Hizmet in Tansania und Deutschland: Feldforschung in der Bewegung des Fethullah Gülen

Gerade relativ aktuell hat Ilja Trojanow in einem Gastbeitrag der FAZ Sufismus als den “größten Feind des islamischen Extremismus” skizziert (19. August 2016) als Antwort auf Stefan Weidner in der Süddeutschen (“Warum der Sufismus gar nicht so friedlich ist”; 6. August 2016). Eine besondere Verknüpfung von Sufismus und Islamismus findet sich im Werk Fethullah Gülens, insofern man die Bildungs- und Missionsideen Gülens zur Transformation nicht nur der türkischen Gesellschaft zu letzterem hinzuzählen möchte (man vgl. allgemein auch Islamkritik und Rassismus. Ein Briefwechsel über einen Essay von Ahmad Mansour). Doch was ist das eigentlich für eine Bewegung, die Hizmet- oder Gülen-Bewegung? REMID befragte dazu Kristina Dohrn (FU Berlin, Sozial- und Kulturanthropologie), welche in ihrer Promotion (“Beyond Classrooms: Ethics and Education at Gülen-inspired Schools in Urban Tanzania”) die Gülen-Bewegung in Deutschland, der Türkei und – als Schwerpunkt der Feldforschung – in Tansania untersuchte.

 

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Gülen-inspirierte Bildungsinstitutionen sind international sehr erfolgreich. Auf dem Bild filmt ein Vater die Graduiertenzeremonie seiner Tochter an einer Gülen-inspirierten Schule in Tansania. Sie gehört zu den besten und teuersten Schulen des Landes. Copyright liegt bei Kristina Dohrn.

 

Durch die jüngsten Ereignisse in der Türkei ist die Hizmet- bzw. Gülen-Bewegung in aller Munde. Sie hatten bei Ihrer Forschung Einblicke in der Türkei, Deutschland und Tansania. Wer ist Fethullah Gülen und worum geht es der Bewegung?

Fethullah Gülen ist ein muslimischer Prediger und charismatisches Zentrum einer weltweit aktiven Bewegung. Ihren Ursprung hat sie in den 1960er Jahren, als sich ein erstes soziales Netzwerk von jungen Männern herausbildete, die sich von Gülens alltagsnaher Lesart der Schriften Said Nursis (1877-1960) – ein kurdischer Religionsführer, der Gülens Denken stark prägte – inspiriert fühlten [vgl. auch Cemil Şahinöz: Die Nurculuk Bewegung. Entstehung, Organisation und Vernetzung, 2009; Anm. Red.]. Als Angestellter beim Türkischen Amt für Religiöse Angelegenheiten (Diyanet) erreichte Fethullah Gülen mit seinen emotionalen Predigten eine zunehmend größere Anzahl an muslimischen Gläubigen. Inspiriert durch sein praxisnahes Verständnis der Ideen Said Nursis, welches er mit den Herausforderungen einer spätindustriellen Türkei verknüpfte, bildete sich seit den 1970er Jahren eine eigene Anhängerschaft heraus, die seine Ideen durch Audio- und Videokassetten sowie Bücher und Hefte verbreitete und die damit begann, seine gesellschaftsrelevanten Ideen umzusetzen. Sie eröffneten zunächst Studentenwohnheime, veranstalteten Sommercamps und waren in der außerschulischen Nachmittagsbetreuung aktiv.

Seit den 1980er Jahren kam die Gründung erster von Gülen inspirierter Schulen hinzu, die sich durch ihren großen Erfolg und einen naturwissenschaftlichen Schwerpunkt auszeichnen. Das zunehmend Gestalt annehmende Netzwerk wurde maßgeblich durch sozial-konservative türkische Unternehmer unterstützt, die im Zuge der türkischen Liberalisierungspolitik an Einfluss und Kapital gewannen. Für sie waren Gülens Ideen zur Vereinbarkeit von einem islamisch-frommen Lebensstil und einem Engagement und Erfolg in einer „modernen“ Geschäftswelt attraktiv und schienen Aspekte zu vereinen, die seit Gründung der Türkischen Republik als Gegensätze postuliert wurden (z.B. religiös-traditionell vs. säkular-modern).

Seit den 1990er Jahren begann sich das Netzwerk, welches nunmehr die Bereiche Medien, Bildung, Dialog, Charity und Business umfasste, auch außerhalb der Türkei auszubreiten – zunächst in Staaten Zentralasiens und des Balkans und später bei weitem darüber hinaus. Heute ist die Gülen-Bewegung in ca. 160 Ländern der Welt aktiv und hat sich somit zu einem globalen Netzwerk mit einer starken Türkeizentrierung entwickelt. Fethullah Gülen, der seit 1999 in den USA lebt, richtet sich in erster Linie durch seine Videobotschaften und Schriften an seine Anhängerschaft.

 

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“Be better educated”, so heißt der Slogan auf dem Schulbus der “Feza Schools”, das Bild zeigt Schüler_innen vor ihrer Schule in Tansania (2013; Copyright liegt bei Kristina Dohrn).

 

Sie sprechen von mehreren Kreisen in Bezug auf die Gülen-Bewegung. Das Sonderheft der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen zum Thema nennt für Deutschland 5.000 unterstützende Unternehmen des Bundesverbandes der Unternehmervereinigungen (BUV) mit zudem 20 Mitgliedsvereinen, 3.000 Mitgliedern und 40.000 Mitarbeitern. Hinzukommen 160 (F. Eißler, Berliner Dialog, 2015) bis „300 Kultur- und Bildungsvereine und außerschulische Nachhilfeeinrichtungen, fast 30 Schulen, viele Kindertagesstätten,15 Dialoginstitutionen, […] ein Dutzend Akademiker[verbände…] sowie die internationale Mediengruppe World Media Group AG in Offenbach a.M., unter deren Dach Zeitungen (wie Zaman Avrupa), Radio- und Fernsehsender (wie Samanyolu TV Avrupa und Ebru TV), Zeitschriften (z.B. Fontäne) wie auch beispielsweise das Deutsch-Türkische Journal (DTJ) […] vereint sind. Viele der Nachhilfevereine, etwa die Pangea-Bildungszentren, sind im Academy Verein für Bildungsberatung e.V. (Frankfurt a. M.) organisiert“ (Eißler, EZW Nr. 238/2015, S. 3). Wen sprechen diese Einrichtungen an?

Die verschiedenen Gülen-inspirierten Einrichtungen sprechen eine Vielzahl von Personen mit unterschiedlichen Motivationen an – und ihr Radius geht dabei weit über die Kernanhängerschaft Fethullah Gülens hinaus. Die Einrichtungen werden zwar von Personen initiiert und getragen, deren Engagement und Motivation sich auf die Ideen Gülens gründet. Darüber hinaus binden sie jedoch eine große Anzahl von Personen ein, für welche die Ideen Fethullah Gülens keine vorrangige Rolle spielen und es gibt auch Einrichtungen, in denen Personen arbeiten, denen Fethullah Gülen und die Bewegung gänzlich unbekannt sind (die erhöhte öffentliche Aufmerksamkeit, die der Gülen-Bewegung spätestens seit dem Putschversuch 2016 entgegengebracht wird, wird dies mit Sicherheit ändern).

Daher spreche ich auch von unterschiedlichen Kreisen der Bewegung, welche unterschiedliche Formen der Zugehörigkeit implizieren. So ist die Kernanhängerschaft (innerer Kreis) von den Ideen Gülens inspiriert und sieht deren Umsetzung als wichtige Maxime in der eigenen Lebensgestaltung an. Personen, die diesem inneren Kreis angehören, nehmen an der religiös-sozialen Praxis der Bewegung teil und sind durch soziale Beziehungen zu anderen Gülen-Anhänger_innen und durch eine Struktur von Autoritätspersonen eng miteinander verbunden. Daneben gibt es einen weiteren Kreis an Personen aus einem muslimisch-türkischen Umfeld, welche die Bewegung beispielsweise durch Spenden unterstützen, die von den Netzwerkstrukturen und Bildungsangeboten der Bewegung profitieren und so auch in die Bewegung eingebunden sind – sie sind jedoch nicht Teil der engeren Kernanhängerschaft. Es ist in erster Linie dieser Kreis, der derzeit auf Grund der Konflikte zwischen der Türkischen Regierung und der Gülen-Bewegung wegbricht. Zu einem weiteren Kreis gehören Personen, welche keinen türkisch-muslimischen Hintergrund haben und welche die Einrichtungen und Initiativen der Bewegung schätzen und auch häufig öffentlich unterstützen – wie es beispielsweise bei einigen Politiker_innen und Wissenschaftler_innen der Fall ist. Und es gibt wiederum einen Kreis an Personen, die in die Einrichtungen eingebunden sind, jedoch nichts von deren Verbindung zu Fethullah Gülen und der Bewegung wissen. Natürlich sind diese verschiedenen Ebenen der Zugehörigkeit nicht statisch und voneinander abgegrenzt – sie sind viel mehr dynamisch und die Übergänge oft fließend.

Gerade dadurch, dass die islamische Motivation, welche vielen der Einrichtungen zu Grunde liegt, meist nicht nach außen getragen wird, sprechen sie eine Vielzahl von Akteur_innen mit unterschiedlichen Beweggründen an. Zum Radius der Einrichtungen gehören also sowohl die islamisch inspirierte Lehrerin, die in ihrem Unterricht einen hizmet, eine religiös-verdienstvolle Handlung, sieht, als auch ein deutsch-türkischer Schüler mit seinen Eltern, für den die enge Betreuung in Gülen-inspirierten Schulen – angesichts fehlender Antworten des staatlichen Schulsystems in Hinblick auf die Bildung migrantischer Jugendlicher – eine Chance auf Bildungsaufstieg darstellt; und auch die deutsche Co-Direktorin, die mit den Namen Gülens nichts weiter verbindet.

 

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Grafik aus “Islam Taught in Charter Schools. The Gulen Movement” von Steve Elwart, IDB Folio Specialist, Koinonia House (khouse.org), February 2011 Personal Update News Journal. Die Karte zeigt Schulen und Organisationen der Gülen-Bewegung in den USA. Ein Klick auf die Karte führt zum Originalartikel.

 

In Ihrer Feldforschung gelang es Ihnen auch, Einblick in die “Lichthäuser” genannten Wohngemeinschaften zu erhalten und dort zu wohnen. Welche Bedeutung hat hier die Religion? Wie sieht der Alltag aus?

In den Wohngemeinschaften der Gülen-Bewegung leben jeweils ca. 3-6 Personen, meist Student_innen, nach Geschlechtern getrennt zusammen und orientieren sich in ihrem Alltag an den Ideen und Idealen Fethullah Gülens. Allerdings ist es von WG zu WG unterschiedlich, in welchem Maß das der Fall ist. So lernte ich während meiner Forschung in Deutschland sowohl Wohngemeinschaften kennen, in denen das einmal wöchentlich stattfindende sohbet, bei welchem die Schriften Gülens (oder auch Said Nursis) gelesen und besprochen werden, die einzige gemeinsame Aktivität in der Woche darstellte und die Bewohner gingen ansonsten ihrem Studium oder Beruf nach. In anderen WGs wiederum gab es ein detailliertes Programm, welches für jeden Wochentag bestimmte Praktiken vorsah. Hierzu gehörte zum Beispiel das Ansehen von Gülens Video-Predigten, die systematische Lektüre seiner Bücher, aber auch Lernen für das Studium – und natürlich das gemeinsame sohbet, welches eine Art Mindestmaß an gemeinsamer Praxis in einer WG der Gülen-Bewegung darstellt.

Die Bewohner_innen, die ich in Deutschland während meiner Forschung kennenlernte, waren alle Muslime und Teil der Gülen-Bewegung. Religion und die von Fethullah Gülen aus dem islamischen Glauben hergeleiteten Ideen und Ideale spielten eine wichtige Rolle für den Alltag in den Wohngemeinschaften. Die Bewohner_innen orientierten sich häufig am Beispiel des Propheten und seiner Gefährten und legten viel Wert auf die Erfüllung religiöser Pflichten, wie etwa das gemeinsame Gebet oder Fasten.

In jeder WG gibt es eine Autoritätsperson, eine abla (große Schwester) oder einen ağabey (großer Bruder), die/der für das Programm zuständig, aber ebenso für das soziale Miteinander von großer Bedeutung ist. Neben der Erfüllung religiöser Pflichten, wird in den Wohngemeinschaften großer Wert auf Bildung gelegt – was insgesamt den hohen Stellenwert von Bildung (die Gülen in seinen Schriften islamisch legitimiert) innerhalb der Gülen-Bewegung widerspiegelt. Zudem werden in den Wohngemeinschaften wichtige soziale Beziehungen mit den Mitbewohner_innen aber auch zur lokalen Gülen-Community gepflegt, die häufig weit über den Zeitraum in den Wohngemeinschaften hinausreichen.

Sie hatten Kontakt mit Männer- und Frauen-WGs. Reagierten diese unterschiedlich auf die nicht-muslimische Forscherin? Welche Rollenbilder und Verhaltensweisen werden dort gelebt, etwa in Bezug auf Geschlechterrollen?

Bei den Wohngemeinschaften handelt es sich um nach Geschlechtern getrennte Räume – mein Zugang zu männlichen Wohngemeinschaften war also sehr limitiert. Ich habe zwar Interviews mit Bewohnern geführt, konnte allerdings im Verlauf meiner Forschung nur eine Wohngemeinschaft von Männern besuchen und meine Einblicke in den Alltag der Bewohner beschränkten sich in erster Linie auf Interviews. Bei den Wohngemeinschaften von Frauen konnte ich hingegen für eine längere Zeit teilnehmend beobachten und auch ein viel tieferes Vertrauensverhältnis aufbauen – folglich hatte ich hier viel tiefere Einblicke in die dort stattfindenden alltäglichen religiösen und sozialen Praktiken, die generell in der Gülen-Bewegung nach Geschlechtern getrennt ablaufen. Und ich gewann ein weitaus tieferes Verständnis der unterschiedlichen Perspektiven und Subjektpositionen von Bewohnerinnen.

Anfangs waren die Reaktionen auf mein Forschungsvorhaben allerdings sowohl bei Männer- als auch bei Frauen-WGs sehr zurückhaltend und es dauerte lang, bis ich einen Zugang zu den Wohngemeinschaften und deren Bewohner_innen aufbauen konnte.

Wie die Gülen-Bewegung ist auch Ihre Forschung international. Unterschieden sich die Anhänger Gülens in der Türkei, in Deutschland und Tanzania? Und auf welche Weise sind sie transnational vernetzt?

Die Gülen-Bewegung ist heute in ca. 160 Ländern der Welt aktiv und passt sich flexibel an die lokalen Gegebenheiten und Umstände an. Die transnationale Vernetzung der Akteur_innen, soziale Strukturen und Autoritätspersonen in der Bewegung sowie die Predigten und Schriften Fethullah Gülens garantieren dabei den Zusammenhalt und das Gefühl, Teil einer Community (cemaat) zu sein. Die Türkei, Deutschland und Tansania sind dabei drei Länder, anhand deren Vergleich man gut sehen kann, wie sich die lokalen Gülen-Communities unterscheiden können: Die Türkei, das Mutterland der Gülen-Bewegung, stellte lange Zeit das Zentrum dar und die cemaat war hier was ihren gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Einfluss anbelangt – aber auch finanziell gesehen – am stärksten. Aktivitäten in anderen Teilen der Welt wurden häufig von hier aus koordiniert und unterstützt. Die derzeitige Verfolgung von Gülen-Anhänger_innen und Gülen-inspirierter Institutionen wird dieses allerdings in der Zukunft wohl ändern.

In Deutschland wiederum wird die Bewegung meist von Personen getragen und vorangetrieben, die in Deutschland geboren und/oder sozialisiert wurden. Allerdings hat die Bewegung hier mit vielen gesellschaftlich verbreiteten Vorurteilen gegenüber Migrant_innen, Türk_innen und Muslim_innen/“den Islam“ zu kämpfen, was die Arbeit vor Ort zum Teil erschwert. So kommen die Schüler_innen Gülen-inspirierter Schulen beispielsweise meist aus migrantischen Familien und die Schulen sind hier weitaus weniger erfolgreich und nachgefragt, als in vielen anderen Ländern der Welt.

In Tansania gehören Gülen-inspirierte Schulen zu den besten und teuersten des Landes. Die türkische Community vor Ort ist klein und die Schulen werden in erster Linie von tansanischen Schülerinnen und Schülern besucht. Viele Gülen-inspirierte Lehrer_innen, die ich während meiner Forschung kennenlernte, waren zuvor in anderen Ländern der Welt in Einrichtungen der Gülen-Bewegung aktiv und räumliche Mobilität ist für sie häufig ein zentrales Element ihres Lebens geworden. Auch hier spielt bei der lokalen Community jedoch die türkische Sprache und Kultur eine zentrale Rolle und wird unter den Anhänger_innen gepflegt – und dass interessanterweise auch, wenn nicht alle einen türkischen Hintergrund haben.

Die verschiedenen Aktivitäten und Personen der Gülen-Bewegung sind durch persönliche Kontakte und eine Struktur von verantwortlichen Personen (ağabey/abla, dt.: großer Bruder/Schwester) vernetzt. Deren Verantwortungsbereich kann dabei ganz unterschiedliche Dimensionen haben. So gibt es sowohl ablas und ağabeys von den zuvor erwähnten sohbet-Gruppen, die vor Ort in einem Austausch stehen, bis hin zu ağabeys, deren Verantwortungsbereich ein ganzes Land umfasst und die sich wiederum mit ağabeys anderer Länder koordinieren – wenn es zum Beispiel um finanzielle Ressourcen oder Personal für eine neu erbaute Schule geht. Auch mit zentralen Personen in der Türkei haben diese Länder-ağabeys Kontakt. Wie diese Verantwortungsbereiche genau organisiert sind, ist jedoch von Land zu Land durchaus unterschiedlich und hängt nicht zuletzt auch von der Größe der lokalen Community ab.

Es besteht zumindest ein Grad an Organisation, der eine hierarchische Steuerung von lokalen Akteur_innen ermöglicht. Konnten Sie in Erfahrung bringen, auf welche Weise vertikal kommuniziert wird in der Gülen-Bewegung?

Eine vertikale Kommunikation kann man in vielen Kontexten in der Gülen-Bewegung beobachten. So gibt die abla einer sohbet-Gruppe zum Beispiel vor, welches Buch gelesen wird und häufig spielt sie auch eine große Rolle bei der Erläuterung des genauen Verständnisses des Gelesenen und bei Fragen der Umsetzung. Die abla in einer Wohngemeinschaft wiederum ist auch in sozialer Hinsicht von großer Bedeutung: Sie achtet häufig darauf, dass die Bewohnerinnen zu bestimmten Zeiten zu Hause sind und dass auch die weiteren Regeln in der WG eingehalten werden. Meine Besuche und Interviews wurden meist durch solche Autoritätspersonen autorisiert und generell stimmt man sich in der Bewegung mit seiner abla/seinem ağabey über wichtige Entscheidungen ab. Hierbei ist es unterschiedlich, inwieweit diese Entscheidungen auf höhere Ebenen getragen werden. So würde zum Beispiel bei einigen Entscheidungen die abla Gülen-inspirierter Lehrerinnen selbst entscheiden, bei anderen würde sie sich an den Schuldirektor wenden, der ebenso Teil der Bewegung ist und deren Autorität überwiegt. Insgesamt ist bei diesen Strukturen zu beobachten, dass es meist Männer in den hohen Positionen sind.

 

Früher wurden die Predigten Fethullah Gülens hauptsächlich mittels Audiokassetten verbreitet. Heute sind Videos ein beliebtes Mittel wie in diesem Beispiel.

Link zum Video.

 

“Islamisierung von unten” ist ein Stichwort, das im Kontext der Gülen-Bewegung in den Medien fällt. Wie missioniert die Gülen-Bewegung? Und wie wird man normalerweise Bewohner eines Lichthauses?

Der Großteil der Gülen-Anhänger_innen kommt aus einem islamisch-türkischen Umfeld, was auch für den Nachwuchs gilt. Der Weg in den inneren Kreis der Bewegung mit seinen sozialen Beziehungen und Praktiken ergibt sich dabei meist durch persönliche Kontakte. Hier sind die engen Beziehungen zu einer Lehrerin oder einem Lehrer, die/der eine gewisse Vorbildfunktion erfüllt, meist von zentraler Bedeutung – häufig fühlten sich Schüler_innen durch solche Persönlichkeiten motiviert, Teil einer sohbet-Gruppe zu werden und sich näher mit den Ideen Fethullah Gülens zu beschäftigen. Auf diese Weise kann auch der Kontakt zu den Wohngemeinschaften entstehen: Die Bewohnerinnen, die ich während meiner Forschung in Deutschland kennenlernte, unterrichteten zum Beispiel häufig selbst in Gülen-inspirierten Nachhilfeeinrichtungen und luden die Schülerinnen gelegentlich zu sich ein. Ebenso kann es vorkommen, dass muslimische Freunde zum sohbet in eine WG eingeladen werden und den Wunsch äußern, in eine solche Wohngemeinschaft einzuziehen.

Die Bemühungen um neue Anhänger_innen beschränken sich allerdings auf Muslime. In Tansania beispielsweise, wo sowohl christliche, als auch muslimische Schüler_innen Schulen der Gülen-Bewegung besuchen, kommen christliche Schüler_innen meist gar nicht mit den Ideen Fethullah Gülens in Kontakt und nicht wenige schließen die Schule ab, ohne je von Gülen gehört zu haben. Bei muslimischen Schüler_innen kommt es durchaus vor, dass im Nachmittagsbereich Texte von Gülen gelesen werden. Allerdings bedeutet dies nicht, dass diese Schüler_innen so zwangsläufig Teil der Bewegung werden. Inwieweit dann der Kontakt zu spezifischeren sohbet-Gruppen entsteht ist wieder stark von der Beziehung zur Lehrerin/zum Lehrer abhängig und viele Schüler_innen lesen die Texte, ohne damit eine bestimmte Bewegung mit bestimmten Praktiken und Strukturen zu verbinden.
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Der Weg in den inneren Kreis der Bewegung erfolgt meistens als ein längerer Prozess der sukzessiven Annäherung. Angesichts der derzeitigen Situation in der Türkei, wird sicherlich die Frage des Nachwuchses auch außerhalb der türkisch-muslimischen Community an Bedeutung gewinnen.

Danke für das Interview.

Das Interview führte Kris Wagenseil.