Während die Facebook-Seite von REMID sich bisher auf Nachrichten mit REMID-Bezug beschränkt, bietet unser Twitter-Account auch weitere religionsbezogene Nachrichten. Diese spiegeln nicht notwendig unsere Ansicht, in einigen Fällen werden zusätzlich “Kontrapunkte” geliefert, etwa wenn die Bürger_innen von Weilerswist bei der Vermietungspraxis der öffentlichen Schulräume in schulfreien Zeiten einen Fundamentalismus-Filter wünschen, ein Hinweis auf einen REMID-Blog-Artikel über die Religionsfreiheit gefährdende Wirkung von solchen “Sektenfiltern”. Über Twitter kam auch der Kontakt zu Dr. Georg Neureither, Gründer und Inhaber der Internetplattform „Religion – Weltanschauung – Recht [ RWR ]“ (religion-weltanschauung-recht.de), zustande. Außerdem ist er Lehrbeauftragter für Staatskirchenrecht und Kirchenrecht an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Lehrbeauftragter für Religionsverfassungsrecht an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Prüfer in der Ersten juristischen Prüfung in Baden-Württemberg. REMID interviewte ihn über seine Medienarbeit und über eine religionsverfassungsrechtliche Perspektive auf das Zeitgeschehen.
Wir haben uns ja sozusagen über Twitter kennengelernt, und es gibt immer wieder stärkere Überschneidungen bei den Interessen. Ihr Blog „Religion – Weltanschauung – Recht [ RWR ]“ diente zunächst als Begleitmaterial zu Ihrer Vorlesung „Staatskirchenrecht“ an der Juristischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, deren Lehrbeauftragter Sie sind. Unsere Themen sind religiöse Vielfalt und Religionsfreiheit aus einer religionswissenschaftlichen Perspektive. Wie würden Sie Ihre Themen und Perspektive(n) charakterisieren?
In der Tat war der Blog zunächst als „closed shop“ gedacht, eben als Zugriffsstelle für aktuelle Informationen rund um das Thema „Religion, Weltanschauung, Recht“ meiner Studenten und gar nicht für jedermann. Im Gespräch mit Kollegen wurde dann aber schnell klar, dass ein größeres Bedürfnis danach besteht, die Informationen, welche man sich sonst aus sehr vielen Quellen mühsam zusammensuchen muss, an einem Ort versammelt zu finden. Daraufhin habe ich den Blog frei zugänglich gemacht.
Mit den drei Buchstaben „R“, „W“ und „R“ für „Religion“, „Weltanschauung“ und „Recht“ sind meine Themen charakterisiert. Gegenstand ist damit das, was man mit dem klassischen Begriff „Staatskirchenrecht“ oder mit dem gleichbedeutenden, heute wohl vorherrschend verwendeten Begriff „Religionsverfassungsrecht“ bezeichnet. Kernidee ist es, Erstanlaufstelle für Informationen und Fundgrube für Recherchen im Kontext von Religion, Weltanschauung und Recht zu sein. Die Seite vereint die über zahllose Internetseiten verstreuten Neuigkeiten und bündelt sie an einem Ort. Lästiges, weil umständliches und zeitintensives Zusammensuchen entfällt damit. Alle aktuellen Ereignisse aus Gesetzgebung, Rechtsprechung, Verwaltung u.a. werden chronologisch und auf mehrerlei Weisen systematisch verfügbar gemacht. Eine Volltextsuche erleichtert die Recherche im Bestand. Das Angebot wird laufend aktualisiert und konzeptionell weiter ausgebaut.
Verfolgbar ist das Angebot auch in den sozialen Netzwerken Facebook, Google+, Jusmeum, LinkedIn, Twitter und Xing. Der Twitter-Account bietet außerdem Nachrichten von außen, also außerhalb der nationalen, EU- und EMRK-basierten Grenzen, sowie von innen, also innerhalb der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. So gibt es insgesamt, wie wir bemerkt haben, viele bereichernde Überschneidungen mit Ihrem Angebot des Religionswissenschaftlichen Medien- und Informationsdienstes REMID.
Schließlich: Nachdem ich festgestellt habe, dass die Seite nicht nur in der Fachwelt beachtet wird, sondern eine deutlich breitere Wahrnehmungsbasis gewonnen hat, habe ich begonnen, mit den Rubriken „Aufgelesen“ und „Juristenglück“ auch Beiträge „Neben der Sache“ anzubieten.
Mit diesem Stand ist gegenwärtig schon viel erreicht. Aber: there’s more to come!
Was waren die wichtigsten Entwicklungen der letzten Zeit aus Ihrer Sicht?
Das lässt sich zum einen optisch sehr schön an der Schlagwortwolke der Seite ablesen. Zum andern: Inhaltlich war das alles überdeckende Thema des Jahres 2012 natürlich das Thema „Beschneidung“ [Anm. Red.: vgl. auch das REMID-Interview zum Thema]. 2013 gab es nicht das eine beherrschende Thema. Ebenso wenig ist das bisher in diesem Jahr der Fall. Stattdessen hat eine Themenvielfalt das Geschehen bestimmt und bestimmt es.
Da ist zunächst der Dauerbrenner „Dritter Weg“, zu dem nun eine Verfassungsbeschwerde der Gewerkschaft ver.di in Karlsruhe liegt. Allerdings sind hier auch Entwicklungen zu beobachten, nach denen sich die Beteiligten um konsensuale Lösungen bemühen.
Ein Feld, auf dem die Interessen weitgehend gleichgerichtet sind und das ebenfalls eine große Rolle in den letzten Jahren gespielt hat, ist etwa das des Sonn- und Feiertagsschutzes.
Von großer Bedeutung ist in mehrerer Hinsicht der Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts, den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften erlangen können. Mit der Ahmadiyya Muslim Jamaat hat im vergangenen Jahr die erste muslimische Religionsgemeinschaft diesen Status erhalten. Weitere muslimische Religionsgemeinschaften bemühen sich ebenfalls darum. Ohne Übertreibung kann man sagen, dass derzeit ein „Boom“ der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften hin zur Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts besteht.
Ein weiteres wichtiges Thema ist das Thema „Schule“. Die Einführung islamischen Religionsunterrichts oder humanistischen Weltanschauungsunterrichts wie das Thema „Religionsunterricht“ generell, die Befreiung vom Schwimmunterricht, die Infragestellung des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags durch den Wunsch nach sog. Homeschooling – das und mehr zeigt, dass in der Schule im Kleinen die Themen der Gesellschaft im Großen verhandelt werden.
Ein Weiteres ist – spätestens – in den vergangenen Jahren klar geworden: Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht, wie man sagen will, kann nicht mehr ohne die Beachtung der Rechtsprechung des EGMR betrieben werden, von A wie Asylrecht bis Z wie Zeugen Jehovas.
Eine neue Einrichtung Ihres Blogs sind Dossiers zu bestimmten Themen wie Asyl, Körperschaftsstatus oder Schule. Wie werden diese Angebote von der Webgemeinde angenommen?
Schnell verliert man in der chronologischen Abfolge der Ereignisse den Überblick über Themen und ihren Zusammenhang. Genau das bieten die Dossiers: Überblick und Zusammenhalt. Thematische Struktur statt zeitlicher Schnur. Das ist für die Fachwelt, sei es in der Praxis als Anwalt, Richter oder in der Verwaltung des Staates oder einer Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft, sei es als Wissenschaftler von großer Bedeutung. Was mich besonders freut, ist, dass gerade die Dossiers auch einen Kreis anzusprechen scheinen, der keinen juristischen Hintergrund hat. Beim Dossier „Schule“ war zum Beispiel zu beobachten, dass viele Zugriffe auf den Blog von Seiten kamen, die ein pädagogisches Angebot beinhalteten. Und das Dossier zum Thema „Kirchensteuer“ konnte offenbar denjenigen weiterhelfen, die sich seit Beginn des Jahres verwundert fragen, warum ihre Bank nach ihrer Religionszugehörigkeit fragt.
Bezüglich der Körperschaften des öffentlichen Rechts erwähnten Sie ja bereits den Erfolg der Ahmadiyya Muslim Jamaat. In einem Interview mit REMID bestätigte Sven Speer vom Forum Offene Religionspolitik Baykal Arslanbuga von der Alevitischen Gemeinde Deutschland darin, dass Deutschland tatsächlich zu einem Vorbild für andere Länder werden könne, „sofern die Kooperation des deutschen Staates konsequent für alle Religionen und Weltanschauungen geöffnet wird“. Was halten Sie von dieser Einschätzung?
Dazu ist aus meiner Sicht zweierlei zusagen. Zum einen – falls die Aussage so gemeint sein sollte – bin ich mit der Idee eines deutschen Rechtsexports sehr vorsichtig. Gerade das Rechtsverhältnis zwischen Staat und Religion ist in spezifischem Maße Ausdruck von Entwicklungen, die in jedem Land anders verlaufen sind und daher eine je verschiedene Form gefunden haben. Der Körperschaftsstatus etwa ist unser rechtlicher Ausdruck dieser Entwicklungen. Ob das auf andere Länder übertragbar ist, halte ich für zweifelhaft; jedenfalls muss das jeder Staat selbst bestimmen. Mit Vorschlägen in diesem Bereich wäre ich zurückhaltend.
Zum andern klingt in der von Ihnen zitierten Formulierung ein Defizit an, das ich so nicht sehe. Der Körperschaftsstatus steht allen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften offen. Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV enthält ein deutlich gleichheitsrechtliches Element. Die „Kooperation des deutschen Staates“ ist damit „für alle Religionen und Weltanschauungen geöffnet“, und zwar im Übrigen auch völlig unabhängig von der Rechtsform der jeweiligen Gemeinschaft, mithin unabhängig vom Körperschaftsstatus. Denken Sie etwa an die Erteilung des Religionsunterrichts. Eine Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft, die Religions- oder Weltanschauungsunterricht erteilen will, muss keine Körperschaft des öffentlichen Rechts sein.
Die Gleichheit der Bekenntnisse schließt allerdings nicht aus, dass der Staat zwischen den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften differenziert, also ungleich behandelt. Verboten ist allerdings die nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung. Damit kommt es wesentlich auf den Sachgrund der Ungleichbehandlung, auf das Differenzierungskriterium an, über das natürlich rechtlich und politisch gestritten werden kann und soll. Wir haben also keine strikte, sondern eine relative Gleichheit im (Religions-)Verfassungsrecht, ebenso wie wir keine strikte, sondern eine relative Freiheit haben. Diese Relativitäten machen Freiheit und Gleichheit erst operabel. In diesem Punkt, den ich kürzlich in einem Beitrag für das Forum Offene Religionspolitik näher dargelegt habe, bin ich aus verfassungsrechtlicher Sicht anderer Ansicht als Sven Speer.
Sie erwähnten den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Wie kommt es, dass in vielen Fällen (auch Deutschland betreffend) Religionsfreiheit erst in dieser Instanz eingeklagt werden kann?
Dass in Deutschland die Religionsfreiheit erst beim EGMR eingeklagt werden kann, sehe ich nicht. Die deutschen Gerichte sind auch auf den unteren Instanzen staatskirchenrechtlich so „firm“, dass der Rechtsschutz gegen Eingriffe in die Religionsfreiheit „von unten bis oben“ gewährleistet ist. Das mag in anderen Ländern anders sein.
Eine andere Frage ist natürlich, ob man mit einer Entscheidung einverstanden ist oder nicht. Aus der Perspektive dessen, der vor deutschen Gerichten unterlegen ist, vom EGMR aber Recht bekommen hat, stellt es sich sicher so dar, als habe erst der EGMR der eigenen Religionsfreiheit zu ihrem Recht verholfen. Hier differieren Individualperspektive und Rechtsperspektive.
Bild von CherryX unter Creative Commons Lizenz CC BY-SA 3.0.
Viele soziale Dienste wie Kitas, Kindergärten, Krankenhäuser, Pflege- und Rettungsdienste, Altersheime etc. sind über kirchliche freie Träger organisiert. Zwar ist diese Organisationsform auch anderen offen – und der Humanistische Verband Deutschlands ist entsprechende Schritte gegangen (siehe z.B. hvd-kitas.de) –, doch werden auf solche Weise gebundene Einrichtungen auch teilweise stark kritisiert, etwa wenn geschiedenen Mitarbeitern in katholischen Einrichtungen gekündigt wird. Was sagen Sie zu dieser Kritik aus religionsverfassungsrechtlicher Perspektive?
Dazu muss man zunächst wissen, dass Religionsgemeinschaften nach Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV und nach Art. 137 Abs. 7 WRV auch Weltanschauungsgemeinschaften das Recht zur Selbstbestimmung besitzen, d.h. sie ordnen und verwalten ihre Angelegenheiten selbstständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Dieses Recht beinhaltet, dass die jeweiligen Gemeinschaften selbst bestimmen, was ihre Angelegenheiten sind und wie sie diese ordnen und verwalten. Maßgebend ist deren Selbstverständnis. Dazu gehört auch die Möglichkeit, in die Arbeitsverträge, die niemand einzugehen gezwungen ist, bestimmte Loyalitätsobliegenheiten etwa hinsichtlich der Lebensführung aufzunehmen. Wenn beide Seiten einverstanden sind, werden sie Bestandteil des Arbeitsvertrags.
Derzeit wird nun u.a. in arbeitsrechtlichen Konstellationen wie der von Ihnen geschilderten – wieder – diskutiert (die Diskussion ist nicht neu), wie sich das Selbstverständnis der betreffenden Gemeinschaften auf die Grenzen ihres Selbstbestimmungsrechts auswirkt. Die Diskussionslinie verläuft in groben Zügen folgendermaßen. Vornehmlich in der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung wird unterschieden, wie nahe ein Mitarbeiter am Bekenntniskern einer Gemeinschaft beschäftigt ist. Beispielsweise sollen dann für einen Buchhalter weniger strenge Anforderungen gelten als für eine Kindergärtnerin, für eine Reinigungskraft andere als für einen Messner. Die Arbeitsgerichte gewichten die Loyalitätsobliegenheiten also unterschiedlich und nehmen entsprechende Abstufungen vor. Die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung nimmt hingegen keine solchen Abstufungen vor. Sie geht davon aus, dass wegen des Selbstverständnisses nur die betreffenden Gemeinschaften selbst sagen können, was Nähe ist. Die religiöse und weltanschauliche Neutralität des Staates verbietet es ihm, Aussagen zu einer Bekenntnisnähe oder -ferne zu machen; das kann nur die jeweilige Gemeinschaft. Ich halte das für richtig. Daraus ergibt sich die Aufgabe, entsprechend neutrale Differenzierungskriterien zu entwickeln. Hierzu gehören auf Seiten des Arbeitnehmers beispielsweise die Beschäftigungsdauer oder das Lebensalter oder auf Seiten des Arbeitgebers ein etwaiger Verstoß gegen Strafvorschriften des Staates oder des jeweiligen Bekenntnisses.
Aktuell wurden diese Positionen übrigens vor dem EGMR verhandelt. Im Fall „Păstorul cel Bun“ hatte sich innerhalb der rumänisch-orthodoxen Kirche eine aus Klerikern und Laien bestehende Gruppe zusammengefunden, um sich als Gewerkschaft eintragen zu lassen. Die Kirche sah sich in ihrem Selbstbestimmungsrecht verletzt, die Gegenseite in ihrem Assoziationsrecht. Während die Kammer des EGMR der Gegenseite Recht gab, entschied die Große Kammer des EGMR genau umgekehrt.
Wie die Entwicklung in Deutschland weiterverläuft und welchen Einfluss die EGMR-Rechtsprechung haben wird, bleibt abzuwarten.
Bei aller Dogmatisierung von Streitfragen darf man jedoch eines nicht übersehen. Vor Gericht kommen immer nur die „pathologischen“ Fälle, also diejenigen, bei denen die Beteiligten aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht mehr miteinander sprechen und nach gemeinsamen Lösungen suchen können. Das ist menschlich sehr verständlich, und dann muss eben ein unbeteiligter Dritter den Streit entscheiden. Das ist jedoch nach meinem Eindruck die geringere Zahl der Fälle. In der Mehrzahl scheint es den Parteien zu gelingen, trotz der hohen emotionalen Beteiligung annehmbare Vorstellungen zu entwickeln und im Gespräch zu einer gemeinsamen Lösung zu führen. In den mir bekannten Fällen wurde jedenfalls keines der Arbeitsverhältnisse beendet. Dem Rechtsfrieden, der Gesellschaft wie des Einzelnen, ist mit einverständlichen Lösungen jedenfalls bei Weitem mehr gedient!
Danke für das Interview.
Das Interview führte Kris Wagenseil.
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