Im aktuellen diesseits-Heft des Humanistischen Verbandes Deutschlands wurde an einer Stelle der REMID-Blogartikel “Extreme liegen vorn: Alexa Ranks von religionsbezogenen Webseiten für Deutschland” vom 30. Nov. 2012 besprochen. Auch Dr. Michael Blume hatte sich vor einem Jahr unter dem Titel “Ablass per Twitter – Welche Religionen und Weltanschauungen gewinnen im Internet?” auf die ermittelte Rangliste religionsbezogener Webseiten in einem sogenannten SEO-Analyse-Tool bezogen. Anlass genug, mit Arik Platzek, diesseits-Redakteur, Journalist, Erfinder von wissenrockt.de, ein Interview zu führen – über Humanismus in Deutschland, Religionskritik, Sozial- und Medienarbeit – und Spiritualität.
Sie sind Redakteur von diesseits, der Verbandszeitschrift des Humanistischen Verbandes Deutschlands (HVD). Während REMID 1989 gegründet worden war, gibt es diesseits seit 1987 und gilt als “auflagenstärkste Zeitschrift im säkularen Spektrum” (hpd.de, 2007). Was sind für Sie als Redakteur die entscheidenen Unterschiede zwischen 1987 und heute, sowohl in der Herangehensweise an Themen als auch in Bezug auf die gesellschaftlichen Diskurse?
Natürlich spiegeln die Themen die gesellschaftlichen Diskurse der späten 1980iger wider, genau wie die heutigen Ausgaben Fragen unserer Zeit aufgreifen. Die Themen sind andere. Und die Positionen waren vielleicht vehementer. Angefangen hat 1987 ein hochmotiviertes Team von ABMlern, die der alten, konservativen „Stimme des Freidenkers“ etwas entgegensetzen wollten. Das neue Blatt sollte über Verbandsnachrichten und Religionskritik hinausgehen. Um alle Texte und Themen wurde lange gerungen, abgedruckt nur, wenn es Konsens gab.
Zwar war Religionskritik, speziell „wissenschaftliche Beweise“ weiterhin vertreten, aber dem organisierten Humanismus sollte auch ein modernes Image verpasst werden. Man wollte sich Themen widmen, die zur damaligen Zeit noch nicht in vielen anderen Medien diskutiert wurden (§ 218, AIDS, Sterbebegleitung…). Obwohl es den Humanistischen Verband noch nicht gab, sollte es über Berlin hinaus auch als Mitgliedermagazin von anderen befreundeten Organisationen bezogen werden. Das hat im Laufe der Jahre mal mehr, mal weniger gut geklappt, denn diesseits war in der Anfangsjahren auch thematisch sehr berlinorientiert. Nach Gründung des Humanistischen Verbandes 1993 wurde es wieder mehr zur Verbandszeitung. Aus der Zunahme verschiedenster Arbeitsfelder – von der Wiege bis zur Bahre – ergab sich auch eine wachsende Themenvielfalt.
Besonders entscheidende Unterschiede zu 1987 auf technisch-medialer Ebene sind natürlich durch das Entstehen des Internets bedingt, die zur deutlichen Beschleunigung, Individualisierung und Veränderung der Nachrichten- und Informationswelt geführt haben. Außerdem leben wir mittlerweile in einem Land, in dem die Wiedervereinigung ein Vierteljahrhundert zurückliegt und welches sich noch mehr in einer globalisierten Welt befindet. Zudem ist die gesellschaftliche Säkularisierung und religiös-weltanschauliche Pluralisierung der Gesellschaft wesentlich weiter, als sie es 1987 war. Das hat natürlich auch zu einer Veränderung der Funktionen und Aufgaben geführt, bspw. im Bereich der Religionskritik, wo ein vorläufig letzter Höhepunkt nun hinter uns liegt und das Internet ganz neue Räume bietet. Außerdem hat sich das Magazin in den letzten Jahren professionalisiert, von einem von ehrenamtlich arbeitenden Mitgliedern gemachten Journal und innerverbandlichen Forum mit entsprechenden Schwerpunktthemen hin zu einem Magazin, das inhaltlich weiter aus der alten anti-klerikalen Freidenker-Tradition herausgetreten ist. Früher lautete der Untertitel einmal „Zeitschrift für Humanismus und Aufklärung“, heute lautet er „Das humanistische Magazin“. Ich glaube, die Identität ist weltanschaulich profilierter geworden, z.T. weil für „Aufklärung“ heute viel weniger als früher bedrucktes Papier erforderlich ist. Trotzdem spiegeln sich natürlich viele klassische Themen und Diskurse immer noch wieder in den Inhalten, denn so grundlegend hat sich die Welt ja dann doch nicht gewandelt.
Während z.B. die Giordano-Bruno-Stiftung dadurch auffällt, dass sie nicht nur religionskritisch, sondern teilweise stark antireligiös auftritt (vgl. z.B. Interview Religion und Öffentlichkeit III: Säkularer Humanismus und Religionskritik und Artikel Wer sind die Konfessionsfreien?), strebt der Humanistische Verband Deutschlands eher die Gleichstellung als Weltanschauungsgemeinschaft an und scheint also selbst an Privilegien interessiert, wie sie bislang Religionsgemeinschaften genießen (vgl. auch Interview Gleiche Rechte für alle Religionen und Weltanschauungen: Mit offener Religionspolitik kann Deutschland international zum Vorbild werden). Oder ist diese Perspektive zu überspitzt?
Nun, da werden in meinen Augen die Dinge etwas vermischt. Natürlich strebt der Humanistische Verband an, dass seine Mitglieder, VertreterInnen und auch andere konfessionsfreie und nichtreligiöse Menschen den Angehörigen und VertreterInnen religiöser Weltanschauungsgemeinschaften gleichgestellt sind. Mit dem Begriff „Privilegien“ gehe ich vorsichtig um und benutze stattdessen auch das Wort „Recht“, denn die Diskussion über „Privilegien“ ist mitunter stark von der überkommenen Einteilung Kirche-Nichtkirche oder Religion-Nichtreligion geprägt. Der Humanistische Verband ist als Weltanschauungsgemeinschaft nichtreligiöser Menschen daran interessiert, ebenfalls bestimmte Rechte zu erhalten, um so eine Gleichstellung von nichtreligiösen Menschen in Deutschland zu erreichen. Es gibt neben uns auch andere Religionsgemeinschaften wie die Alevitische Gemeinde Deutschland, die so für das Recht auf Gleichbehandlung der Menschen kämpfen, die sie vertreten.
Privilegien sehe ich eher da, wo bestimmte Ansprüche bestimmten Gruppen ohne plausible, gute Gründe zugestanden werden. So stellt beispielsweise das Recht, Religionsunterricht an Schulen zu erteilen, aus meiner Sicht kein Privileg dar. Auch wenn die Religionsgemeinschaften sich in einer privilegierten Lage befinden, solange die Angehörigen unserer nichtreligiösen Weltanschauungsgemeinschaft dieses Recht nicht wahrnehmen können. Als Privilegierungen zu sehen sind hingegen der staatliche Einzug der Mitgliedsbeiträge sowie das kirchliche Arbeitsrecht, das teilweise weit über jeden legitimen Tendenzschutz hinausgeht und sich unter anderem gegen homosexuelle, nichtreligiöse Berufstätige und andersgläubige Menschen richtet, die kein christliches Bekenntnis teilen.
Über die genannte Stiftung kann ich natürlich nur aus der Beobachterperspektive sprechen, aber soweit ich das erkenne, ist diese ihrem Selbstverständnis nach keine Weltanschauungsgemeinschaft. Und in den Förderkreis der Stiftung können sich auch Menschen eintragen, die Mitglied der katholischen Kirche sind. Insofern lassen sich beide Dinge bloß teilweise miteinander vergleichen. Die häufig zu beobachtenden Vergleiche des Verbandes und der Stiftung kann ich zwar ein Stück weit nachvollziehen, sie sind aber auch ein ständiger Quell der Verwirrung. Der Humanistische Verband Deutschland ist eine demokratisch verfasster, föderalistischer Zusammenschluss von nichtreligiösen Menschen mit humanistischen Überzeugungen und Grundsätzen und die Stiftung ist eine Einrichtung, die mit Hilfe eines Vermögens einen vom Stifter festgelegten Zweck verfolgt. Zu den Zielen des Humanistischen Verbandes gehört unter anderem der Abbau der systematischen Benachteiligung für Menschen ohne Religion und da macht es freilich wenig Sinn, antireligiös zu agieren. Denn zum einen glauben wir, dass auch konfessionell gebundene Menschen Sinn für Gerechtigkeit haben, und zum anderen würde das auf ein ungenügendes Verständnis für das Phänomen Religion deuten.
In den aktuellen Mitteilungen der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungefragen (EZW) Nr. 7/14 wird unter der Überschrift “Stabwechsel beim HVD” (Dr. Andreas Fincke, S. 273ff.) Horst Groschopp, der sich “aus dem aktiven Dienst verabschiedet”, als “zweifelos einer der wichtigsten Vordenker der humanistischen bzw. freigeistigen Szene in Deutschland” porträtiert. Es wird eine jüngere Veröffentlichung von Groschopp “Perspektiven des organisierten Humanismus” zitiert, nach welcher der HVD sich “noch entschiedener als bisher von kirchenkritischen Positionen bzw. von einem ‘säkularen Humanismus'” distanzieren solle. Demgegenüber stehe die Etablierung einer eigenen Sozial- und Bildungsarbeit “analog zu den Kirchen”. Wir hatten in einem anderen Beitrag (Interview Retweetet: Religion und Weltanschauung aus staatskirchenrechtlicher Perspektive) bereits auf humanistische Kitas hingewiesen (hvd-kitas.de). Welche Angebote gibt es bereits, was wird angestrebt? Und wie sieht es mit der Zukunft des HVD aus? Stehen Richtungswechsel an?
Ich würde nicht behaupten, dass die Etablierung von Sozial- und Bildungsarbeit „analog zu den Kirchen“ der Forderung nach einer bestimmten weltanschaulichen oder kulturellen Positionierungen und bestimmten Humanismus-Verständnissen gegenübersteht. Ich meine, beides muss nebeneinander stehen und sich aufeinander beziehen. Der Humanistische Verband ist von Anfang an darauf angelegt gewesen, auch durch soziale, kulturelle und pädagogische Projekte in der Gesellschaft konkret Verantwortung zu übernehmen – und er tut das in einigen Regionen sehr gut und überzeugend. Das Plädoyer des Akademie-Direktors war für mich ehrlicherweise nur teilweise nachvollziehbar, aber soweit ich es erkannt habe, gehörte dazu die Forderung nach der Abkehr von einem Teil unseres traditionellen weltanschaulichen Selbstverständnisses. Ich glaube, auf großen allgemeinen Anklang ist das Plädoyer gegen eine Identifikation unseres Humanismus-Verständnisses als „säkularer Humanismus“ bisher nicht gestoßen – aber vielleicht kommt das ja noch.
Für mich persönlich ist es aber kaum vorstellbar, den im Adjektiv „säkular“ zum Ausdruck kommenden Grundkonsens, dass wir nicht an die Existenz überempirischer Akteure oder Mächte glauben, aufzugeben. Sicherlich ist es möglich, dass sich auch Menschen mit einer gewissen Religiosität uns anschließen – aber religiöse Vorstellungen und Argumente können nicht zur unmittelbaren Grundlage unseres gemeinsamen Engagements werden. Und das ist es, was im Adjektiv „säkular“ klar wird. Nichtsäkular geprägten Humanismus bzw. solche Humanismus-Verständnisse gibt es bereits zur genüge und wir vertreten hier eben Humanismus, der von säkularen und nichtreligiösen Überzeugungen bestimmt ist. Auch ein „ethischer Humanismus“, der nicht das Bekenntnis zu bestimmten weltanschaulichen Grundsätzen verlangt, findet sich schon in anderen Institutionen unserer Gesellschaft. Und ich glaube außerdem, der Versuch einer Art umfassender Letztbestimmung von Humanismus, der als „echter“ oder „wirklich wahrer“ zu vertreten und praktizieren sei, überfordert derzeit bei weitem unsere Ressourcen. Jedenfalls ist Herr Dr. Andreas Finke, der ja mit dem Akademie-Gründer in sehr gutem Kontakt steht, herzlich dazu eingeladen, sich uns anzuschließen und gemeinsam mit uns die Herausforderung anzunehmen, Humanismus in einer Form zu entwickeln und zu leben, den man bei Bedarf auch als säkular bezeichnen kann.
Was schließlich die Abwendung von der Kirchenkritik angeht, ist der Humanistische Verband doch offenkundig nur dort kirchenkritisch, wo auch Kritik erforderlich ist – und ich würde sagen, der Humanistische Verband ist heute kaum kirchenkritischer als es die verschiedenen evangelischen und katholischen Denominationen untereinander sind, von den offiziellen Ökumene-Verlautbarungen mal abgesehen. Wenn die Evangelische Kirche in Deutschland nicht kritisch gegenüber der katholischen Kirche ist – warum haben die Gläubigen dann nicht eine gemeinsame Kirche? Doch ich beobachte leider immer wieder, dass wir von Vertretern der großen Religionsgemeinschaften als in herausragender Weise kirchenkritisch dargestellt werden. Das trägt mitunter schon diffamierende Züge, meinem Empfinden nach.
Und wenn wir ganz darauf verzichten, die Tatsache der Unzufriedenheit von konfessionsfreien Menschen mit großen gesellschaftlichen Akteuren wie den Kirchen oder anderen Religionsgemeinschaften aufzugreifen und auch für sie ein möglicher Ansprechpartner zu sein, erscheint mir das nicht nur wie die Vernachlässigung einer Traditionslinie, sondern auch wie der Verzicht auf eine Aufgabe, die einzelne Landesverbänden in Staatsverträgen sogar ausdrücklich angenommen haben: die Interessenvertretung für und von Konfessionsfreien. Es geht also immer auch ein Stück weit darum, solche Unzufriedenheit bei den Menschen aufzunehmen und Wege und Angebote zu finden, diese in ein praktisches humanistisches Engagement zu verwandeln. Wenn ich sehe, dass das gelingt, freue ich mich sehr.
Zu den Angeboten: Neben den rund 40 Kindertagesstätten und einigen Familienzentren gibt es auch eine erste Schule im fränkischen Fürth, die ein besonderer Meilenstein in der Entwicklung ist. Zum einen, weil in Fürth erstmals eine durchgängig weltliche und profiliert humanistische Pädagogik für Heranwachsende im Alter von 0 bis zum Ende der Grundschulzeit möglich wird und zum anderen, weil mit ihr die durch die aufkommende Nazi-Tyrannei in Deutschland zerstörte weltliche Schulbewegung wieder auflebt (zerstoerte-vielfalt-humanismus.de). Neben den Kitas und Schulen gibt es insgesamt bundesweit rund 100 unterschiedliche Projekte, von der Bundeszentralstelle Patientenverfügung, der weit entwickelten Hospiz-Arbeit in Berlin (kindertageshospiz-berlin.de) bis hin zum ehrenamtlichen Schuldnercoaching in Nürnberg. Bedeutend ist auch der in Berlin und Brandenburg erfolgreiche Humanistische Lebenskundeunterricht (lebenskunde.de), den es hoffentlich in Zukunft auch in anderen Bundesländern geben wird. Ich bin in der DDR aufgewachsen und halte es für äußerst problematisch, wenn die schulische Wertebildung allein einem Ministerium überlassen wird. Damit hat unsere Gesellschaft ja nicht nur in der DDR, sondern auch der weiteren Vergangenheit ungute Erfahrungen gemacht, weshalb die Religionsgemeinschaften meines Erachtens aus gutem Grund an ihrem Recht auf Religionsunterricht festhalten. Dass die Mehrheit der Konfessionsfreien bisher darauf verzichtet, dass die große weltanschauliche Traditionslinie, in der sie sich befinden, mit ihren Perspektiven, Ideen und Werten angemessen in den Schulen vertreten ist, ist bedauerlich. Da müssten unsere Mitgliedern noch stärker aufklären und werben.
Was darüber hinaus an praktischen Angeboten mit weltanschaulichem, humanistischem Fundament angestrebt wird, können am ehesten die Vertreter der unterschiedlichen Landesverbände sagen. Ich persönlich würde mich über die Fortsetzung der Entwicklung einer weltanschaulich profilierten Fest- und Feiertageskultur freuen und darüber, dass mehr Menschen, die hier im wohlhabenden Europa ohne Religion leben, die große Verantwortung erkennen, die sie aus globaler Perspektive haben.
Inwiefern kann “Spiritualität” (vgl. Artikel Spirituelle Atheisten? Statistische Einblicke in aktuelle Formen weltanschaulicher Selbst-Verortung) ein Thema für einen Humanisten sein?
Es ist ein Thema, obwohl sich gewiss nur ein Teil der Humanisten, die auch Angehörige des Humanistischen Verbandes sind, als spirituell bezeichnen würde. Und es ist nicht nur ein Thema, weil einige Menschen sich als spirituell erleben oder bezeichnen, sondern auch weil Spiritualität ähnlich wie Religiosität offensichtlich zu dem gehört, was mit landläufig als „Wesen des Menschen“ bezeichnet wird. Offenkundig ist die Neigung dazu so unterschiedlich in jedem Einzelnen ausgeprägt, wie wir Menschen auch in anderen Belangen unterschiedlich sind.
Ein Thema ist es auf jeden Fall besonders dort, wo Spiritualität in problematischen Formen gelebt wird, wie z.B. mit Astrologie oder Horoskopen, Wahrsagen und dergleichen. Für solche Formen gibt es nicht nur keine guten Gründe, sondern auch eine große Gefahr des Missbrauchs und der schädlichen Desorientierung, ähnlich wie das im Fall von Religion möglich ist. Deshalb schätze ich die Arbeit der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften sehr, lese aber auch mit großem Interesse die Veröffentlichungen beispielsweise der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen. Im Rahmen meiner Arbeit als diesseits-Redakteur versuche ich immer wieder mal, hier bei Gelegenheit eigene Beiträge zu leisten und Schwerpunkte zu setzen.
Und schließlich ist es wohl mit den „spirituellen Gefühlen“ ähnlich wie mit den „religiösen Gefühlen“, und den damit verbundenen Perspektiven, Ideen und Ansichten – auch eine rational reflektierte Spiritualität eignet sich in meinen Augen eher schlecht, um zu einem Grundkonsens des gemeinsamen weltanschaulichen Selbstverständnisses zu werden. Ich würde beispielsweise nicht verlangen wollen, dass alle Angehörigen unserer Gemeinschaft meine Spiritualität teilen. Ich kann sie benutzen, um mich im Rahmen unserer gemeinsamen Ziele einzubringen, doch ich halte diese weder für verbindlich noch betrachte ich es als überhaupt grundsätzlich für erforderlich, dass jede und jeder eine besitzt. Und auch wenn ich aufgrund meiner persönlichen Erfahrung glaube, dass nur ein kleinerer Teil unter uns etwas mit dem anfangen kann, was der Begriff Spiritualität umfasst, hilft das Engagement in unserem Verband sehr, Menschen mit ähnlich reflektierter Spiritualität kennenzulernen und es ist immer wieder schön, wenn das passiert. Ich freue mich dann sehr darüber, so wie sich gewiss auch diejenigen unter uns sehr freuen, wenn sie bei uns andere Menschen kennenlernen, die von Spiritualität gar nichts halten und so den kritischen Diskurs darüber beleben.
In der letzten “diesseits” ging es um “[d]ie Kirchen und die Medien“. Bezüglich der Humanisten ziehen Sie das Fazit, es bleibe insgesamt eine systematische Benachteiligung (S. 13). Neben den von Ihnen als problematisch beschriebenen Verbindungen von Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften und Medien – haben die Säkularen vielleicht auch selbst einen Anteil an ihrer geringeren Medienpräsenz? Glaubt man dem Google-Tool ngram, ist zumindest als Wort “Humanismus” – wie auch “Atheismus” – auf dem absteigenden Ast hinsichtlich seiner Verwendung in (deutschsprachigen) Büchern (vgl. Grafik aus Interview Säkularer Humanismus und Religionskritik).
„Die Säkularen“ gibt es gar nicht, wie Sie selbst wissen. Und natürlich tragen die Menschen, die keiner Kirche angehören, für die Missachtung ihrer Existenz und fehlende Darstellung der Grundsätze ihrer weltanschaulichen Orientierungen durch die Medien den größten Teil der Verantwortung. Wer sich nicht kümmert, muss sich über fehlende Berücksichtigung seiner Anliegen und Interessen nicht wundern. Eben deshalb hatte der erwähnte Beitrag ja den deutlichen Tenor, dass säkularen Humanisten neben der Wahrnehmung der tatsächlichen Missstände selbst stärker und überlegter aktiv werden sollten – auf der privatrechtlichen Ebene. Auf der staatlichen und politischen Ebene hingegen, eben mit Blick auf die öffentlich-rechtlichen Medien, sehe ich ein eklatantes Versagen der Volksvertreter, das von den Betroffenen allerdings teilweise sogar durch falsche Prioritätensetzung gefördert wird.
Ein Stück weit schäme ich mich sogar dafür, dass einfältige und überspitzte Debattenbeiträge wie beispielsweise der ZEIT-Kommentar „Respekt? Wovor denn?“ (Michael Schmidt-Salomon, Giordano-Bruno-Stiftung, 21. Sept. 2012) als große Erfolge gefeiert werden, während es an der Präsenz von echten Alternativen weitestgehend mangelt. Denn neben solchen Zuspitzungen können die verantwortlichen Personen auf der Ebene kaum etwas dauerhaft Etabliertes vorweisen.
Was die von Ihnen angesprochene ngram-Messung betrifft: Nicht nur der Herdentrieb ist für Menschen, die zu unserer Gemeinschaft gehören, grundsätzlich eher eine befremdliche Sache. Auch ist das bibliothekarisch untersuchte Vorkommen bestimmter Themen kein maßgeblicher Indikator für unsere weltanschauliche Überzeugungen und Grundsätze. Wenn die Nennung von „Humanismus“ seit ihrem Höhepunkt in den ersten Jahren nach der zivilisatorischen Katastrophe des Zweiten Weltkriegs kontinuierlich gesunken ist, könnte das dadurch erklärt werden, dass die damit verbundenen Ideen und Grundsätze immer mehr gesellschaftliche Normalität geworden sind – und ich bin der Auffassung, dass dem so ist.
Ich möchte jedenfalls nicht der bei der Vorstellung der Grafik naheliegenden Logik folgen, dass man einer dem Ziel der Kurve zum Eintrag „Islam“ folgenden Entwicklung auf Terroranschläge und Hasspredigten gegen Muslime, wie etwa durch Thilo Sarrazins Publikationen, zugleich zurückgreifen sollte. Interessant fände ich eher eine Grafik, die darstellt, wie viele Leben von Menschen heute tatsächlich durch humanistische Überzeugungen und Engagements geprägt sind. Ich glaube, wenn man eine Befragung zu den weltanschaulichen Grundsätzen in Verbindung mit dem jeweiligen Engagement verknüpft durchführen würde, wäre Humanismus nicht auf dem absteigenden Ast.

Haltung zu Lebensphilosophien von konfessionslosen Jugendlichen nach Land; Werte 1 = deutliche Ablehnung, 5 = deutliche Zustimmung. Abb. 3 aus: Konfessionslosigkeit, Humanismus und religiöse Traditionen in Europa. Eine empirische Studie über konfessionslose Jugendliche von Boris Kalbheim und Hans-Georg Ziebertz, Zeitschrift für Religionspädagogik 12 (2013), H.1, S. 32-56, Abb. S. 46. Auf S. 37 ordnet eine Tabelle in Bezug zu den befragten Jugendlichen Westdeutschland 6,1% Nichtkonfessionell-Nichtreligiöse (Ost-D.: 52,8%) und 34,2% Konfessionell-Nichtreligiöse (Ost-D.: 7,0%), aber auch 3,2% Nichtkonfessionell-Religiöse (Ost-D.: 10,6%) zu. Klicken Sie zur Vergrößerung auf die Grafik.
Studie als PDF auf theo-web.de.
Humanisten gründen aktuell weltweit neue Gruppen. Kann man da von einem Trend sprechen? Welche Themen haben Humanisten auf den anderen Kontinenten?
Ja, man kann von einem Trend sprechen. Die Themen sind ähnlich, wie die jüngste Ankündigung aus Guatemala zeigt: „Die Trennung von Staat und Kirche [was freilich auch als Erhalt bestehender Trennungen gilt], die Förderung wissenschaftlich geprägter Bildungsprogramme und ein laizistisches Bildungssystem gehören ebenso zu den Zielen der AGHS-Mitglieder [Asociación Guatemalteca de Humanistas Seculares; Anm. Red.] wie das Eintreten für die Rechte von homo- und intersexuellen Menschen, menschenwürdige Arbeitsbedingungen und der Tierschutz.“
Diesen Trend gibt es in allen Gesellschaften, denn gerade die jüngere Leute erhalten durch das Internet ganz andere Informationen als das traditionell in ihren Gesellschaften der Fall war. Freilich wissen wir nicht, wie sich diese ganze weltweite Bewegung entwickeln wird. Die Wahrheit aber bleibt: es gibt keinen Gott, und das ist auch gut so. Denn daraus folgt, dass wir weder auf irgendwelche Mächte vertrauen, noch schlicht hoffen können. Ich bin da beim Trend persönlich eher skeptisch und glaube nicht, dass nichtreligiöse Humanisten irgendwo zur Mehrheit werden. Im Ergebnis bleibt die Frage, wie viele kluge und redliche Menschen den Mut und die Stärke haben werden, solche Entwicklungen zu stützen und für eine lange Zeit zu tragen.
Danke für das Interview.
Das Interview führte Kris Wagenseil.
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