ vorurteilsfreier und wertfreier Überprüfbarkeit von Aussagen und der sich der Überprüfbarkeit entziehenden Subjektebene der Religionen und deren Gläubigen (S. 107). Entgegen der Forderung unter anderem von Rudolf Otto ‚religiös musikalisch‘ als Voraussetzung des Verständnisses dieser subjektiven Ebene zu sein [vgl. Ein Versuch über Rudolf Ottos “Das Heilige”; Anm. Red.], schreibt sie:

„Doch ebenso wenig wie eigenes religiöses Erleben als Voraussetzung und Bedingung für religionswissenschaftliche Arbeit gelten kann, kann umgekehrt die Verpflichtung auf eine antireligiöse Haltung Bedingung für religionswissenschaftliches Arbeiten sein (…)“ (S. 109) und weiter: „Vor diesem Hintergrund haben Werte wie das Bemühen um Toleranz und Unvoreingenommenheit gegenüber dem Forschungsgegenstand Religion (und damit auch gegenüber den Glaubenden) Priorität gewonnen. (…) Diese Zurückhaltung hat auf der anderen Seite aber auch dazu beigetragen, daß die Religionswissenschaft in der öffentlichen Debatte um religiöse Konfliktfelder kaum zu Wort kommt.“ (ebd.)

Getreu dem Ideal eines neutralen ‚methodischen Agnostizismus‘ bzw. ‚methodologischen Neutralismus‘ (S. 68) der Religionswissenschaft wäre es Voraussetzung in Form der Eigenkritik, blinde Flecken zu beseitigen. Dies gelingt beispielsweise in der Überwindung einer rein andro-, christo- oder eurozentrischen Perspektive, beziehungsweise der Überwindung der Scheu vor gesellschaftlich riskanten Themen. Peter Antes beschreibt seine Beobachtungen über die fälschliche Verwendung des Begriffes ‚Fundamentalismus‘ in der Öffentlichkeit (S. 109-206). Hier kann die Religionswissenschaft in öffentliche Debatten klärend und versachlichend wirken. Neben der reinen Bereitstellung von Daten und der Tätigkeit als ‚Dolmetscher‘ im (kritischen) interreligiösen Dialog, wäre dies unter anderem hilfreich für Therapeuten, Weltanschauungsbeauftrage, Erzieher oder Journalisten (S. 235; [vgl. auch “Betrug”, “Gewalt” oder “Spiritualität”: Entwicklungen in der Berichterstattung über Religion in ‘Stern’ und ‘Spiegel’ seit 1960; Anm. Red.]).
Auf der anderen Seite der Pendelbewegung steht die persönliche, vielleicht auch religiös motivierte Kritik des Religionswissenschaftlers – auf dem Boden der Verfassung die der Anerkennung der Religionsfreiheit, beispielsweise: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet“ (Art. 4 GG in: ebd. S. 173), bleibt die Interpretation des Religionswissenschaftlers jedoch eine Frage des persönlichen Engagements.

Nach einer Auflistung der öffentlichen Thematisierungen von Religion in deren Funktionen, Bewertungen und Eigendynamiken beschreibt Volkhard Krech die Positionierung von REMID (das System Recht besitzt hier beispielsweise die Funktion der Normierung, den Wertbezug der Gerechtigkeit und in seiner Eigendynamik die Neigung zur ‚Verrechtlichung‘ und Kriminalisierung; vgl. ebd. S. 62). Wie andere Systeme erscheint somit auch die Wissenschaft als ein System neben anderen. Er schreibt:

„Um die jeweiligen Eigendynamiken zu verhindern, müssen sich idealerweise alle angeführten Instanzen in einem ausgewogenen Kräfteverhältnis gegenseitig kontrollieren. Dafür bedarf es entsprechender Institutionen. Als eine solche vermittelnde Institution kann der Religionswissenschaftliche Medien- und Informationsdienst (REMID) fungieren (…)“ (S. 63f.).

Zu dessen ‚persönlichem‘ Anteil und damit verbunden auch zu einer Positionierung zu der weiterführenden Religionskritik der Aufklärung, erklärt er:

„Die Zielvorgabe dieser Vermittlung besteht laut Satzung darin, die wissenschaftlich gewonnenen Erkenntnisse ‚gesellschaftlich nutzbar zu machen, d.h. ein friedliches und tolerantes Zusammenleben der Menschen und der verschiedenen Religionen zu fördern und gegenseitig respektieren zu können‘. Der in dieser Zielvorgabe zum Ausdruck kommende Wertbezug auf das Toleranzprinzip geht über rein wissenschaftliche Interessen hinaus, ist wissenschaftlich nicht begründbar. Der satzungsgemäße Auftrag füllt den in meinem Schema offen gelassene Wertbezug religionspolitischer Praxis mit dem Toleranz- und Dialogprinzip und setzt sich damit für die Förderung der verfassungsrechtlich gewährleisteten Religionsfreiheit ein“ (S. 64).

Die Haltung der Religionswissenschaft und ihr Verhältnis zur Religionskritik sei anhand zweier Bilder noch einmal verdeutlicht: Das erste Bild ist, anlehnend an Sebastian Murkens Vergleich des Verhältnisses von Religion und Gesundheit als Regen – das Wetter. Er fragt: „Ist Regen gut für die Ernte?“ (S. 168) Und erklärt: „Die Dosis macht das Gift“ (S. 169; [frei nach Paracelsus; Anm. Red.]). So gesehen, wäre Religionswissenschaft vergleichbar einer Meteorologie, die – unabhängig davon, welches Wetter Einzelne präferieren – Daten erhebt.

Das zweite Bild entnehme ich einer Beobachtung bei einer Parteiveranstaltung: Eine Politikwissenschaftlerin wurde gefragt, wieso sie Interesse an dieser Partei habe und antwortete: „Wer, wenn nicht die Politikwissenschaftler?“ (Januar 2014 bei den Jusos in Marburg). Analog dazu ließe sich, unabhängig davon, welcher Position man sich anschließt, für die Frage der Religionskritik antworten: Wer, wenn nicht die Religionswissenschaftler?

Friedemann Rimbach-Sator

4 Kommentare:

  1. An dieser Stelle sei auch erinnert an Fritz Heinrich: Die deutsche Religionswissenschaft und der Nationalsozialismus. Eine ideologiekritische und wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung. Petersberg 2002; sowie an Kurt Rudolph: Die ‘ideologiekritische’ Funktion der Religionswissenschaft, im Original 1978 in der Zeitschrift Numen; sowie an eine Ausgabe der Zeitschrift für junge Religionswissenschaft von 2007 (PDF) mit Beiträgen, welche das Plädoyer Rudolphs kritisch aktualisieren.

  2. Pingback:Die Sache mit der Religionsfreiheit. 25 Jahre REMID: Bericht zur Jubiläumstagung « REMID Blog

  3. Pingback:Lovecraft goes Magick: Cthulhus Ruf in Phantastik und (neuer) Religion – REMID Blog

  4. “Wer in Glaubensfragen den Verstand befragt, kriegt unchristliche Antworten.” Wilhelm Busch

    Schöne Grüsse aus der Ausstellung “Religionskritik” http://www.freidenker-galerie.de/acrylbilder-lustige-zitate-politik-und-religion-2/

Kommentare sind geschlossen