Religiöse Vielfalt und politische Gegenwart im Libanon

Einen besonderen Blick auf ein anderes Land ermöglicht uns Christian Witt, Politologie-Student an der Universität Marburg. Nach der Herbstmigration der Bhaktiari im Iran, dem Christentum nicht nur auf den Philippinen, religiösem Pluralismus in Südkorea oder Auroville in Indien widmet sich das aktuelle Interview der religiösen Vielfalt und der politischen Gegenwart des Libanon – einschließlich der Anerkennungspraxis von Religionen, ihrer Beteiligung in der Politik, über Atheismus, westliche Kultur, Antisemitismus und antikes Erbe.

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Im Vordergrund die Griechisch-Orthodoxe St.-Georg Kirche, im Hintergrund die sunnitische Mohammed-al-Amin-Moschee am Platz der Märtyrer in der Innenstadt der libanesischen Hauptstadt Beirut. Klicken Sie zur Vergrößerung jeweils auf die Fotografien.

Bild von Christian Witt unter Creative Commons Lizenz CC BY-SA 3.0 DE.

 

Wie kam es zu Ihrer Libanonreise im März 2012 und mit welchem Interesse wurde sie geplant?

Das kam auf Initiative der Lehrstühle Religionsgeschichte und Ostkirchengeschichte der evangelische Theologie der Universität Marburg. In Vorbereitung der Exkursion in den Libanon gab es im Wintersemester ein gemeinsames Seminar, welches auch anderen Fächern wie der Religionswissenschaft – ich bin kein Theologe, sondern Politikwissenschaftler – offen stand. In dem Seminar ging es um die vielfältige religiöse Geschichte der Region von der Antike bis zur Gegenwart. Ziel war es am Beispiel des Libanon die Kontinuitäten und Brüche in der Geschichte der Konfessionen dieser Region mit all ihren heutigen Herausforderungen erfahrbar zu machen. Die Kontakte am Lehrstuhl Ostkirchengeschichte haben es ermöglicht in der Beiruter Near East School of Theologie – kurz Nest – zu wohnen und mit den unterschiedlichsten Religionsgemeinschaften Treffen zu vereinbaren, um ganz persönliche Begegnungen zu haben und sich ein direktes Bild machen zu können. Die Exkursion war auf zehn Tage ausgelegt, in der wir ein sehr volles Programm durchgearbeitet haben. Eingeplant war nur ein freier Vormittag, den ich aber mit einer kleinen Gruppe nutzen konnte, um eines der palästinensischen Flüchtlingslager in Beirut zu besuchen. Aufgrund einer Reisewarnung des Auswärtigen Amtes musste das in unserer Freizeit geschehen.

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Libanon ist ein Land der unmittelbaren religiösen Vielfalt: Zwischen der Griechisch-Orthodoxen St.-Georg-Kirche, der Maronitischen St.-Georg-Kathedrale und der Mohammed-al-Amine-Moschee in Beirut liegt ein römisch-phönizisches Ruinenfeld.

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Wie sieht es aus mit den Religionen im Libanon? Welche sind offiziell anerkannt?

Die Verfassung des Libanon erkennt 18 Religionen an. Bei den muslimischen Religionsgemeinschaften wird da unterschieden in Schiiten, Sunniten, Drusen, Alawiten und Ismailiten – also fünf -, sowie zwölf christliche Religionsgemeinschaften: Maroniten, Griechisch-Orthodoxe, Griechisch-Katholiken, Armenisch-Orthodoxe, Armenisch-Katholiken, Römisch-Katholiken, Syrisch-Orthodoxe, Chaldäer, Assyrisch-Chaldäer, Syrisch-Katholiken, Kopten und Protestanten. Zudem gibt es eine anerkannte aber unbekannte Anzahl von Juden. Darüber hinaus gibt es noch weitere nicht anerkannte Religionsgemeinschaften. In der Geschichte des Libanon war das namensgebende unwegsame Libanongebirge, die Bekaa-Ebene und der Antilibanon für viele Konfessionen ein schützendes Rückzugsgebiet vor Verfolgung.

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Die Amir Mansur Assaf Moschee, 1580 erbaut.

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Wie offen wird Religion gelebt? Und vor allem welche?

Die Religionen werden, wenn es ihrer Art entspricht, offen gelebt. Die religiöse Praxis der Alawiten unterscheidet in einen Öffentlichen und einen geheimen Bereich. Da ist es also normal, dass nicht alles öffentlich ist. Die jüdische Gemeinschaft kommt in der Öffentlichkeit nicht vor, lediglich einen christlich-jüdischen Friedhof habe ich gesehen. Das würde ich aber nicht als gelebte öffentliche Religion bezeichnen.

Kürzlich war ich in Marokko. Dort konnte man z.B. auf Parkplätzen, hinter dem eigenen Taxi, gläubige Muslime beim Gebet sehen. Eine solche öffentliche Praxis habe ich im Libanon nicht gesehen. Ich würde sagen, im Libanon bekennt man sich offen zur eigenen Religion, durch Kleidung und Symbole – ich habe noch nie so viele Gipfelkreuze wie im Libanon gesehen. In jeder Stadt sind Gotteshäuser der verschiedenen Konfessionen direkt nebeneinander zu finden. Gleichzeit ist der Umgang unter den Religionen sehr respektvoll und tolerant.

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Nach einer abenteuerlichen Fahrt erreichen wir das Kloster Deir Mar of St Anthony of Qozhaya im Wadi Qadischa. Teile des Klosters sind in Höhlen des Berges. Ein Museum gibt es auch.

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Wir konnten Kirchen und Moscheen besuchen. Natürlich bat man uns bestimmte Verhaltensregeln zu beachten. Viele Moscheen sind durchaus auf Besucher vorbereitet. So gibt es für die Frauen Gewänder zum überwerfen, um Haare oder Figur betonende Kleidung zu verhüllen. Wir konnten uns dann in den Moscheen frei bewegen und auch fotografieren. Nur die betenden Gläubigen sollten wir nicht stören und um Erlaubnis fragen. Wir haben die Menschen hier als sehr freundlich, hilfsbereit und offen kennengelernt. Die Menschen sind sehr froh, wenn man auf sie zu geht und als Europäer ehrliches Interesse zeigt.

Von vielen Geistlichen wurden wir oft auf den engen Kontakt hingewiesen, den man mit den Amtskollegen der anderen Konfessionen habe, um zu zeigen, dass die Spannungen im Libanon keine religiösen Ursachen haben, sondern politische.
Der Stellenwert und die Identifikation der Familie und der religiösen Gemeinschaft ist sehr hoch. Das geht einher mit der Schwäche des Staates. Da der Staat keine Sicherheit, Rechtssicherheit oder wohlfahrtsstaatliche Aufgaben verlässlich gewähren kann, ist es die Familie – oder Religionsgemeinschaft – auf die man sich verlässt.

Mein Eindruck ist aber, dass dies zu mehr Toleranz gegenüber den anderen Gemeinschaften führt als innerhalb der eigenen Gruppe.

Eine völlig andere Wahrnehmung z.B. war, dass von Schiiten bewohnte Wohnungen in Beirut durch mit Duschvorhängen verhängte Balkone zu identifizieren waren. Natürlich wollen die weiblichen Bewohnerinnen auch den Balkon benutzen ohne dafür gleich wieder die Verschleierung anziehen zu müssen. So wird eben der Balkon verschleiert. Bei aller offen zur Schau gelegten Toleranz kommt es aber immer wieder zu Konflikten und auch vor der Near East School of Theology war ein Wohncontainer mit einigen Soldaten rund um die Uhr postiert.

Im Parlament gibt es das Prinzip der konfessionalen Parität? Wie sieht das aus und wie läuft es in der Praxis?

Sie haben sich gut informiert. Das System der konfessionalen Parität ist einzigartig und legt die Anzahl der Abgeordneten nach Religionsgemeinschaften im Parlament und zwar über Parteigrenzen hinweg fest. Das ist schon eine ziemlich komplizierte Aufgabe bei mehr als zehn Parteien im Parlament und sehr unterschiedlichen politischen Zielen. Dabei sind zwei Hauptlager zu erkennen – pro westlich und pro syrisch. Als wir 2012 im Libanon waren, war eine pro-syrische Koalition gerade an der Macht. Vor dem Bürgerkrieg im Libanon ca. 1975 bis 1990 waren die Christen durch die Verfassung im Parlament in der Überzahl. Die Verfassung entstand zu einer Zeit, wo auch die Christen in der Bevölkerung die Mehrheit hatten. Der Anteil der Muslime nahm in den letzten 70 Jahren aber deutlich zu und dies führte zu Spannungen wegen des größeren politischen Einflusses der Christen. Der Bürgerkrieg hatte aber noch viele andere Ursachen und Konfliktlinien, auf die ich hier unmöglich eingehen kann. Mit dem Frieden 1990 wurde die Verfassung überarbeitet. Christen und Muslime haben seitdem jeweils 64 der insgesamt 128 Sitze. Die 64 Sitze wiederum werden auf einen Anteil der jeweiligen Konfessionen umgeschlagen. Nicht alle anerkannten Konfessionen finden sich hier wieder. Ich will jetzt nicht alle aufzählen, aber die Maroniten müssen z.B. 34 Sitze haben, Griechisch-orthodoxe 14 Sitze, Sunniten und Schiiten haben jeweils 27 und die Drusen 8 Sitze. Diese Bedingungen müssen die Parteien erfüllen und die Bandbreite ist von Nationalisten, Kommunisten, Arabischen, Patriotischen, Linken über Demokraten sehr weit aufgestellt.

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Das libanesische Parlamentsgebäude in Beirut.

Bild von Christian Witt unter Creative Commons Lizenz CC BY-SA 3.0 DE.

Auch sind staatliche Ämter bestimmten Konfessionen zugeordnet. So muss zum Beispiel der Präsident des Landes Maronit, der Ministerpräsident Sunnit und der Parlamentspräsident Schiit sein usw. Das sorgt zwar für einen Ausgleich zwischen den großen Lagern der Christen und Muslime, aber führt nicht zu einem stabilen Staat. Dennoch ist man sehr stolz auf dieses System, da bestimmte Religionen dadurch nicht wie in anderen Ländern der Region marginalisiert werden.

Der Vorteil des Systems ist, dass auf diese Weise religiösen Ängsten, von anderen Konfessionen dominiert zu werden, begegnet werden kann. Der Nachteil ist, meiner Meinung nach, die Erstarrung, die dieses System mit sich bringt. Der religiöse Bezug wird zementiert auf eine Auswahl von Religionen und schließt andere Religionen aus, von Nichtreligiösen ganz zu Schweigen. Die erhoffte Stabilität bringt es dem Libanon nicht. Ich kann mir vorstellen, dass dies auch dazu führt viele Konflikte häufig religiös zu werten, auch wenn sie vielleicht eher wirtschaftlicher Natur sind. Der Bürgerkrieg hat jedenfalls gezeigt, dass die Konflikt- und Bündnislinien quer durch alle Religionsgemeinschaften und Familien gehen können.

Sie haben auch einen Eremiten besucht?

Ja, das ist richtig. Leider kann ich nur wenig dazu sagen, da wir spontan zu ihm gefahren sind. Andere Termine mussten ausfallen, da einige Pässe im Gebirge noch wegen Schnee unpassierbar waren. So sind wir stattdessen zu dem Eremiten gefahren. Er wohnte im steilen Hang eines Tales, fast schon eine Schlucht, dem Libanongebirge nahe, oder vielleicht auch im Wadi Qadischa mit seinen zahlreichen Klöstern, übrigens ein UNESCO-Weltkulturerbe. Zum Glück wurde der Abstieg zu seinem Domizil erst vor kurzer Zeit ausgebaut. Seine Unterkunft ist teilweise in eine Höhle hinein gebaut. Es gibt auch eine kleine Kapelle und einen kleinen Garten im Hang. Der vorherige Eremit war verstorben. Als er davon erfuhr, bemühte er sich um die Erlaubnis hier einziehen zu dürfen. Er kommt aus Spanien. Die Menschen aus den Dörfern der Umgebung besuchen ihn gelegentlich und versorgen ihn mit dem Nötigsten, was diesen wiederum Glück bringen soll. Aber auch Reisegruppen, wie die unsere, empfängt er hier sehr freundlich. Man kann also nicht sagen, dass er hier völlig einsam leben würde. Allerdings bei Schneefall ist er kaum zu erreichen und so ganz ungefährlich ist der Weg auch heute nicht.

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Bei einem Eremiten.

Bild von Christian Witt unter Creative Commons Lizenz CC BY-SA 3.0 DE.

 

Ruinen unterschiedlichster Kulturen durchziehen den Libanon. Welche Bedeutung haben sie für die Menschen bzw. das Land heute?

Es ist schwer diese Frage angemessen zu beantworten. Im Libanon ist man stolz auf das antike Erbe. Die Phönizier haben hier ihren Ursprung und Städte wie Tyros und Sidon können auf eine über 3000jährige Geschichte zurückblicken. Man hat versucht aus diesem Erbe eine gemeinsame libanesische Identität zu bilden, das ist aber nicht gelungen. Während sich die Christen im Libanon als Mittelmeeranreiner verstehen, sehen sich die Muslime, wie man mir sagte, eher als Araber. Auf die Zeder, die auch das Staatswappen ziert, kann man sich aber durchaus mit Stolz einigen. Der Libanon war schon in der Antike bekannt für sein berühmtes und begehrtes Zedernholz. Nebenwirkung dieses Erfolges ist, dass es heute kaum noch Zedern im Libanon gibt.

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Baalbek im Osten des Landes unweit der syrischen Grenze in der Bekaaebene nahe des Antilibanon.

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Im Osten des Landes, unweit der syrischen Grenze, liegt der Ort Baalbek mit seinen gewaltigen römischen Tempelruinen. Es sind Relikte der Römer von vor über 2000 Jahren, als der Libanon teil der Provinz Syria war. Vor- und Nachteil dieser touristischen Anlage liegen in Baalbek dicht beieinander. Man kann sich frei auf dem Gelände bewegen, was ein intensives Erleben möglich macht, aber gleichzeitig sind die Ruinen vor den Touristen auch kaum geschützt. Baalbek ist übrigens auch ein schiitischer Pilgerort. Eine Tochter Husseins und Enkelin Alis, des vierten Kalifen und Schwiegersohn Muhammads, ist hier nach der Flucht von der Schlacht bei Kerbala in der Moschee bestattet worden. Insbesondere Frauen suchen diesen Ort auf. Die Hisbollah ist hier ebenfalls allgegenwärtig.

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“In Baalbek soll die Tochter von Imam al-Husain, as-Sayyida Khaula, begraben liegen. Die Töchter und Frauen des schiitischen Imams wurden 680 u.Z. als Gefangene an den Hof des Kalifen Yazid nach Damaskus verschleppt, nachdem Husain und seine männlichen Gefolgsleute in der Schlacht von Karbala den “Märtyrertod” gestorben waren. Als der Gefangenentransport durch Baalbak zog, soll seine Tochter hier verstorben sein. Mit finanzieller Hilfe aus dem Iran wurde 2007 eine prächtige Grabmoschee fertiggestellt” (Zitat Dr. Stephan Rosiny, Nahost- und Islamwissenschaftler, rosoricon.de).

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Aus der Römischen Herrschaft wurde die Byzantinische Herrschaft, die sich in den orthodoxen-christlichen Kirchen ein Erbe bewahrt hat. Und das, obwohl die Byzantiner ab 636 von den Muslimen zurückgedrängt wurden.

Nicht weit von Baalbek sind die Ruinen von Anjar, einer unfertigen Stadtplanung aus der Zeit der Omajjaden-Dynastie, diese hatte die Hauptstadt der Muslime von Mekka nach Damaskus verlegt. Diese Stadt wurde allerdings nicht fertig.

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Ruinen der Stadt Anjar der Omayyaden.

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In dem schon erwähnten Küstenort Sidon gibt es verschiedene Festungsruinen, die die Kreuzritter hinterlassen haben. Die französischen Kreuzritter haben bei ihrer Durchreise die christlichen Maroniten „wiederentdeckt“, was die historische Verbindung von Frankreich und dem Libanon begründet hat. Die Maroniten haben sich der Autorität der römisch-katholischen Kirche unterworfen und genießen einige Sonderrechte, z.B. dürfen die Priester heiraten. Auch wenn die Muslime zwischenzeitlich die Herrschaft hatten, so haben die Christen und Juden in der Vergangenheit, beruhend auf der Toleranz gegenüber den nahestehenden Buchreligionen, hier weiter bestehen können. In der University of Balamand bei Tripoli konnten wir uns im Archiv die Originalkalligraphie anschauen, welches den maronitischen Christen im Osmanischen Reich die freie Religionsausübung beglaubigt hat.

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Der Libanon kam 1517 unter die Herrschaft der Osmanen, zunächst von der drusischen Man-Dynastie und ab 1697 durch den sunnitischen (und später zum maronitischen Glauben konvertierten) Schihab-Clan (Šihāb) als Emirat regiert. Durch abgebildetes Dokument wurde den Maroniten ihre freie Religionsausübung beglaubigt.

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Gibt es Atheisten im Libanon?

Davon gehe ich aus. Das heißt aber nicht, dass sie sich offen dazu bekennen. Sozialisten und Kommunisten gibt es jedenfalls, ob dies dann auch Atheisten sind, wie es ja oft bei uns gleichgesetzt wird, entzieht sich meiner Kenntnis.

Wie sieht es aus mit religionsbezogener Diskriminierung? Damit meine ich auch, aber nicht nur Antisemitismus.

Wie schon angedeutet, gibt man sich sehr tolerant. Eine offene religionsbezogene Diskriminierung habe ich nicht erlebt, außer, wie Sie es offensichtlich schon geahnt haben in Bezug auf Antisemitismus. Aber dazu später. Ich glaube der Bürgerkrieg wirkt im Umgang der Menschen noch nach. Und da man, meiner Ansicht nach, nicht in der Lage ist den Bürgerkrieg aufzuarbeiten, wird sich daran auch nicht viel ändern. Man hat uns versichert, dass es viele Waffenverstecke gibt. Wenn die Situation wieder eskalieren sollte, und leider bietet der Bürgerkrieg in Syrien durchaus Anlass zur Sorge, kann das auch wieder zu blutigen Konflikten im Libanon führen. Aufgrund dieser Situation ist man sehr darum bemüht keine provozierenden Handlungen durchzuführen. Ich glaube, wer den Bürgerkrieg erlebt hat, ist nicht unbedingt tolerant, weil man jetzt tolerant ist, sondern weil man niemandem einen Grund geben möchte Gewalt eskalieren zu lassen. Man versucht die ‘Brandstifter’ in den eignen Reihen zu kontrollieren. Ich glaube, man ist untereinander – also innerhalb der eigenen Religionsgemeinschaft – strenger miteinander als gegenüber den anderen Religionsgemeinschaften.

Den Antisemitismus halte ich wirklich für ein Problem, welches durch die Sorge vor einem Bürgerkrieg, noch verstärkt wird. Historisch, also vor der Gründung Israels, lebten hier Juden gleichermaßen anerkannt. Gleichzeitig sind mir Personen begegnet, die eben wegen der Gründung Israels sagen, dass es heute keine Juden mehr im Libanon gäbe. Der schiitische Glaubensführer des Libanon, Syed Ali Fadlallah, Sohn des verstorbenen, aber im Libanon und in der Hisbollah verehrten Muhammad Hussein Fadlallah, hat uns empfangen. Der Besuch wurde vom eigenen Fernsehsender als internationaler Besuch medienwirksam aufgezeichnet. Syed Ali Fadlallah hat uns seinerseits das System der anerkannten Religionen erklärt, aber dabei nur von 17 Religionen gesprochen. Die Juden hat er nicht genannt. Juden gäbe es seit der Gründung Israels eben nicht mehr im Libanon. Ob das so ist, kann ich nicht nachprüfen, vermutlich gibt es nicht mehr viele. Ich erwähnte schon einen christlich-jüdischen Friedhof, den ich sah. Dort waren Dofèk – die kleinen Steine, die man nach jüdischem Brauch auf das Grab legt – zu sehen.

Leider muss man anerkennen, dass die Feindschaft zu Israel etwa ist, worauf sich die Libanesen, Christen wie Muslime, einigen können. Sicher wird das auch als Katalysator für die internen Probleme benutzt, indem man Israel verantwortlich macht.

Es gibt im Libanon viele Flüchtlinge, palästinensische und kurdische, die seit jeher Ausgrenzung und Marginalisierung erleben. Diese Menschen leben inzwischen in der dritten Generation in sehr schlechten Verhältnissen. Sie erhalten keine Bürgerrechte und man vertritt den Standpunkt, dass sie, im Falle der Palästinenser, zurück nach Palästina sollen. Das wird wohl nicht geschehen und so bleibt die Situation unveränderlich prekär. Dazu eine Geschichte aus dem Bürgerkrieg. In Beirut gab es zwei Flüchtlingslager von Palästinensern: Sabra und Shatila. Nach einigen politischen Morden spitze sich die Lage zu und es kam hier zu Massakern in den Flüchtlingslagern. Nur soviel zu den Details, die israelische Armee hatte Teile von Beirut besetzt und grundsätzlich Kontrolle über die Flüchtlingslager. In den Lagern führten Milizen der als faschistisch bezeichneten libanesischen Phalangisten das Massaker durch. Das Massaker wurde erst spät durch die israelische Armee unterbrochen. Die genauen Umstände sind äußerst umstritten und wurden im Libanon nie geklärt, lediglich in Israel gab es eine Untersuchungskommission. Heute werden die Umstände meist so dargestellt, als habe die israelische Armee die alleinige Verantwortung. Es gibt einen kleinen verwachsenen Gedenkplatz an das Massaker in einer Art Hinterhof einiger Baracken. Transparente erinnern hier ausschließlich an die Täterschaft der israelischen Armee. Zum Bürgerkrieg und zu jüngeren Militäreinsätzen: Zu der Täterschaft oder Verantwortung von Libanesen findet man hier nichts. Und die Opfer, die Palästinenser, erfahren auch heute im Libanon keine Unterstützung und Anerkennung. Auch in der dritten Generation erhalten sie hier noch immer keinerlei Bürgerrechte.

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Ein Blick ins Innere des oben erwähnten schiitischen Mausoleums der Sayyida Khaula mit Moschee.

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Hatten Sie vor Ihrer Reise so etwas wie ein orientalistisches Libanonbild, das durch die Reise irritiert, aufgehoben oder relativiert wurde?

Es gab einige bemerkenswerte und sehr unterschiedliche Eindrücke, die mein Bild und meine Beziehung zu der Region verändert haben und gleichzeitig weiß ich nicht, ob ich ein orientalisches Libanonbild gehabt habe. Beirut ist in vielen Vierteln nicht von westlichen Städten zu unterscheiden. Gleichzeitig gibt es moderne Hochhäuser und Einkaufsmöglichkeiten. Dazwischen aber auch noch vom Bürgerkrieg mit Einschusslöchern übersäte Gebäude. Der Bürgerkrieg hat zudem zu einer größeren Segregation geführt. Heute gibt es wesentlich weniger gemischte Ehen als vor dem Krieg – aber man muss auch sagen, es gibt sie, wenn auch ganze Lebensläufe für die Familie erfunden werden. Es gibt im Nordosten den Stadtteil Bourj Hammoud. Dieser ist von Armeniern bewohnt, die sich nicht haben in den Bürgerkrieg hineinziehen lassen und so ist hier das Stadtbild ein völlig anderes und älteres. Mit eigener Sprache und Schrift und eigener Kleidung. Es gibt Luxus und Armut in Beirut. Zum normalen Stadtbild gehören z.B. knapp bekleidete Frauen genauso wie vollständig verschleierte. Menschen auf Werbeplakaten sind in Beirut ähnlich leicht bekleidet wie hier zu Lande. Wir haben ein Clubviertel in Beirut entdeckt, wo mit viel Alkohol und modernen Beats heiße Partys gefeiert werden. Das habe ich so offen nicht erwartet. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass dort nur arabische Christen wären. Ich habe den Eindruck, dass die alten Grenzen zwischen den traditionellen Gruppen die Chance haben zu verwischen. Auch wurde uns erzählt, dass viele Muslime aus dem arabischen Raum nach Beirut kommen, um hier mal der heimischen Kontrolle zu entgehen. Wir haben Restaurants erlebt, wo man sich zum Schischa-Rauchen trifft, unabhängig von der Religion, und Champions League schaut. Im Libanon gibt es zwei große Fankulturen: Barcelona und Bayern München. Ohnehin kann man sich mit vielen Libanesen über deutschen Fußball unterhalten. Jeder kennt Franz Beckenbauer – „den Kaiser“. Beirut hat zudem eine enorm hohe Zahl von Schönheitschirurgen. Nur weil man öffentlich Schleier trägt, heißt das ja nicht, das die arabischen Damen nicht eitel wären.

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Bourj Hammoud, nordöstlicher Stadtteil von Beirut, armenisch geprägt.

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Irritierend fand ich, obwohl ich wusste das nicht nur Englisch und Französisch gesprochen wird, dass auch die Christen die arabische Sprache und Schrift benutzen. So fand ich es immer wieder auffällig, wenn sich auf Bildern mit Heiligen oder Kreuzigungsdarstellungen arabische Schriftzeichen fanden, statt lateinischen oder griechischen. Mir wurde also sehr bewusst, dass man als Araber eben nicht zwangsläufig Muslim ist.

Wie uns ein Deutscher der protestantischen Gemeinde in Beirut sagte, konnte man vor dem Bürgerkrieg zum Skifahren und anschließend zum Baden. Zudem galt Beirut als das Paris des nahen Ostens.

In der Hochebene der Bekaa, zwischen Libanongebirge und Antilibanon sah ich sehr viel Umweltverschmutzung an den Äckern. Plastikwohlstandsmüll und umgekippte Gewässer. In Sidon, sagte man mir, gäbe es eine brennende Müllkippe die ins Meer wächst. Einige antike Ruinen bei Tyros konnten wir nicht betreten, da dort wegen des letzten Libanonkrieges zwischen Hisbollah und Israel letztere alte Lager von Bomben und Minen abgeworfen hatten.

In der Nähe der alten Hauptstadt Eddine ist ein Siedlungsgebiet der Drusen. Das ist eine muslimische Sondergemeinschaft, die ihren Ursprung bei den Fatimiden in Ägypten hat. Diese Religionsgemeinschaft glaubt an die Wiedergeburt. Wir konnten uns bei einer Schule der Drusen auch ein Museum anschauen, das auf eine ungewöhnliche eigene Art, ganz ohne historische Exponate, die Geschichte der Drusen im Libanon beleuchtet. Man darf nicht vergessen, der Staat ist so schwach, dass es kaum staatliche Museen gibt, die sind entweder privat, oder nicht vom Staat – wie z.B. die American University of Beirut. Das Museum entspricht westlichem Standard. Bei den Drusen machten wir quasi eine Zeitreise durch die Geschichte, mit allerlei selbstgebastelten Nachbauten, die am Ende ganz konsequent bei Raumschiffen und Science-Fiction landete. Ich durfte zwischenzeitlich auf einem Pappesel reiten. Ich habe selten so ein absurdes, lustiges und liebenswertes Museum erlebt.

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Science Fiction im Museum der Drusen bei Eddine.

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Vieles hat sich für mich relativiert. Insbesondere bin ich sensibilisiert worden, in welcher selbstverständlichen Sicherheit und auch Rechtssicherheit ich in Deutschland lebe. Ich bin von der Vielfältigkeit dieses kleinen Landes tief beeindruckt. Ich bin sehr dankbar für die Möglichkeit dieses Interviews, ich muss aber auch einräumen, dass ich nur einen Bruchteil meiner Eindrücke wiedergeben kann. Wenn ich jetzt positive und negative Punkte benannt habe, so bin ich doch insgesamt sehr vom Libanon und seinen Menschen berührt worden. Ich würde eine Reise unbedingt empfehlen – doch leider hat sich die Sicherheitslage durch den syrischen Bügerkrieg verschlechtert. Trotzdem hoffe ich das Land wieder besuchen zu können.

Übrigens: Es gibt ein paar Filme, mit welchen man sich über sehr unterschiedliche Themen dem Land annähern kann: z.B. “Waltz with Bashir” (2008) – ein dokumentarischer israelischer Trickfilm vor dem Hintergrund des libanesischen Bürgerkrieges. Ebenfalls mit Bezug zum Bürgerkrieg und den wiederkehrenden Spannungen sei der Film “Wer weiß, wohin?” (2011) empfohlen – eine Tragikomödie der libanesischen Regisseurin und Schauspielerin Nadine Labaki – sowie (auch von ihr) die Tragikomödie “Caramel” (2007).

Danke für das Interview.

Das Interview führte Kris Wagenseil.

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