Muslime als religiöse Minderheit – das gibt es nicht nur in Europa, sondern z.B. auch in China und Vietnam. Einerseits bestehen in diesen asiatischen Ländern schon über einen weitaus längeren Zeitraum muslimische Minderheiten, andererseits ist der Umgang dieser Länder mit religiöser Vielfalt nicht mit demjenigen Europas gleichzusetzen (vgl. auch das Interview Mudangs, Weon-Buddhismus und Hananim – religiöser Pluralismus in Südkorea). REMID interviewte Yasmin Koppen (Sinologie Tübingen) über Transformationen chinesischer Tempel, muslimische Minderheiten, den Fall der Falun Gong, Burka- und Vollbartverbote sowie die Situation in Vietnam (vgl. die von ihr mit vorbereitete Ausstellung “Aus dem Land des aufsteigenden Drachen. Schätze der Archäologie und Kultur Vietnams” 2016/17).
Bild von Vmenkov (2009) unter Creative Commons Lizenz CC BY-SA 3.0.
In Ihrer Master-Arbeit hatten Sie sich mit der “Rekonfiguration sakraler Räume am Beispiel des Longmafutusi in Mengjin” beschäftigt. Der einst buddhistische Tempel wurde später durch den Neo-Konfuzianismus genutzt, noch später durch die Kommunistische Regierung für repräsentative Zwecke eingesetzt. Wie kann man sich das konkret vorstellen oder von welchen Diskursen werden diese Transformationen in China begleitet, im Unterschied z.B. zu Deutschland, wo aktuell eine besondere Wikipedia-Liste “von in Moscheen umgewidmeten Kirchengebäuden und Heiligtümern” tendenziös in der Einleitung von der Frühphase des Islam und islamischen Eroberungen spricht, dann aber auch für Deutschland folgende Fälle aufzählt: die Neuapostolische Kirche in Berlin-Tempelhof, die Methodistische Kirche in Mönchengladbach und die Evangelische Notkirche Johannes, Kielstraße, Dortmund, jetzt Merkez Camii (DITIB) [Anm. Red.: Ich habe das in einem Eintrag auf der Diskussionseite kritisiert]?

Die Halle der Drei Kaiser wird heutzutage optisch als Haupthalle des Longmafutu-Tempels präsentiert, daher auch die gelben Dachziegel. Das Gebäude wurde in den 1990ern erneuert.
© Bild und Beitext von Yasmin Koppen.
Der Buddhismus kam ohne eigene Architektur nach China, die einzige Baukunst, die er mit sich brachte, waren Stupas. Mit dem Wachstum der buddhistischen Gemeinden und des Bedarfs an Versammlungsstätten, entwickelten sich buddhistische Tempel aus privaten Hofhäusern. Sie weisen eine ganz eigene Struktur auf, die wichtigste Halle befindet sich im Gegensatz zu anderen chinesischen Tempeln im Zentrum. Einheimische chinesische Götter und Heroen werden in einer Halle am Ende der Zentralachse eines Tempels verehrt. Im Falle des Longmafutu-Tempels handelt es sich um einen Tempel, der bereits im 4. Jahrhundert begründet wurde – wahrscheinlich durch einen Schüler des berühmten Missionars Fotudeng. Zu dieser Zeit hieß er noch Futusi, „Stupa Tempel“. Nun ist es so, dass die Überlieferung buddhistischer Traditionen in China nicht reguliert war, ausgerechnet der monastische Kodex (Vinaya), beispielsweise, wurde erst im 5. Jahrhundert übersetzt. So erklären sich die vielen Eigenheiten und die synkretistischen Tendenzen des chinesischen Buddhismus. Das war im früheren Longmafutu Tempel auch der Fall, schnell wurden weitere buddhistische und volksreligiöse Entitäten eingeschreint, darunter auch der zu dieser Zeit noch gar nicht so wichtige Fu Xi [der chinesische Urkaiser, Anm. Red.]. Obwohl er als ein Kulturheroe und eine Gottheit, die einem Schöpfergott noch recht nahe kommt (tatsächlich gibt es diese Art Gottheiten in der Han-Kultur nicht) schrifttechnisch wichtig war, hatte er lange keinen großen Kult und war nicht weit verbreitet.

Die bedeutendste Stupa-Architektur auf der Welt ist auf dem indonesischen Java der Borobudur-Komplex (Baubeginn 8. Jh.).
Bild von Gunawan Kartapranata (2007) unter Creative Commons Lizenz CC BY-SA 3.0.
Während des 10. Jahrhunderts, unter der Song-Dynastie, kamen die Neo-Konfuzianer an die Macht. Sie hatten als neue Bewegung kein Zentrum, aber Fu Xi war als Kulturheroe besonders wichtig geworden. In diesem Tempel fanden sie die Wurzel, nach der sie gesucht hatten und machten ihn zu einer neo-konfuzianischen Sehenswürdigkeit. Nun ist es so, dass sich die reisenden Gelehrten der chinesischen Regierung nie groß um die Menschen, denen sie auf ihren Reisen oder an Zielorten begegneten, gekümmert haben. Das war auch in Mengjin so. Der Futusi hatte bereits einige Umbenennungen erfahren, darunter auch die zum „Diagramm-tragenden Tempel“. Das ist ein Bezug auf einen chinesischen Mythos, nach dem Fu Xi von einem Drachenpferd, das dem Gelben Fluss entstieg, ein Relikt namens „Flussdiagramm“ überreicht wurde. Trotzdem herrschten die Buddhisten im Tempel vor. Unter einem neo-konfuzianischen Magistraten wurde der Tempel 1563 offiziell in „Fu Xi Miao“ (Fu-Xi-Tempel) umbenannt, im Chinesischen kann man die religiöse Zugehörigkeit eines Tempels häufig an dessen Suffix ablesen – bei der Umbenennung von si in miao veränderte er also seine Identität. Es wurde eine Kartenstele erstellt, die auf den ersten Blick einen typischen buddhistischen Tempel darstellt – inklusive Pagode – aber der radikal buchstäblich überall mit neo-konfuzianischen Begriffen und Weisen überschrieben wurde. Die Schrift war natürlich nur für die Gelehrten interessant, nicht für die Anwohner, die nicht lesen konnten. Über Jahrhunderte hinweg bezeugen Inschriften, in denen Äbte mit Umbau oder der Renovierung von Gebäuden beauftragt werden, die kontinuierliche Anwesenheit der Buddhisten. Auch stritten sich Magistraten darüber, ob die Fu-Xi-Ikone nun am Ende der Zentralachse oder zusammen mit Buddha in der zentralen Halle stehen sollte – je nach ihrer Erziehung.

Als Beispiel für eine Pagode sei die Lingxiao-Pagode von Zhengding, Hebei-Provinz, China, abgebildet.
Bild von Zeus1234 (2007) unter Creative Commons Lizenz CC BY-SA 3.0.
So kann man sich diesen Transformationsprozess vorstellen. Die Wurzel-Metaphorik ist auch heute noch für die Kommunistische Partei Chinas (KPC) sehr wichtig, daher wird der Tempel heute als neo-konfuzianisch inszeniert. Überall hängen Yinyang-Symbole, aber die nackten Darstellungen von mythologischen Wesen (wie der Frau von Fu Xi, Nü Wa) wurden rot überstrichen. Der Tempel wurde komplett neu aufgebaut, doch man wusste, dass dort einst buddhistische Entitäten verehrt wurden, und es gibt lokale Legenden, nach denen Umbauten mit Blitzeinschlägen bestraft worden seien. Deshalb beinhalten die großen Hallen Statuen von Fu Xi, Konfuzius und den Drei Kaisern der Vorzeit, aber es gibt auch eine Halle für Muttergottheiten und eine Halle, die das komplette Ensemble eines buddhistischen Tempels beinhaltet. In den letzten beiden Hallen habe ich Spuren von Verehrungspraxis gefunden, in den großen nur bei den von Anwohnern selbst aufgestellten Glücksgöttern. So etwas nenne ich eine „dekorative Situation“ – die offizielle Religion eines sakralen Ortes entspricht nicht der ausgeübten Religion. Diese Dekoration ist das Merkmal eines in China üblichen Prozesses der Trennung zwischen Schrift- und Praxiskultur. Die Schriftkultur beschreibt eine ideale Realität, die an der Wirklichkeit oft vorbeigeht, aber die politische Leitung zufrieden stellt.
© Bilder und Beitexte von Yasmin Koppen.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Ein wunderschönes Fallbeispiel wird in Tracy Millers „The Divine Nature of Power“ (2007) beschrieben. Im Schrein von Jinci wird seit Jahrhunderten eine Wassergöttin verehrt, die chinesische Regierung versuchte vergeblich, ihren Kult zu unterdrücken, alternative männliche Wassergötter anzubieten und sie schließlich offiziell selbst in einen Mann zu verwandeln. Doch die Schriftquellen sprechen eine andere Sprache – wer nie vor Ort war oder nicht alle Quellen aufmerksam liest, denkt, es handle sich um einen beliebten Ahnenschrein. In Wahrheit verrottet dieser Ahnenschrein vor sich hin.
Bild von Gisling (2008) unter Creative Commons Lizenz CC BY-SA 3.0.
Diese Dichotomie zwischen dem, was geschrieben steht, und dem, was tatsächlich passiert, ist ganz typisch für den chinesischen Umgang mit Religion. Dieser basiert auf zwei Prinzipien – gong (öffentlich) und nei (privat). Privat darf man prinzipiell tun und lassen was man will, doch die Öffentlichkeit gehört der Regierung. Sobald Religion die private Sphäre verlässt und sich auf die öffentliche Ebene begibt, deren Orte für sich beansprucht – sei es eine buddhistische Prozession während der Tang-Dynastie, eine Demonstration der Falun Gong oder ein Weihnachtsmarkt –, verletzt sie die Autorität der Regierung und wird gewaltsam wieder zurückgedrängt. Diese Trennung existiert schon seit der Einrichtung des Kaiserstaates im 2. Jahrhundert vor unserer Zeit.
Was lässt sich von hier aus zur Situation in Europa sagen?
Die Umwandlung von Kirchen in Moscheen in Deutschland halte ich für schwer vergleichbar. Die Zeit der islamischen Eroberung ist ein festgelegter Begriff, der sich auf den Zeitraum von 630 bis in das 7. Jahrhundert (manche argumentieren auch für das 8. Jahrhundert) bezieht. Er lässt sich nicht einfach so aus populistischen Motiven in unsere Zeit übertragen. Es handelt sich um legale Transaktionen von zum Verkauf stehenden Kirchengebäuden.
Eine Umwidmung von religiösen Gebäuden ist nichts Außergewöhnliches. In Zentralasien gibt es ehemalige buddhistische Klöster, die von den Muslimen der Umgebung gepflegt werden – weil sie wissen, dass es ein heiliger Ort ist, wenn auch nicht der ihrige. Auch die gemeinsame Nutzung ist nicht ungewöhnlich, in Zentralasien wie auch in Israel gibt es St.-Georg-Kirchen in christlicher Hand, die aber auch von Muslimen als heilige Orte der Heilung verwendet werden. Entfernt vergleichbar ist damit, dass viele Kirchen Europas Orte ehemals nicht-christlicher Heiligtümer transformierten.
Im uralten Essener Stadtteil Werden beispielsweise stehen die Überreste von St. Clemens, einer Kirche die in den 930ern begründet wurde. Zunächst bestand sie nur aus einem Quellauffangbecken, später entsprang die Quelle direkt unter dem Hochaltar. Der Zusammenfluss mehrerer Quellen war heilig für die vorchristlichen Einwohner und der Hauptquelle wurden magische Kräfte zugesprochen. Sie soll insbesondere gegen Augenleiden wirksam gewesen sein. Dies machte sich die Kirche zu Nutze. Bis kurz vor ihrer Säkularisierung 1803 kamen die Menschen nicht zwingend wegen der Kirche, aber aufgrund der Quelle gegen Augenleiden.
Wer aggressive Übernahmen sucht, wird im Buddhismus viel eher fündig. Als dieser sich in Nordvietnam ausbreitete, übernahm er die Schreine lokaler Wasser-, Baum- und Steingottheiten. Diese selbst wurden in einer Machtdemonstration ausgetrieben oder zu Schutzgöttern im Buddhismus. Bis ins 16. Jahrhundert hinein gab es in Vietnam kaum Tempel, die nicht an einem früheren Naturgottschrein gegründet wurden und auch heute findet man noch Tempel mit den ursprünglichen Steinrelikten oder Baumüberresten, die einst einer anderen Religion galten. In China, Korea und Japan gab es ähnliche Aktivitäten, dort v. a. gegen Wassergottheiten, aber in keinem vergleichbaren Ausmaß (ein guter Artikel dazu stammt von Bernhard Faure, Kegon and Dragons: A Mythological Approach to Huayan Doctrine, 2007).
Bild von Hijau (2005), Public Domain.
Es gibt auch in China muslimische Minderheiten. Kann man sagen, auch sie hatten bzw. haben es nicht einfach?
Migranten haben es nie einfach, egal wohin sie kommen. Das gilt in China ganz besonders, da sich die Han-Kultur als Nabel der Welt betrachtete und davon ausging, dass nicht nur alle anderen ihrer Kultur folgen sollten, sondern sie auch gar keine Alternativen in ihrem Herrschaftsgebiet vorsah. Und dieses Herrschaftsgebiet sollte, nach historischer Ansicht, die ganze Welt sein. Alles, was nicht Han-Chinesisch ist, galt als „barbarisch“ und minderwertig. Wenn also fremde Gruppen kamen und in China siedelten, gab es immer Konflikte. Der Buddhismus ist offiziell seit dem 1. Jh. in China. Dennoch hat er seinen Status als Fremdreligion nie verloren, das war über Jahrhunderte ein großer Angriffspunkt – neben seiner Tendenz, Klöster zu gründen, die großen wirtschaftlichen Reichtum erlangten. In Polemiken gegen den Buddhismus, allen voran jenen des Han Yu, ist es immer wieder ein Thema, dass er ja „fremd“ sei – obwohl es Buddhismus, so wie er in China existiert, nirgendwo anders gibt. Bis heute gelten Buddhisten als Unruhestifter, sie werden staatlich genau kontrolliert und für Aufstände verantwortlich gemacht (tatsächlich gab es in der chinesischen Geschichte immer wieder gewaltsame Aufstände buddhistischer Abspaltungen). Wenn es also den Buddhisten, die schon so lange in China sind, schwer fällt als chinesisch betrachtet zu werden, wie soll es da erst den Muslimen gehen?
Muslime stellen die einzige offizielle Minderheit der Volksrepublik China dar, die religiös und nicht ethnisch bestimmt wird – die Hui. Die Hui der alten Schule (Laojiao Hui) stammen aus Arabien und Persien, sie kamen über zentralasiatische- und Seerouten nach China. Als offizieller Eintrittszeitpunkt gilt die An-Lushan-Rebellion (ca. 755-763). Ein Militärführer, der das Herz des Kaiserpaares gewonnen hatte, wollte selbst auf den Thron und führte ein Heer aus Chinesen, Türken, Khitan und Söldnern gegen die Dynastie. China verbündete sich mit Kalif Abu Ja’far Abdallah al-Mansur, der 4.000 arabische Soldaten entsandte. Sie blieben in China, ihnen wurde erlaubt im Nordwesten (heute nördliches Zentralchina) zu siedeln, sie nahmen meist chinesische Frauen, die gewöhnlich nicht konvertierten. Nach dem Kampf gegen die Tibeter folgten weitere Muslime über Yunnan und während der mongolischen Yuan-Dynastie aus Zentralasien. Diese Laojiao Hui lebten meist abgesondert und führten ihre Praktiken weiter, doch sie zeigten ihren Respekt für die chinesische Kultur durch das Tragen der chinesischen Kleidung, der Angleichung ihrer Namen, die Angleichung ihrer Architektur und die Verwendung der chinesischen Sprache. Das war genug für die Regierung, um sie als assimiliert zu betrachten. Die Laojiao-Hui-Frauen tragen keinen Schleier, das war in der Tang-Zeit für Frauen aber eher ungewöhnlich und ist als ein ähnlicher Identitätsmarker zu betrachten, wie das Schleiertragen in der heutigen, schleierlosen Welt Deutschlands.
Das Fundament für die Einschätzung eines orthodoxen religiösen Verhaltens war die Anerkennung des Kaisers und seine Verehrung durch die Untertanen, doch die Hui betrieben keinen Ahnenkult. Durch ihre Handelsaktivitäten wurden viele wohlhabend – obwohl Händler in der chinesischen Gesellschaft als unterste der akzeptablen Berufsklassen betrachtet wurden. Beides waren Gründe für erste Reibungen zwischen Muslimen und Han-Chinesen. Die Muslime hatten mit vielen Vorurteilen zu kämpfen, galten als aggressiv und fanatisch, obwohl diese Vorurteile auf den Aktivitäten ihrer Glaubensbrüder im Nahen Osten beruhten.
Dennoch lässt sich sagen, dass die Hui über etwa ein Jahrtausend lang mit kleineren Anschlägen von chinesischer Seite recht ruhig vor sich hin lebten. Problematisch wurde es erst im 17. und 18. Jh., als neue muslimische Strömungen, die „neuen“ und „neu-neuen“ Lehren (Xinjiao und Xinxinjiao) nach China kamen. Die ersten davon waren die zentralasiatischen Khafiyya und Qadariyya, beides sufistische Gruppen. Erstere war aktiver in die Gesellschaft integriert, machte aber durch gewalttätige Auseinandersetzungen mit anderen muslimischen Gruppen von sich reden. Die Qadariyya dagegen fielen durch das Zölibat ihrer religiösen Experten auf. Das war ein Verstoß gegen den Ahnenkult und daher aus chinesischer Sicht heterodox. Ähnlich wurde es auch beim Buddhismus gesehen: Religiöse Gruppen, die ihre Familien nicht fortführen, waren immer ein Problem für die chinesische Regierung. Im Falle einer Konversion zum monastischen Buddhismus oder zum Qadariyya-Islam würde die Familie nicht fortgeführt und sterbe aus. Das wurde als ein Angriff auf die Legitimität des Staates gesehen, der sich auf den Ahnenkult stützte. Die zweite Welle der neuen muslimischen Bewegungen stammte aus Arabien und verteilte sich über ganz China. Diese Gruppen waren konservativ mit Sendungsbewusstsein, verurteilen die verweichlichten Ideale der Laojiao-Muslime (die lockerere Speisegesetze hatten, Alkohol tranken und keinen Schleier trugen), betrieben Mission und wurden zunehmend revolutionär aktiv. Die Xinxinjiao war es schließlich, die mit messianischen Tendenzen für sich festlegte, die Erde für die Rückkehr Muhammads vorbereiten zu wollen und dadurch – aber auch durch andere, politische Umstände – die muslimischen Rebellionen der 1870er anstieß, an denen auch die Jahriyya, eine der großen Sufischulen Chinas, teilnahm.
Bis dahin gab es immer wieder Konflikte unterhalb der Muslime, aber auch Angriffe von han-chinesischen Gruppen sowie ihre Unterdrückung während der Qing-Dynastie (17.-20. Jh.). Als Problem wurde nicht die Religion als solche angesprochen, sondern die ständigen Kämpfe untereinander, die das chinesische Ideal von Harmonie und Ordnung störten. Der Kaiser war verantwortlich für den Erhalt von Harmonie und Ordnung. Die Xinxinjiao, die vornehmlich im Nordwesten Chinas, aber auch im neu annektierten Xinjiang verbreitet war, versuchte sich gar daran einen muslimischen Staat zu separieren. Das führte 1876 zum Genozid, die chinesische Regierung tötete im Nordwesten nicht nur Rebellen, sondern auch Zivilisten, vor allem Frauen und Kinder. Die Muslime wurden dort um zwei Drittel reduziert und in einigen Provinzen (Shaanxi) fast ausgelöscht.
In der Republik wurde erkannt, wie schwierig es war, die Hui als Ethnie zu behandeln – erstmals wurden sie als religiöse Gemeinschaft anerkannt und bezeichnet. Da Religion in China nicht registriert wird, ist heute unbekannt, wie viele Muslime in China tatsächlich leben. Es gibt viele muslimische Nicht-Hui, und viele Hui, die lange bereits den Islam nicht mehr praktizieren.
Beim Beispiel der Nationalisten in China hatten die muslimischen Kriegsherren ihr Ziel von einem autonomen Staat fast erreicht – das verursachte einen Konflikt zwischen ihnen und der kommunistischen Partei. Längst war im Westen durch Han-Chinesen gesiedelt worden, die Regierung war nicht bereit, das Land wieder aufzugeben. Einst war es der himmlische Ahnenkult, nun war es die Befreiungsideologie des Kommunismus, der China zum Nabel der Welt, zum Erzieher unverständiger Kulturen machte. Im Konflikt bedienten sich nun die Nationalisten der Muslime als Waffe. Sie finanzieren sie, besonders den salafistischen Islam, der seit 1937 auch in China angekommen war. Die Muslime wurden durch Schulen und Zugeständnisse gefördert, das ging unter den Kommunisten bis zur Kulturevolution so weiter – dann verkehrte sich die Welt ins Gegenteil. Muslime wurden aktiv verfolgt und ihre Kultstätten vernichtet.
Ja, die muslimischen Minderheiten hatten es in China schwer. Es hat sich zwar wieder gebessert seit der religiösen Öffnung Chinas in den 1980ern, aber „gut“ hatten sie es nie. Die einzige Möglichkeit es in China „gut“ zu haben ist die völlige Unterwerfung an chinesische Prinzipien und die vollständig Aufgabe der eigenen Kultur und Identität. Die Laojiao Hui sind zahlreiche Kompromisse eingegangen, doch es war nie genug. Die Han-Chinesen waren nie mit ihnen zufrieden, manchmal tolerant, doch nie akzeptierend. Dieser Status der Ungleichheit, des Herabschauens durch die Herrscherethnie, bot den idealen Nährboden für radikalere Bewegungen.
Von China abstrahiert, welche Schlüsse lassen sich aus diesem Beispiel bezüglich des Umgangs mit einer religiösen Minderheit ziehen?
Es kann keine Lösung sein, Migranten und ihre Nachkommen über Jahrhunderte zur Aufgabe ihrer Kultur zu zwingen. Deutschland war nicht so kulturell radikal, wie China es kontinuierlich war. Muslime sind angehalten, sich den Gesetzen der Länder, in denen sie leben, zu unterwerfen – solange diese keine muslimischen Vorschriften verletzen. Das tun deutsche Gesetze auch nicht. Konflikte kommen auf, wenn gezielt Gesetze erlassen werden, um Muslime einzuschränken – wenn z.B. das Schächten vollständig verboten wird, oder muslimische Kleidung, wenn das Beten oder Bauen von Moscheen verboten wird, oder andere Zwänge, die im Widerspruch zur Religion stehen, gesetzlich verankert werden. Kaum eine andere Religion muss in der heutigen Zeit so viele gegen sie gerichtete Gesetze ertragen wie der Islam.
Sozialneid bestimmt nicht nur die aktuelle Flüchtlingsdebatte, er ist von jeher und überall auf der Welt ein Faktor für den Umgang mit den Fremden – auch der chinesische Umgang mit den Hui zeigt das.
Bild von Dragfyre (2010) unter Creative Commons Lizenz CC BY-SA 3.0.
Sie haben sich auch mit Vietnam beschäftigt. Was kann man in diesem Fall über den ostasiatischen Umgang mit Minderheiten lernen?
Vietnam ist ein besonderer Fall. Ich kenne keine andere Kultur, die so unglaublich integrativ aktiv war, wie Nordvietnam. Dort dominierten Naturgottheiten, doch schon früh (um 111 vor unserer Zeit) drangen chinesische Eroberer nach Nordvietnam ein und machten aus dem Gebiet erst ein eigenes, chinesisches Reich (Nanyue/Nam Viet), dann eine Kolonie (Jiaozhi, Annam). Immer wieder wurde versucht, die Bevölkerung zu konfuzianisieren – erfolglos – gleichzeitig traten der indische Buddhismus und später der chinesische Buddhismus als Konkurrenten auf. Das konfuzianische Staatskonzept wurde über die buddhistische Staatsreligion übernommen, später wurde der Konfuzianismus zur religiösen Staatsideologie (das gab es in China so nicht, Staatsreligionen wurden nur von vereinzelten Herrschern eingeführt, sonst gab es einen Staatsritualismus mit vielen akzeptierten Religionen). Die vietnamesische Kultpraxis war integrativ, so sehr, dass der aus China stammende Daoismus, der sich mit großem Erfolg ausgebreitet hatte, sich schließlich in der vietnamesischen Volksreligion auflöste. Die Vietnamesen nutzten die Inkorporation („dieser Gott gehört zu uns“), Kohabitation („dieser Gott steht hier auch so rum“), die Amalgamierung („dieser Gott ist gleichzeitig auch jener Gott“) und Dekoration („Ja, offiziell ist es DEIN Gott, aber inoffiziell verehren wir UNSERE Götter“) intensiv, um die zahlreichen Religionen im Land (Volksreligion, Konfuzianer, Daoisten, Buddhisten, Hindus und Muslime) miteinander zu konsolidieren. Als Resultat daraus sind in Nordvietnam die meisten Kultorte multilokal und gehören nur selten einer einzigen Religion an. Die meisten von ihnen sind offiziell buddhistisch, haben aber Schreine für so ziemlich alle anderen Religionen. Näheres dazu ist nächstes Jahr in einer großen Vietnam-Ausstellung und dem dazugehörigen Katalog zu erfahren, bei dem mit großer Sorgfalt auf den wissenschaftlichen Umgang mit dieser für viele Deutsche doch sehr fremden Kultur achtgegeben wurde.
In den südlichen Regionen Vietnams sah das alles ein wenig anders aus, die Cham und Khmer hatten etwas weniger Auswahl auf dem religiösen Markt. Beide hatten traditionelle Religionen, über die wir heute nur wenig wissen. Beide wurden von hinduistischen Reisenden mit der Hindu-Religion bekannt gemacht. Beide hatten vornehmlich shivaistische (teilweise vishnuitische) Staatskulte und beide gerieten in Konflikt mit dem einkehrenden Buddhismus (bei den Cham mit dem strengen Theravada-Buddhismus, bei den Khmer mit dem in Vietnam neuen Mahayana-Buddhismus).
Der Islam kam erst spät nach Südvietnam, doch sowohl die Khmer- als auch die Cham-Eliten konvertieren. Für die Khmer war das eine Katastrophe, denn sie akzeptierten bislang eine ökumenische Laienpraxis, die aber von einem hinduistischen Staatskult geleitet wurde. Die erste Khmer-Konversion erfolgte aus ökonomischen Motiven und hatte kaum Auswirkungen auf das Volk, doch der zweite muslimische Khmer-Herrscher war radikaler und unterband den Staatskult – dadurch beraubte er sich selbst in den Augen der nicht-muslimischen Untertanen jeder Legitimation. Eine Gegenbewegung eroberte schließlich das Mekong-Delta. Große Teile davon gehören bis heute zur Vietnam, obwohl die Khmer als Vorgänger der Kambodschaner gelten.
Für die Cham war es genau umgekehrt, die Cham waren einem enormen Siedlungsdruck durch die nördlichen Vietnamesen ausgesetzt. Gerade in den besonders umkämpften Gebieten konnte der Islam durch seine Heilsbotschaft Fuß fassen und den Menschen in Not durch seine Jenseitslehre neue Hoffnung schenken. Champa wurde schließlich von den Vietnamesen erobert, im Süden leben weiterhin hinduistische Cham, im Zentrum Vietnams muslimische Cham.
In Nordvietnam gibt es keine Konflikte mit den Muslimen, dort gibt es aber auch recht wenige. Eine der größten Moscheen ist die relativ junge Masjid-Al-Noor-Moschee in Hanoi. Sie wird durch lokale Spenden finanziert, hat einen libyschen Imam und zu ihrer „Kundschaft“ zählen neben Vietnamesen vor allem Inder, Malaysier und andere Südostasiaten. Auf dem Gebiet des ehemaligen Champa gibt es mehr Moscheen, viele von ihnen werden durch ausländische Gelder finanziert – bei der Einrichtung der Sozialistischen Republik Vietnam kam es zu Muslimverfolgungen und viele vietnamesische Muslime wanderten nach Jemen und Malaysia aus. Die Cham wurden erst im 17. Jahrhundert erobert. Viele empfinden die Vietnamesen immer noch als Fremdherrscher. Auch heute gibt es in Vietnam teilweise gewalttätige Konflikte mit den muslimischen Cham, diese sind jedoch allesamt politisch-separatistisch motiviert, nicht religiös. Dazu besteht grundsätzlich kaum Grund: Anders als in China, wo das Pilgern limitiert und Kontakte ins Ausland unterbunden sind, können ausländische Muslime in Vietnam relativ problemlos einreisen und arbeiten. Der Kontakt nach Vietnam hinein ist also kaum eingeschränkt. Der Islam ist – wie die Nation an sich – heterogen.
Vietnam zeigt ganz deutlich, dass es auch ohne religiöse Gewalt geht. Auch China hätte viele gewaltsame Konflikte durch mehr Offenheit vermieden können. Viele Fälle von Gewalt gehen in beiden Ländern auf Eroberungsituationen zurück (Vietnam eroberte die Champa, China eroberte Xinjiang). Das können wir in Deutschland natürlich nicht nachvollziehen. Doch in beiden Ländern waren die migrierenden Muslime, die Laojiao Hui in China und die Muslime in Nordvietnam, zu Kompromissen bereit. Reibungen entstanden dort, wo sie ungleich behandelt wurden.
Bleiben wir nochmal bei China: Im Unterschied zu hier scheinen “Sektendefinitionen” dort eher für Lacher zu sorgen [man vgl. auch allgemein zum problematischen Begriff Überall “Sekten”? – Religionsbezogene Diskriminierung (nicht nur) in öffentlich-rechtlichen Medienanstalten], so behauptet es zumindest ein Artikel “Chinesisches Medium gibt zu: ‘Falun Gong ist keine Sekte’” in der Epoch Times, einer der verfolgten Bewegung nahen Zeitung, aus dem Juni 2014. Ist diese Verfolgung mancher Gruppierungen als “Sekten” eher ein sehr junges Phänomen oder gab es Ähnliches vor der Kulturrevolution bzw. warum scheint die Verfolgung der muslimischen Minderheit in China nicht in diese Religionsfreiheit einschränkende Kategorie zu fallen?
Was im Artikel wohl als “Sekte” verstanden wird, sind die „schadhaften Lehren“ xiejiao. „xie“ ist ein interessantes Wort, es bedeutet dämonisch, bösartig, steht aber auch für alle ungesunden Einflüsse, die Krankheiten hervorrufen. In genau diesem letzten Sinne sind die Xiejiao in China zu verstehen: Der Inhalt der Lehre spielt keine Rolle und die Regierung interessiert sich – mit Verlaub – einen feuchten Kehricht dafür, ob jemand seiner Familie den Rücken kehrt oder all sein Geld in die Organisation steckt.
Ich kann die Behauptungen der Quelle mit Nähe zur Falun Gong nicht überprüfen und finde behauptete Dokumente nicht. Richtig ist, dass das Büro 610, welches allein die Aufgabe hat, die Falun-Gong-Anhänger festzusetzen und umzuerziehen, keinerlei legislative Grundlage hat. Richtig ist auch, dass die speziell gegen die Falun Gong erlassenen Richtlinien gegen die eigene, damalige chinesische Verfassung verstoßen und dass bei Prozessen gegen Falun-Gong-Anhänger die Rechtsprechung nicht unabhängig ist.
Bild von Brandan Themes (Minneapolis) unter Creative Commons Lizenz CC BY 2.0.
Was die chinesische Regierung interessiert, sind die Auswirkungen all dessen: Ob eine Lehre sich aktiv oder passiv gegen die Regierung stellt. Genau so steht es auch als Einschränkung der Religionsfreiheit in der chinesischen Verfassung (Stand 2004 Sektion II Art. 36).
Ich zitiere hier aus dem Erlass des Staatskonzils der Volksrepublik China Nr. 426, wie er während der 57. Exekutiven Versammlung des Staatskonzils am 7. Juli 2004 beschlossen wurde:
„Artikel 3: Der Staat beschützt gemäß dem Gesetz normale religiöse Aktivitäten und bewahrt die gesetzlichen Rechte und Interessen religiöser Körperschaften, Stätten für religiöse Aktivitäten und religiöse Bürger. Religiöse Körperschaften, Stätten für religiöse Aktivitäten und religiöse Bürger sollen sich an die Verfassung, Gesetze, Regulationen und Regeln halten und die Vereinigung des Landes, die Einheit alle Nationalitäten und Stabilität der Gesellschaft bewahren. Keine Organisation oder Individuum benutze Religion um Aktivitäten zu unterstützen, welche die öffentliche Ordnung zerstören, die Gesundheit der Bürger verletzen, die in das Bildungssystem des Staates eingreifen oder für andere Aktivitäten, welche den Staat oder öffentliche Interessen oder die gesetzlichen Rechte und Interessen der Bürger verletzen.“
Die Artikel ab Nr. 40 behandeln alle religiösen Aktivitäten und Symbole, welche erst durch Anträge an den Staat durchgeführt werden dürfen und sonst illegal sind. Diese Anträge können aber nur von Gruppen gestellt werden, die auch beim Staat registriert und anerkannt sind – darin liegt die Krux. Gerade in den 1990ern waren zahlreiche dieser illegalen Gruppen gewachsen, die sich keine Hoffnungen auf staatliche Anerkennung machen durften – allen voran christliche Gruppen. Nach dem Tiananmen-Vorfall wurden viele von ihnen hart verfolgt und in den Untergrund getrieben.
Seitdem werden Xiejiao verfolgt, die „den Staat untergraben“, „eine Kultorganisation nutzen, um die Durchführung des Gesetzes zu sabotieren“ oder „die öffentliche Ordnung“ gefährden. Sie werden bemerkt haben, dass ich, anders als im verlinkten Artikel, den zweiten Aspekt als „Kultorganisation“ übersetzt habe. Es geht dabei nämlich um jede Religionsform, nicht ausschließlich um solche, die bei uns als „Sekte“ angesprochen würden.
Für die KPC gibt es grundsätzlich zwei Faktoren der Legitimation: Wirtschaftlicher Wohlstand und Harmonie und Ordnung. Die organisierten Religionen (dazu zählt auch der Islam) lassen sich durch die Büros für religiöse Angelegenheiten leicht kontrollieren – die meisten sogenannten “Volksreligionen” aber nicht. Daher sind sie es, die unter der heutigen Xiejiao-Gesetzgebung am meisten leiden. Sie sind schwer zu kontrollieren. Dabei ist es irrelevant, ob sie schon seit Jahrhunderten praktiziert worden sind. Da religiöse Aktivitäten in der Öffentlichkeit so kaum durchführbar sind, werden viele solche Religionsformen heute als Brauchtum dargestellt – eine eigene Problematik, zu der äußerst erleuchtende Fallstudien in „Faiths on Display“ von Tim Oakes und Donald S. Sutton (2010) nachgelesen werden können.
Aber machen Sie sich keine Illusionen – nicht zu einem Xiejiao gerechnet zu werden, schützt niemanden. Der Staat kann jeder Zeit entscheiden, eine Praktik, eine Lehre als schadhaft einzustufen und zu verfolgen – das passiert bei Muslimen, Buddhisten und Christen immer wieder. Dank der rechtlichen Einschränkungen ist des dem chinesischen Staat möglich, dass Staatseingriffe gegenüber der Religionsfreiheit vorrangig sind und sich ganz ausdrücklich nicht nur auf nicht-religiöses, kriminelles Verhalten beziehen.
Ehrlich gesagt kann ich den Begriff Falun Gong nicht mehr hören, diese Gruppierung ist von Propaganda und Gegenpropaganda umweht. Das merkt man auch an jenem sehr polemisch verfassten Artikel. In China gelten sie heutzutage als böse und staatsgefährdend, im Westen werden sie als unschuldige Verfolgte dargestellt. Im Artikel heißt es: „Zunächst wurden Falun Gong-Praktizierende völlig ohne Begründung verhaftet, misshandelt und getötet“. Das stimmt so nicht. Die Wahrheit liegt dazwischen.

Eine Prozession von Falun-Gong-Anhängern in London in der Nähe der chinesischen Botschaft. Die Demonstranten halten Porträts von Verfolgten und Hingerichteten.
Bild von WikiLaurent (2006) unter Creative Commons Lizenz CC BY-SA 3.0.
Falun Gong wurde 1992 durch Li Hongzhi begründet, der diverse Techniken des Qi Gong zur Selbstkultivierung verwendete, sich von Erich von Dänikens Ufologie inspirieren ließ [Anm. Red.: man vgl. das Interview Prä-Astronautik: Religionsgeschichte als unheimliche Begegnung der dritten Art] und die Wissenschaft ablehnte – zu einer Zeit, als die Regierung die Naturwissenschaften fördern wollte. Zudem wurden Gelder gesammelt, Zeitschriften veröffentlicht und Versammlungen abgehalten, alles nicht nach Gesetz angemeldet oder genehmigt. Die Falun Gong verhielt sich in den Augen der Regierung also heterodox. Die Falun Gong machten generell viele Fehler, der größte davon waren die Demonstrationen vor den Regierungsgebäuden in Beijing im April 1999. Sie müssen sich vorstellen … jahrelang wurde die Falun Gong von der chinesischen Regierung als Propagandainstrument gegen herkömmliche, „feudalistische“ religiöse Strukturen gehegt und als Symbol chinesischer Spiritualität gepflegt und plötzlich machen sie sich im dezidierten gong-Raum breit und stellen die Regierung in Frage. DAS war der Grund für die Gegenreaktion des Staates und das anschließende Verbot im Juli 1999, nicht eine irgendwie imaginierte „Eifersucht“ der Staatsführung. Wenn überhaupt, ging es bei den Mitgliederzahlen der Falun Gong um eine so wahrgenommene Regierungsgefährdung aufgrund der von ihnen durchgeführten heterodoxen Praktiken, nicht darum, dass es mehr Anhänger als Parteimitglieder gab. Deshalb zog die Regierung ihre Unterstützung zurück und behandelte die Falun Gong nicht anders, als andere neue Kulte jener Zeit – mit Misstrauen.
Im April 1999 war die chinesische Regierung geschockt. Wie konnte diese religiöse Gruppierung nur so „frech“ werden? Bei ihrem Verbot der Falun Gong hieß es, sie „untergrub den Staat“, „sabotierte die Einhaltung der Gesetze“ und „gefährdete die öffentliche Ordnung“ und es dauerte nicht lange, bis alle Qi-Gong-Bewegungen ihren legitimen Status verloren.
Nach diesem Vorfall stellte die Regierung noch viel strenger als etwa in den 1950er Jahren sicher, dass die Religion politischen Objektiven dient. Registrierung, Überwachung, Mitgliedschaft, Versammlungsorte, Bildung, Klerus, Veröffentlichung und Finanzierung sind in staatlicher Hand – oder illegal. Die Situation hat sich für viele der kleineren, weniger stark organisierten religiösen Gruppen, aber auch der unbeliebten offiziellen Gruppen (wie die Muslime) durch den Aufstand der Falun Gong verschlechtert. Insofern fällt die Verfolgung der Hui-Muslime (nicht der Uighuren) durchaus in diese eigenstaatliche Untergrabung der Religionsfreiheit. Dabei war die Reaktion der Regierung absolut absehbar, sie hat sich genau so verhalten, wie es chinesische Regierungen schon seit Jahrhunderten tun. Ein gutes Buch zur genaueren Betrachtung der Falun Gong ist von David Ownby: Falun Gong and the Future of China (2008).
Bild von Joffers951 (2011) unter Creative Commons Lizenz CC BY-SA 4.0.
Schadhafte Kulte gibt es natürlich nicht erst seit der Kulturrevolution. Ihre Herkunft erklärt sich aus dem chinesischen Religionsverständnis im Konflikt zwischen Bevölkerung und Regierung: Chinas Bevölkerung, vornehmlich Bauern, suchten Rat und Hilfe bei Naturgottheiten und lokalen Helden (sowohl militärischer als auch gelehrter Natur), um ihre Bedürfnisse und Ängste zu stillen. Mehrere Dörfer schlossen sich im Unterhalt eines Tempels zusammen, das stärkte die Gemeinschaft. Kulte, die auf dem Land entstanden, waren Symbole der Dörfer und ihrer gemeinschaftlichen Anstrengung zur Überwindung einer Krise (z.B. Dürren). Sie waren das Ziel der Anstrengung und des Kapitals der Gemeinschaft, nur die Regierungsgebäude waren größer (und nicht immer prächtiger). Beamte und gewählte Führer mussten Dienste in diesen Kulten ausführen, wenn sie ihre lokale Legitimation nicht gefährden wollten – von der Kaiserregierung eingesetzt worden zu sein reichte bei Weitem nicht aus. Der Gruppenzwang beeinflusste eigentlich nur Fremde (Beamte wurden nie im Heimatort eingesetzt), alle anderen wurden in diese Traditionen hineingeboren. Die Dorf-Tempel-Organisationen übernahmen die soziale Wohlfahrt, waren aber auch oft Quelle der Schwurgemeinschaften und späteren Geheimgesellschaften, die der Regierung gefährlich werden konnten. Im Kontrast dazu stand der Staat, der weniger als in anderen Weltgegenden auf eine bestimmte Religion als Legitimationsstütze zurückgriff, sondern einen traditionellen Ritualismus unterhielt. Dieser integrierte neue religiöse Aspekte oder nicht. Nur ein einziger Lehrer als charismatischer Führer einer daoistischen oder buddhistischen Gruppe konnte diese mit einer heterodoxen Idee zu einer Widerstandsbewegung machen. Das ist in der chinesischen Geschichte sehr häufig passiert, mit Auswüchsen, die wir uns heute kaum vorstellen können. Beispielsweise gab es eine buddhistische Gruppe, die durch das Töten von Menschen Buddhaschaft erlangen wollte. Ein sehr ausführliches Buch wurde durch Hubert Seiwert und Ma Xisha herausgebracht (Popular Religious Movements and Heterodox Sects in Chinese History, Leiden, 2003).
Auch in China gilt eine universelle Wahrheit: Religion kann sich auf die Seite des Staates schlagen und helfen, ihn zu legitimieren, oder heterodoxe Gruppen mit politischen Ambitionen zur Widerstandsmacht formen. So entwickelten sich früh Kontrollmechanismen, welche die Annahme des Kaiserkultes (ähnlich Rom) zum Maßstab machten. Was musste eine Religion tun, um orthodox zu sein? Den Kaiser verehren, die Reichseinheit nicht gefährden, der Staatsorthodoxie entsprechen und möglichst keine Glaubensvorstellungen mischen (nicht, dass damals jemand wirklich gewusst hätte, welche Vorstellungen wozu gehörten). War das Volk in seinem Verhalten durch religiöse Animation nicht orthodox, würde dies nach konfuzianischer Ansicht zum Chaos führen – und Chaos führt zum Weltuntergang. Das würde der Himmel als höchste spirituelle Einheit nicht zulassen und einen Herrscher bestimmen, der das Volk wieder im Griff hatte. Kurz: Wenn es erst einmal zum religiösen Chaos kam (z.B. in Form eines Aufstands) war die Legitimation des Herrschers dahin. Besonders schlimm war dies, wenn die religiöse Heterodoxie auch noch alternative Verwaltungssysteme anbot oder auf andere Weisen den Staat nachahmte. Besagte buddhistische Gruppierungen waren dem nicht selten schuldig und auch Grund für die ersten Buddhistenverfolgungen im 5. Jahrhundert. Dank wiederkehrender Aufstände verschwand der Buddhismus bis zum 10. Jh. großteils aus den Eliten und eine erste restriktive Gesetzgebung wurde erlassen: Buddhisten durften keine Sutren auf öffentlichen Plätzen (gong) verlesen, Erlösungswege lehren oder Almosen sammeln, ansonsten wurden ihre Schulen als Xiejiao klassifiziert. Die Xiejiao-Bezeichnung war ursprünglich also auf politisch aktive Gruppen ausgerichtet und diente dem Staat dazu, gegen staatsgefährdende Bewegungen vorzugehen – doch mit den ersten entsprechenden Gesetzen wurden auch politisch nicht aktive, kleinere Religionsgruppen in Bedrängnis gebracht. Dieser Vorgang wiederholte sich in der Qing-Dynastie. Ein riesiger Überprüfungsapparat war nur dafür zuständig, zur Registrierung eingereichte Kulte und die Biographien der zugehörigen Gottheiten auf Konsistenz mit der Staatsideologie zu prüfen bzw. entsprechend zu editieren. Kulte, die nicht der Ideologie entsprachen und nicht editiert werden konnten, waren yin (heterodox), aber damit noch nicht verfolgt. Erst staatsgefährdende Tendenzen brachten einer religiösen Bewegung den verfolgbaren Status Xiejiao ein.
Das Problem an Xiejiao ist also, dass die eigentlich nicht-religiösen Eigenschaften einer religiös identifizierten Gruppe (wie politische Ambition) zur Entwicklung von Verfolgungsmechanismen beitrugen, unter denen auch nicht-politisch aktive Gruppen leiden. Oftmals werden Eigenschaften für diese Verfolgung festgemacht, die nichts mit der als gefährlich eingestuften Eigenschaft (Sutren Lesen) zu tun haben oder einfach viel zu allgemein sind (Almosen sammeln).
In der Schweiz wird aktuell ein Burka-Verbot diskutiert, die Umsetzung eines solchen in Frankreich scheint kafkaeske Züge anzunehmen. Während die Gegnerseite insbesondere von Religionsfreiheit spricht, betonen die Befürworter neben Sicherheitsaspekten insbesondere Frauenrechte. Wie unterscheidet sich die Debatte von der in China, wo in der Region Xinjiang Gesetze gegen Verschleierung und Vollbärte (Aug. 2014, im Jan. 2015 verschärft) erlassen worden sind? Und was sind die jeweiligen Konsequenzen?
Zunächst müsse wir uns klar machen, dass die Situation der Uighuren in Xinjiang sich fundamental von jener der Hui in China unterscheidet – daher werden beide Gruppen in der Forschung für gewöhnlich auch getrennt behandelt. Die Uighuren sind Muslime, aber keine Hui, sie gehören einer anderen Ethnie an.
Sehen Sie, wenn im Artikel geschrieben steht, dass „[d]ie chinesischen Kaiser […] das große zentralasiatische Gebiet bereits Mitte des 18. Jahrhunderts erobert“ hätten, kann ich nur müde lächeln. Das ist für das chinesische Zeitverständnis nicht mehr als ein Wimpernschlag. Xinjiang ist in den Augen seiner Bewohner immer noch etwas Neues. Die Uighuren sind ein Turkvolk, das keinerlei Interesse daran hat, sich der Erobererkultur der Han-Chinesen anzupassen. Sie sehen sich als Turkmenistan zugehörig und behalten daher ihre kulturelle und linguistische Verschiedenheit. Uighuren und Han-Chinesen desselben Dorfes leben getrennt und interagieren nicht miteinander.
Dieses „Unvermögen“, sich an die chinesischen Gesellschaftsideale anzupassen, lässt den Konflikt mit China als Nabel der Welt, welches die ungebildeten „Barbaren“ belehren möchte, wieder aufleben. Die Weigerung, die Ideale Chinas für sich anzunehmen, führt dazu, dass die Uighuren von der Regierung abgestraft und von den Han-Chinesen abschätzig betrachtet werden. Allein die Weigerung, Mandarin zu lernen, heißt für Han-Chinesen nichts anderes, als dass Uighuren „dumm“ oder kulturell minderbemittelt seien. Dabei pflegen natürlich beide Seiten Vorurteile gegeneinander.

Dieses diskriminierende Hinweisschild in Bussen schließt für Menschen mit Verschleierung oder bestimmten Bärten die Nutzung aus (Xinjiang, 2014).
Xinjiang ist eine durch und durch unchinesische Region, das ist jedem klar, der sich mit chinesischer Geschichte beschäftigt. China ist bis heute nie in der Lage gewesen eine stabile Westgrenze aufzubauen, im Gegenteil, Einfälle nördlicher und westlicher „Barbaren“, die Teile der frisch eroberten Gebiete zurückeroberten, waren Alltag. Allzu oft fielen sie ganz in China ein, häufig waren es zentral- und nordasiatische Kräfte, welche instabil gewordenen chinesischen Dynastien den Todesstoß versetzen. Immer wieder kam es auf chinesischem Boden zu zentral- und nordasiatischen Fremdherrschaften. Erst seit dem Fall der Sowjetunion baute China erstmals positive Beziehungen zu den meisten zentralasiatischen Staaten auf – dabei offenbarte sich die Herausforderung, trotzdem die ethnopolitische Herrschaft über Xinjiang zu behalten, ohne ökonomische Beziehungen zu den neuen Partnern zu gefährden. Von Anfang an hatte es in Xinjiang separatistische Bewegungen gegeben – absolut nicht verwunderlich, schließlich waren die Chinesen Eroberer und zu keinem Zeitpunkt in irgendeiner Form erwünscht gewesen. Mit der Konsolidierung Xinjiangs in den 1950ern verstärkte sich dies.
Natürlich gibt es auch islamistische Uighurengruppen, viele ihrer Anhänger sind in den 1990ern bereits in die Nachbarstaaten ausgewandert. Sie gelten zwar als ausgesprochen militant, ihnen wurde von ihren Einwanderungsstaaten aber wenig Beachtung geschenkt: Dadurch hatten sie Gelegenheit Netzwerke zu etablieren und gaben den in China zurückgebliebenen Uighuren Hoffnung, die Unabhängigkeit erlangen zu können. Als es dann vermehrt zu Ausschreitungen kam, akzeptierten die Nachbarstaaten die von China vorgeschlagenen Maßnahmen gegen die Uighuren: Die Grenzen wurden stärker kontrolliert und mutmaßliche (!) Separatisten ausgeliefert, im vollen Bewusstsein, was mit ihnen passiert. Neben der Zuhilfenahme extremer Methoden zur Informationsgewinnung steht die Todesstrafe auf Verrat, ferner werden mutmaßliche Separatisten, die nicht direkt mit einem tödlichen oder nicht-tödlichen, geplanten oder ausgeführten Anschlag in Verbindung gebracht werden können, häufig als Saboteure verfolgt – der Beweis für die Unschuld an einem mutmaßlichen Sabotagedelikt ist sehr schwer.
Uighuren werden in jedem Aspekt strenger kontrolliert, als Han-Chinesen. Es gibt schlimme Propaganda gegen Uighuren: Jede noch so kleine muslimische Tradition gilt als islamistisch. Verbote gegen Verschleierung und Bärte (aber nur muslimische Vollbärte) haben nichts mit dem Schutz von Menschen zu tun, sondern sind lediglich äußere Merkmale zur Identifizierung jener, die nicht jeder Regel der Regierung folgen. Plakate in Xinjiang selbst zeigen Cartoons, in denen Uighuren als Monster dargestellt werden. Die Region wird nicht befriedet, sondern Uighuren und Han weiter gegeneinander aufgehetzt.
Viele Meldungen über separatistische Vorgänge in Xinjiang werden von Regierungsquellen ohne jede Grundlage mit Al-Quaida in Verbindung gebracht – dadurch wird das harte Vorgehen der Regierung legitimiert (vor allem in den Augen der Weltöffentlichkeit). Dabei zielen die Attacken der Separatisten nur selten auf Zivilisten ab, ihre Ziele sind stattdessen Regierungsbeamte, Militärconvoys und Sicherheitspersonal – nicht, dass das in Ordnung wäre, aber dies unterscheidet uighurische Separatisten von der modernen Definition des (religiösen) Terroristen.
China selbst sieht übrigens nicht in diesen uighurischen Separatisten das größte Terrorproblem – das ist vielmehr die Han-Arbeiterbewegung, welche sogar Selbstmordattentate durchführt (Näheres dazu wird hier beschrieben: Kevin Sheives, China Turns West: Beijing’s Contemporary Strategy Towards Central Asia, in: Pacific Affairs 79/2, 2006, S.205-224).
Obwohl wir hier also zwei muslimische Bevölkerungsgruppen haben, könnten sie nicht unterschiedlicher sein: Die einen sind Migranten, sie versuchten sich zu integrieren, sie wurden nie richtig akzeptiert, das bildete – wie wir gesehen haben – historisch den Ausgangspunkt für durchaus radikale religiöse Ansichten. Die anderen sind Eroberte, die nichts anderes wollen, als ihre Kultur fortzuführen, nicht assimiliert zu werden, wieder eigenständig sein – sie kannten schon die Unabhängigkeit. Teilweise nutzen sie Religion als Legitimationsbasis, aber generell sind ihre Attacken politisch und nicht religiös motiviert, so wie auch der chinesische Staat sich nicht gegen eine imaginierte Islamisierung verteidigt, sondern gegen den Verlust einer ressourcenreichen (Öl, Kohle, Erdgas) Provinz, die kulturell gesehen gar nicht chinesisch ist. In diesem Sinne gleicht dies der Situation in Vietnam, wo im friedlicheren Norden Muslime als Migranten kamen, während sie im Süden, v.a. repräsentiert durch die Cham-Minderheit, für die politische Unabhängigkeit kämpfen (wobei Südvietnam viel konsequenter vietnamisiert wurde, als Xinjiang sinisiert).
In Westeuropa wurde keine muslimische Region erobert. Die meisten Muslime sind als Migranten gekommen, viele von ihnen sind äußerst kompromissbereit gewesen, wurden aber mit ähnlichen Vorurteilen und Verhaltensweisen konfrontiert, wie in China. Hier stahlen sie nicht den Bambus, sondern galten als betrügerische, nur auf ihren Vorteil bedachte Händler (kennen wir diese Rhetorik nicht irgendwoher?). Heute heißt es, ihre Minarettrufe seien zu laut und aus irgendwelchen Gründen würden Moscheen die landschaftliche Optik mehr stören als Kirchen oder andere sakrale Bauten. Das sind alles Ausreden, das ist das Festhalten an Details, gerade um Unterschiede zu betonen. Diese Unterschiede werden dann als Rechtfertigung für fremdenfeindliches Denken und das politische Vorgehen gegen alle, die anders sind, hergenommen. Die Schweiz (und auch Deutschland in vielen Dingen) stehen hier auf Ebene der Vorurteile China in nichts nach.
Es heißt, die Burka sei ein Sicherheitsproblem. Man könne Bomben oder andere Waffen darunter schmuggeln. Dementsprechend müssten auch alle anderen langen Bekleidungen wie Mäntel, Röcke, Kleider … verboten werden. Auch die Gesichtserkennung ist kein Argument. Dort, wo eine Gesichtserkennung essentiell ist, können weibliche Mitarbeiter zur Identifizierung eingesetzt werden – das würde den Frauenrechten bestimmt insofern helfen, dass mehr Positionen mit Frauen besetzt werden müssten.
Nicht Kleidungsstücke, sondern Menschen üben Druck auf andere Menschen aus. Das ist bereits nach gängigen Gesetzen behandelbar. Im Gegenteil dazu kann das Verbot der Burka durch den Staat als eindeutiger Verstoß gegen die Religionsfreiheit angesehen werden (dies wurde für das Kopftuch auf deutschem Boden auch kürzlich bestätigt). Das Schweizer Komitee sagt, dass Ausnahmen „nur aus […] Gründen des einheimischen Brauchtums“ zugelassen werden können. Eine nicht-muslimische Schweizerin darf also so viele Kopftücher tragen, wann immer und wo immer sie will. Da wird also ein Kleidungsstück verboten, aber nur wenn es von einer bestimmten Bevölkerungsgruppe getragen wird. Das ist eine Ungleichbehandlung, die eine spezielle Religion ausgrenzt.
Sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland gibt es bereits ausreichend rechtliche Grundlagen, um gegen Nötigungen vorzugehen. Wird eine Frau gezwungen, ein Kopftuch oder eine Burka zu tragen, so kann sie auch ohne Burka- oder Kopftuchverbot legal dagegen vorgehen. Ist ihr dies aufgrund einer gewaltsamen Unterdrückung nicht möglich, so wird ihr auch ein Burka- oder Kopftuchverbot nicht helfen. Im Gegenteil, es würde ihre Situation in der Konsequenz verschlimmern, indem ihre Bewegungsfreiheit weiter auf das Haus reduziert wird und die Möglichkeiten, sich Hilfe zu suchen, weiter eingeschränkt würden. Frauen, die aus Missbrauchssituationen aus fremden Ländern nach Europa oder nach einer Konversion einfach wieder nach Hause fliehen möchten, wird diese Option genommen. Auf der anderen Seite wird Frauen, die ein Kopftuch oder eine Burka aus religiösen Gründen tragen möchten, diese Selbstbestimmung entzogen. Das Burka- oder Kopftuchverbot würde die frauenrechtliche Situation also nicht nur verschlechtern, es ist auch ein redundantes Gesetz, das keine andere Funktion ausübt, als eine bestimmte Bevölkerungsgruppe zu diskriminieren.
Muslime an sich schränken weder durch ihre Kleidung noch durch ihre kulturell-religiösen Praktiken die Religionsfreiheit anderer ein. Sie müssen natürlich an unseren Gesetzen gemessen werden – werden diese aber konsequent angewandt, besteht kein Bedarf an weiteren, nur auf Muslime ausgerichteten Gesetzen. Im Gegenteil, solche mutwillig diskriminierenden Gesetze können höchstens dazu beitragen, gesellschaftliche Konflikte zu schüren. Eine Lösung bestünde aber darin, unter konsequenter Anwendung der Gesetze (inklusive der Freiheitsgesetze) eine weitmögliche, ernstgemeinte Akzeptanz zu üben und die Muslime als Muslime in Europa anzuerkennen. Auf diese Weise kann eine Identifizierung mit einem solchen pluralistischen Europa entstehen, und so schaffen wir keine muslimischen Separationsgruppen, sondern Schweizer, Deutsche, Spanier, Dänen, Franzosen … die zufällig auch Muslime sind.
Danke für das Interview.
Das Interview führte Kris Wagenseil.
Cesnur: The List of China’s Banned Religious Groups, by Edward A. Irons (2016).