Religionswissenschaft macht Schule? Impulse für das Unterrichtsfach Religion

Gast­beitrag von Dr. Irene Diet­zel, gesam­melt auf der Jahresta­gung der DVRW in Mar­burg, 2017. Irene Diet­zel ist pro­movierte Reli­gion­swis­senschaft­lerin mit beson­derem Inter­esse für alles Anthro­pol­o­gis­che. Nach einem Forschung­spro­jekt in den Mit­telmeer­stu­di­en hat sie den Quere­in­steig in die Schule gewagt und unter­richtet an ein­er Berlin­er Ober­schule Reli­gion und Ethik. Als Lehrbeauf­tragte an der Uni­ver­sität Pots­dam gibt sie regelmäßig Ein­führun­gen in die Reli­gion­swis­senschaft für ange­hende L‑E-R-Lehrer*innen.

Let­zten Sep­tem­ber ließ ich meinen Unter­richt an ein­er Berlin­er Ober­schule vertreten, um an der Tagung der Deutschen Vere­ini­gung für Reli­gion­swis­senschaft (DVRW) in Mar­burg teilzunehmen. Unter dem Mot­to der Kon­ferenz, “Medi­en, Mate­ri­al­ität, Meth­o­d­en” waren inno­v­a­tive und alt­be­währte Ansätze der Reli­gions­forschung ver­sam­melt. Ein rot­er Faden, der sich durch viele Pan­els und Pausen­ge­spräche zog, war auch hier die aktuelle Debat­te um Rel­e­vanz und Ver­mit­tlung von reli­gion­swis­senschaftlichem Wis­sen in außer­akademis­chen Bere­ichen. In welchen Tätigkeits­bere­ichen des öffentlichen Lebens ist reli­gion­swis­senschaftliche Exper­tise gefragt? In welchen Foren soll­ten Religionswissenschaftler*innen Diskurse über Reli­gion aktiv(er) mit­gestal­ten? Der Arbeits­bere­ich Schule ist sicher­lich ein solch­es Forum. Auch wenn es die Fächer­land­schaft (noch) nicht ein­deutig wider­spiegelt, ist reli­gion­skundlich­es Wis­sen auch außer­halb des kon­fes­sionellen Reli­gion­sun­ter­richt­es immer stärk­er gefragt – so zumin­d­est erfahre ich es in meinem eige­nen Arbeit­sall­t­ag. Nach mein­er eige­nen Pro­mo­tion in den Reli­gion­swis­senschaften hat­te ich, eher zufäl­lig, den Quere­in­stieg in den Lehrerberuf gewählt, und unter­richte nun seit eini­gen Jahren die Fäch­er evan­ge­lis­che Reli­gion und Ethik. Sei­ther frage ich mich, wie diese Fäch­er sich verän­dern wür­den, wie sich die Insti­tu­tion Schule verän­dern würde, wenn mehr Kolleg*innen aus der Reli­gion­swis­senschaft den Weg in die Sekun­dar­bil­dung fän­den.

Tafel­bild “The­men­samm­lung” aus dem Unter­richt ein­er 7. Klasse von Irene Diet­zel.

Zum The­ma gab es in Mar­burg auch ein Pan­el. Die Diskus­sion­srunde zur „Logik der Alter­na­tivfäch­er zum kon­fes­sionellen Reli­gion­sun­ter­richt“ (Wöste­mey­er / Alberts) bestärk­te von ihrem Umfang her den Ein­druck, dass das Inter­esse an schulis­ch­er Reli­gion­skunde dur­chaus groß ist, von ihrer Zusam­menset­zung her allerd­ings, dass die Verknüp­fung von Reli­gion­swis­senschaft und Fach­di­dak­tik in der Prax­is noch aus­baufähig bleibt; beze­ich­nen­der­weise war keine weit­ere Lehrkraft anwe­send.

Dabei ist die Frage nach guter Reli­gion­skunde ein wach­sendes Forschungs­feld. Es gibt solide Grund­la­gen­forschung zur vielfälti­gen Fächer­land­schaft in Europa (z.B. Alberts 2007, 2. Auflage 2012), kri­tis­che Stim­men in den Debat­ten um Bil­dungspoli­tik (z.B. Brock­er et al. 2003) und diverse Unter­richtsmod­elle (z.B. Ken­ngott et al. 2015). Zen­tral für dieses Forschungs­feld ist die Unter­schei­dung von kon­fes­sionellem und nicht-kon­fes­sionellen Unter­richt – hier scheint das Ver­hält­nis von reli­gion­skundlich­er Fach­di­dak­tik und der etwas etabliert­eren Reli­gion­späd­a­gogik ähn­lich gelagert zu sein wie das Ver­hält­nis von Reli­gion­swis­senschaft zur The­olo­gie in der weit­eren akademis­chen Land­schaft. Der viel beschworene method­is­che Agnos­tizis­mus etis­ch­er Reli­gions­forschung, zum Beispiel, erscheint, in bil­dungspoli­tis­ch­er Sprach­führung, als ‚Weltan­schau­ungsneu­tral­ität‘ – dass dieser Begriff trotz sein­er Kom­plex­ität selb­st jede Menge Prob­leme aufwirft, sollte hier zumin­d­est nicht uner­wäh­nt bleiben. Im Kon­text des Bran­den­burg­er Schul­fach­es L‑E-R (Lebens­gestal­tung-Ethik-Reli­gion­skunde) lässt sich die Norm der Weltan­schau­ungsneu­tral­ität in ein konkretes Regel­w­erk von Geboten und Ver­boten über­set­zen. Sie entste­ht dem­nach aus dem „Iden­ti­fika­tionsver­bot, Bew­er­tungsver­bot und Indok­tri­na­tionsver­bot, sowie durch das Par­itäts­ge­bot, Mäßi­gungs­ge­bot und Kon­tro­ver­sitäts­ge­bot“ (vgl. Wels 2015). Ist das nicht ein biss­chen viel an Regle­men­tierung für dynamis­chen Unter­richt?

Der vor­liegende Beitrag ist kein Überblick über die Debat­te oder Fächer­land­schaft. Vielmehr inter­essierten mich die Stel­lung­nah­men mein­er Kolleg*innen zu der Frage, wie aus reli­gion­swis­senschaftlich­er Forschung ein Unter­richts­fach entste­hen kann. Alle Befragten posi­tion­ierten sich bere­itwillig (und oft aus dem Ste­greif) zu zwei konkreten Fra­gen:

1) Welch­es ist die aktuelle Forschungs­frage, worum geht es im aktuellen Forschung­spro­jekt?
2) Welche Inhalte und Per­spek­tiv­en aus der eige­nen Forschung soll­ten in ein Schul­fach ein­fließen, das allein von der Reli­gion­swis­senschaft ver­ant­wortetet wird?

Die nun vor­liegen­den ‚Short­cuts‘ zum The­ma sind das Ergeb­nis ein­er method­isch zunächst unsys­tem­a­tis­chen Samm­lung. Sie stellen keine angemessene Darstel­lung der einzel­nen Forschung­spro­jek­te dar – wer mehr wis­sen will, find­et über eine kurze Online-Recherche gle­ich den Weg zu den Forschen­den selb­st. Die den­noch auf­schlussre­ichen Impulse habe ich im Fol­gen­den nach drei all­ge­meinen Beobach­tun­gen kom­piliert und jew­eils in Bezug auf meine bish­erige Schul­prax­is kom­men­tierend wiedergegeben.

1. Beobachtung: Religionskundlicher Unterricht wird durchaus als wertebildend gesehen

…zum Beispiel in Verbindung mit den umwelt­poli­tis­chen Her­aus­forderun­gen der Gegen­wart und Zukun­ft. „Die Jugendlichen sollen wis­sen, was auf sie zukommt“ sagt Dr. Car­rie B. Dohe. Im DFG-Pro­jekt zu „Reli­gion­s­mo­tivierten Umweltschutzbe­we­gun­gen und ihren inter­re­ligiösen Net­zw­erken“ unter­sucht sie, wie sich im Zuge der Auseinan­der­set­zung mit umwelt­poli­tis­chen Fra­gen nicht nur die Rit­uale, Ausle­gun­gen und Feiertagskalen­der einzel­ner Reli­gion­s­ge­mein­schaften verän­dern, son­dern auch die inter­re­ligiösen Beziehun­gen selb­st. Das gilt es, so Car­rie Dohe, den Schüler*innen näher zu brin­gen. Hier würde sie ein reli­gion­skundlich­es Ler­nen begrüßen, das die the­o­retis­chen Ele­mente – das Ler­nen über intra- und inter­re­ligiöse Verän­derun­gen – mit erleb­nis­päd­a­gogis­chen, ja par­tizipa­torischen Ele­menten verbindet, wie z.B. eine Teil­nahme am neuen Schöp­fungstag.

Car­rie Dohes Input liegt soweit ganz im Trend der aktuellen Bil­dungspoli­tik. Das The­ma ‚Nach­haltigkeit‘ zieht sich durch viele neuere Rah­men­lehrpläne als fächerüber­greifende Kom­po­nente, bleibt aber schw­er­punk­t­mäßig in den natur­wis­senschaftlichen Fäch­ern behei­matet. Der Bedarf an Impulsen aus den „Envi­ron­men­tal Human­i­ties“ ist dem­nach groß. Ob auf­grund der Aktu­al­ität von Nach­haltigkeit eine Schüler­par­tizipa­tion an religiösen Fes­ten für einen auf Neu­tral­ität und Über­wäl­ti­gungsver­bot bedacht­en Unter­richt salon­fähig wird, bleibt abzuse­hen.

Doch han­delt es sich hier ‚noch‘ um Reli­gion oder eher um umweltak­tives Han­deln bere­its beste­hen­der gesellschaftlich­er Grup­pierun­gen? Die Frage nach der begrif­flichen „Grenzziehung“ zwis­chen Reli­gion und Nicht-Reli­gion war auch gemein­samer Grundgedanke der näch­sten drei Gesprächsteilnehmer*innen, Kris Wagen­seil vom REMID e.V. und Nachwuchswissenschaftler*innen Arne Laloi (MA) und Alexan­dra Jugelt (BA), bei­de von der Uni Frank­furt a.M.. Deut­lich wurde in dieser kleinen Gespräch­srunde auch, dass die notorische Frage nach der Def­i­n­i­tion von Reli­gion dur­chaus gesellschaft­spoli­tis­che Dimen­sio­nen hat und nicht „nur“ erken­nt­nis­the­o­retis­chen Charak­ter.

Denn es ist für das Miteinan­der in unser­er plu­ral­isieren­den Gesellschaft „dur­chaus von Rel­e­vanz, dass man sich ausken­nt mit der Art und Weise, wie Men­schen sich die Welt erk­lären“, meint Kris Wagen­seil. Viele For­men der Selb­st­bes­tim­mung und Iden­tität­skon­struk­tion haben auch einen religiös-spir­ituellen Aspekt. Eben­so zählen „Ver­schwörungsmythen“ zum religiösen Feld, egal, ob hier religiöse Min­der­heit­en in der Wel­terk­lärung die Haup­trol­le spie­len, oder ob religiöse Min­der­heit­en selb­st solche Mythen über Andere pro­duzieren.

Tafel­bild ein­er 7. Klasse, Resul­tat eines Brain­storm­ing “Was ist Reli­gion?”, von Irene Diet­zel.

Arne Laloi beschäftigt sich mit dem Ver­hält­nis von Reli­gion und völkischen Bewe­gun­gen und ganz all­ge­mein mit dem Ver­weben von poli­tis­chem Engage­ment, Nation­al­is­mus und Reli­gion, in his­torisch­er wie aktueller Per­spek­tive. Reli­gion ist ein wichtiger Fak­tor für die Kon­sti­tu­tion gesellschaft­spoli­tis­chen Inter­essens­grup­pen – das gilt es deut­lich­er zu zeigen. Lalois Gedanken liegen damit direkt im Schnit­tfeld der Fäch­er Reli­gion, Geschichte und Poli­tik. In einem auf­schlussre­ichen Ver­gle­ich mit seinen eige­nen Schuler­fahrun­gen weist Laloi darauf hin, dass „Aha-Effek­te“ oft erst aus einem akademis­chen Studi­um der Reli­gio­nen resul­tieren, sich aber schon früher ein­stellen soll­ten. Zum Beispiel in Bezug auf religiöse Akteure im Drit­ten Reich: Sein eigen­er Geschicht­sun­ter­richt habe trotz schw­er­punk­t­mäßiger Bear­beitung dieser Phase deutsch­er Geschichte nicht ein­mal die Rolle der beken­nen­den Kirche the­ma­tisiert. Hier fehle es auch an gesellschaft­spolitsch­er Aufar­beitung. “Was ist denn mit den ganze Leuten passiert, die während des Drit­ten Reichs als religiöse Führer unter­wegs waren?“ Dies sollte Auf­gabe eines reli­gion­swis­senschaftlichen Ler­nens in der Schule sein.

Über Fra­gen der Selb­st­bes­tim­mung und Iden­tität hin­aus soll­ten in der Schule auch Prozesse von Zuschrei­bung, von „religiösem ‚Oth­er­ing‘“, in den Blick genom­men wer­den, meint Alexan­dra Jugelt. Sie beschäftigt sich mit der west­lichen Rezep­tion von bud­dhis­tis­chen Tra­di­tio­nen oder hin­duis­tis­chen Prak­tiken, wie z.B. Yoga oder Tantra. Sind diese Tra­di­tio­nen nun religiös oder nicht? Wichtig seien hier aber auch konkrete For­men religiös­er Zuschrei­bung in inter­per­son­alen Sit­u­a­tio­nen, da wo auch tagtägliche Diskri­m­inierung entste­ht.

Als Faz­it dieser ‚Nach­wuchs-Runde‘ läßt sich dur­chaus ziehen: Kom­plex­itätssteigerung ist gesellschafts­bilden­der Auf­trag eines von der Reli­gion­swis­senschaft ver­ant­worteten Unter­richts. Im Lehrer­jar­gon und mit einem Augen­zwinkern kön­nte man sagen: Ver­wirrung ist bei Zeit­en auch ein valides Unter­richt­sziel, ein ‚Hä?‘ genau­so wichtig, wie der erwün­schte ‚Aha-Effekt‘.

2. Beobachtung: Der Religionsunterricht selbst ist paradigmatisch für den gesellschaftlichen Stellenwert von Religion – letzterer wird allerdings ganz unterschiedlich bewertet.

Reli­gion verän­dert sich ent­lang gesellschaftlich­er Vorze­ichen – soweit, so bin­sen­weise. Je nach­dem wie man fragt, hier aus der Per­spek­tive eines The­olo­gen und ein­er Reli­gion­ssozi­olo­gin, fall­en die Inter­pre­ta­tion dieses Wan­dels unter­schiedlich aus.

Dr. Peter Schüz, sys­tem­a­tis­ch­er The­ologe an der LMU München, forscht aktuell zur „Neudeu­tung und Trans­for­ma­tion in der Inter­pre­ta­tion des Kreuzes im mod­er­nen Protes­tantismus“. Für Schüz läßt sich dieser Wan­del vor allem als eine Art Ver­lust religiösen Ver­ste­hens deuten. „Die tief imple­men­tierten Codes aus dem Chris­ten­tum gehen ver­loren und sind dadurch schw­er­er zu ver­mit­teln“. Diese Entwick­lung erschwere nicht nur in der Schule, son­dern auch in der The­olo­gie das Beschreiben von kom­plex­en dog­ma­tis­chen Prob­le­men. Dabei seien ger­ade die escha­tol­o­gis­chen und kos­mol­o­gis­chen Konzepte, wie Aufer­ste­hung oder Schöp­fung, nicht zu umge­hen. Peter Schüz beobachtet ganz richtig, dass das „Inter­esse bei Schü­lerin­nen und Schülern dur­chaus hoch ist, diese fremd gewor­de­nen Dinge zu ver­ste­hen“. Deshalb plädiert er dafür, „keine Scheu zu haben vor dem Befremdlichen im Chris­ten­tum“. Der kon­ven­tionelle Reli­gion­sun­ter­richt „[neige] dazu […] Schü­lerin­nen und Schüler ‚abzu­holen‘ und sie auf ihre Lebenswelt hin zu fra­gen ‚Wie erleb­st du das, […] Gott beim Spazier­gang in der Natur zu suchen?‘ […] Ich glaube, das Inter­esse ist auch dur­chaus groß an den Din­gen, die man erst mal für nicht ver­mit­tel­bar hält, die sper­rig sind, die antiquiert wirken, die vielle­icht sog­ar abstoßend wirken auf den ersten Blick.“

Eine Stunde zum Bud­dhis­mus in ein­er 8. Klasse, von Irene Diet­zel.

„Fremd­heit macht [also] den Reiz von religiös­er Bil­dung aus“, so Schüz. Dies gilt sicher­lich nicht nur für die Beschäf­ti­gung mit der eige­nen, son­dern vor allem für das Ler­nen über andere Reli­gio­nen. Tat­säch­lich läßt sich das Inter­esse am Befremdlichen als intrin­sis­che Moti­va­tion zum Ler­nen für die Zwecke des Unter­richts nutzen. Die Lehrkraft sollte sich dabei aber stets der laten­ten Gefahr von Exo­tisierung bewusst sein, die nicht nur das Ferne, son­dern bei Über­tra­gung auch poten­tielle Mitschüler*innen mitex­o­tisiert. Diese Exo­tisierung wird dann rel­a­tiviert, wenn man in das Kuriositätenk­abi­nett der Reli­gio­nen, ganz im Sinne dieses Inputs, immer auch die ver­meintlich ver­traute Reli­gion mit ein­bezieht. Das erfordert von den Lehrkräften allerd­ings eine Ken­nt­nis der eige­nen Reli­gion, die ja nach der von Schüz gegebe­nen Diag­nose kaum noch flächen­deck­end vorhan­den ist.

Einen anders gelagerten Blick­winkel auf den Stel­len­wert von Reli­gion eröffnet die Forschung von Petra Klug. Die Reli­gion­ssozi­olo­gin arbeit­et derzeit am Insti­tut für Reli­gion­swis­senschaft und Reli­gion­späd­a­gogik der Uni­ver­sität Bre­men an eige­nen Forschun­gen zum Umgang mit Athe­is­mus in den USA. Ihre Arbeit zeigt auf, dass Reli­gion dur­chaus tief in der Gesellschaft ‚vorhan­den‘ ist, näm­lich in Form von Normierung. Ein Phänomen, welch­es in den Vere­inigten Staat­en zu dif­fuser bis konkreter Diskri­m­inierung von Athe­is­ten führt, u.a. über ver­schiedene Geset­zge­bun­gen, und welch­es auch die Krim­i­nal­isierung bes­timmter Lebensen­twürfe mit sich führen kann. In diesem Sinne for­muliert Petra Klug eine aus­ge­feilte Arbeits­de­f­i­n­i­tion von Reli­gion, die auch normierende Dimen­sio­nen erfasst: Reli­gion ist dem­nach „ein Sys­tem von Nor­men, die nur von eini­gen Mit­gliedern der Gesellschaft geteilt wer­den, aber mitunter als für alle verbindlich geset­zt wer­den.“

Es sei deshalb Auf­gabe eines reli­gion­skundlichen Unter­richt­es, einen verkürzten Reli­gions­be­griff zu erweit­ern: Über das, was „religiöse Men­schen tun“ hin­aus, zu dem, was „Reli­gion in der Gesellschaft macht“. Let­ztlich wäre dann auch die The­ma­tisierung des Reli­gion­sun­ter­richt­es in der Schule selb­st ein notwendi­ger Unter­richtsin­halt, samt des Kon­flik­tes, der in der Diskus­sion um Reli­gion und Schule entste­ht. Denn es sind die Kon­flik­te kleineren und auch größeren Aus­maßes, wie z.B. der 11. Sep­tem­ber 2001 oder die Geset­zge­bun­gen zur Abtrei­bung, in denen die „erzwun­gene Verbindlichkeit“ von religiösen Nor­men sicht­bar wer­den. Als Nebenbe­merkung zur Debat­te um die Aktu­al­ität und den Sendungsauf­trag der Reli­gion­swis­senschaft ergänzt Klug, dass „reli­gion­swis­senschaftliche Forschung die aktuelle Sit­u­a­tion sehr viel bess­er beschreiben, abbilden und analysieren“ kann. Den Ein­druck teile ich völ­lig, und denke auch, dass darin – in aller Ein­fach­heit – die Notwendigkeit eines reli­gion­swis­senschaftlichen Schul­fach­es grün­det.

3. Beobachtung: Im Sinne des Konferenzthemas „Medien, Materialität, Methoden“ wird Religion schlichtweg anders, bzw. woanders ‚verortet‘.

..zum Beispiel im virtuellen Raum, wie ich in einem Gespräch mit Dr. Fred­erik Elw­ert erfahren durfte. Am Cen­trum für Reli­gion­swis­senschaftliche Stu­di­en (CERES) der Uni Bochum erforscht Elw­ert, wie religiöse Autoritäten fernab geläu­figer Insti­tu­tio­nen entste­hen. In einem Forschungsver­bund mit Infor­matik­ern wer­den große Daten­men­gen aus christlichen und mus­lim­is­chen Online-Foren aus­gew­ertet. Die neue ‚Veror­tung‘ von Reli­gion bed­ingt, ganz im Sinne der Kon­ferenz, auch neue Meth­o­d­en der Forschung.
Inter­es­sant für den Schu­lun­ter­richt ist Elw­erts Beobach­tung, dass die vornehm­lich “neo-kon­ser­v­a­tiv­en“ Foren, die unter­sucht wer­den, Gemein­samkeit­en aufweisen in Bezug auf die The­men, die Jugendliche „religiös bewe­gen“. Oft find­en Jugendliche gle­iche Antworten auf zen­trale Fra­gen, ganz gle­ich, ob dies in einem christlichen oder mus­lim­is­chen Kon­text geschieht, und kön­nen selb­st religiöse Autorität entwick­eln. Für Elw­ert wäre es deshalb wichtig im Unter­richt an die Lebenswirk­lichkeit der Jugendlichen anzuschließen, sie ‚abzu­holen‘ (man bemerke hier den Kon­trast zur Ein­schätzung von Peter Schüz). Darüber hin­aus gilt auch für Elw­ert die Devise: Reli­gion­skunde sollte vor allem die Vielfalt inner­halb von Reli­gio­nen, als auch die Gemein­samkeit­en dazwis­chen abbilden.

Mit Blick auf die Prax­is lässt sich dur­chaus bestäti­gen, dass diese Devise mit­tler­weile beherzigt wird. Den­noch sind Meth­o­d­en und Inhalte des notwendi­gen Reli­gionsver­gle­ichs nicht immer im Sinne der Reli­gion­swis­senschaft: Ver­gle­iche, die sich das Aufdeck­en von Gemein­samkeit­en als Ziel set­zen, kön­nen zu ‚Arte­fak­ten‘ führen, zu ein­er kon­stru­ierten Gle­ich­w­er­tigkeit, z.B. als eine in allen ‚Wel­tre­li­gio­nen‘ vorhan­dene ‚gold­ene Regel‘. Wird Vielfalt hinge­gen inner­halb ein­er Wel­tre­li­gion gesucht, dann fall­en ‚Prob­lemkan­di­dat­en‘, wie zum Beispiel weltverneinende evan­ge­likale Bewe­gun­gen inner­halb des reformierten und protes­tantis­chen Chris­ten­tums, aus dem Blick­feld.

Von allen Teild­iszi­plinen der Reli­gions­forschung kor­re­spondiert die Eth­nolo­gie wohl am meis­ten mit dem Mot­to der Tagung, und das nicht auf­grund eines neueren mate­r­i­al turn, son­dern dank der für die Diszi­plin typ­is­chen Meth­o­d­en und Per­spek­tiv­en. Mate­ri­al­ität und Medi­en waren immer schon Felder ethno­graphis­ch­er Aufmerk­samkeit. Reli­gion wird hier aber auch schlichtweg anders verortet, z.B. gän­zlich einge­bet­tet im Konzept Eth­nie oder inner­halb des Gesamt­phänomens sozialer Kog­ni­tion.

So definiert Prof Dr. Man­ja Stephan-Emm­rich (frei nach der Keynote von Bir­git Mey­er), Reli­gion als „materiellen Ver­mit­tlung­sprozess“, der empirisch beobachtet wer­den kann. Am Insti­tut für Asien- und Afrikawis­senschaften der HU Berlin forscht sie zu tran­sre­gionalem Islam in Tad­schik­istan und der ara­bis­chen Gol­fre­gion. Konkret geht es in ihrem aktuellen Pro­jekt um das Phänomen der Ver­schränkung von Arbeits- und Bil­dungsmi­gra­tion mit mus­lim­is­chen Fröm­migkeit­spro­jek­ten. „Mus­lim­is­che Mobil­itäten“ ist dabei ein Selb­stkonzept tad­schikisch­er Arbeitsmigrant*innen im ara­bis­chen Raum. Dieses hil­ft, ana­lytisch neue Per­spek­tiv­en auf die Diver­sität und Dynamik inner­halb des Islams, aber auch des Chris­ten­tums zu erken­nen, sowie den steten Prozess der Inter­ak­tion und des Aus­tausches dieser Tra­di­tio­nen in ihrer glob­alen wie lokalen Dimen­sion nachzuze­ich­nen. Im Reli­gion­sun­ter­richt, so Stephan-Emm­rich, sollte ger­ade diese „tran­sre­gionale Ver­flech­tungs­geschichte“ sicht­bar gemacht wer­den.

Tat­säch­lich wären den geis­teswis­senschaftlichen Unter­richts­fäch­ern mehr Impulse aus der Eth­nolo­gie und Anthro­polo­gie zu wün­schen, lei­der kom­men let­ztere als Bezugs­diszi­plinen erst in den Ober­stufensem­inaren zum Tra­gen. Der Aspekt der „Ver­flech­tungs­geschichte“ wird par­tiell auch für die Mit­tel­stufe als Lehrin­halt auf­bere­it­et, ins­beson­dere durch neue Impulse aus der ‚glob­alen Bil­dung‘, die als fächerüber­greifende Kom­po­nente aber oft nur spo­radisch über externe Träger ermöglicht wird.

Doch let­ztlich geht es Stephan-Emm­rich wohl um das Einüben des eth­nol­o­gis­chen Blicks auch und vor allem für das Deuten der eige­nen Lebenswelt. Sie sieht Eth­nolo­gie als „Werkzeug um die Welt zu ver­ste­hen und zwar so, wie sie Andere wahrnehmen“. Stephan-Emm­rich spricht hier von einem wertvollen „skill“ zur Lebens­gestal­tung – in dieser Weise kom­pe­ten­z­nah for­muliert, kön­nte es schon fasst im Lehrplan eines solchen Fach­es ste­hen, auch für die Mit­tel­stufe.

Fazit

Auch wenn es ein völ­lig vor­ein­genommenes Urteil ist: Religionswissenschaftler*innen sind sprach­fähige Reli­gion­serk­lär­er. Es ist die ganz spez­i­fis­che Art und Weise über Reli­gion zu sprechen, die für Schü­lerin­nen und Schüler bere­its eine über­raschende Ler­nan­forderung in sich birgt. Denn die Reli­gions­forschung entspringt ger­ade nicht, wie von den meis­ten antizip­iert, aus ein­er ‚Suche nach Gott oder dem Göt­tlichen‘, son­dern stellt Fra­gen nach dem Men­schen in sozialen, materiellen und ökol­o­gis­chen Gefü­gen. Dabei geht es bei weit­em um mehr als um Nor­men und Werte – und darin liegt bere­its eine weit­ere wertvolle Ler­nan­forderung. Reli­giosität ist wed­er ein Garant für Gut­mütigkeit, noch lassen sich religiöse Phänomene auf Ethik reduzieren. Ein Rest­be­stand bleibt, der nun geschichtlich, sozi­ol­o­gisch, kul­tur- oder sprach­wis­senschaftlich entschlüs­selt wer­den muss. Dafür ist ger­ade die Inter­diszi­pli­nar­ität von Nöten, auf der sich die Reli­gion­swis­senschaft grün­det.

Darüber hin­aus hin­ter­fragt die Reli­gion­swis­senschaft ihre Begrif­flichkeit­en stets aufs Neue. Sie betreibt dabei einen gefährlichen (?) Diskurs über die eigene Legit­i­ma­tion inner­halb ein­er Forschungs­land­schaft, die immer mehr den Anforderun­gen eines enthemmten Wis­sens­mark­tes genü­gen muss. Es ist berechtigt zu fra­gen, ob eine krisen­geschüt­telte Wis­senschaft über­haupt für die Schule ele­men­tarisiert wer­den kann und soll. Aus dem Gesamtk­lang der hier vor­liegen­den Beiträge meine ich aber ein deut­lich­es Sendungs­be­wusst­sein her­aus­ge­hört zu haben. Reli­gion­swis­senschaftlich­es Ver­ste­hen ist wichtig für die Gesellschaft. Die Insti­tu­tion Schule kann dieses Ver­ste­hen zugängig machen, es mul­ti­plizieren. Ob das Fach Reli­gion­skunde nicht nur auf Wis­sens- und Deu­tungsebene Kom­pe­ten­zen fördert – son­dern aus dem Unter­richt let­ztlich auch lebens­gestal­ter­ische Kom­pe­ten­zen fol­gen kön­nen und müssen, wird sich in zukün­ftiger Fachen­twick­lung zeigen.

Irene Diet­zel

Literatur

Alberts, Wan­da. (2012). Inte­gra­tive Reli­gious Edu­ca­tion in Europe: A Study-of-Reli­gions Approach. DeGruyter Ver­lag. 2. Auflage.
Brock­er, Man­fred; Behr, Hart­mut u. Hilde­brandt, Math­ias (2003). Reli­gion — Staat — Poli­tik: Zur Rolle der Reli­gion in der nationalen und inter­na­tionalen Poli­tik. Wies­baden: West­deutsch­er Ver­lag.
Ken­ngott, Eva-Maria; Englert, Rudolf u. Knauth, Thorsten (2015). Kon­fes­sionell — interreligiös — reli­gion­skundlich: Unter­richtsmod­elle in der Diskus­sion. Kohlham­mer Ver­lag.
Wels, Nico­lett (2015), „Welche Anforderun­gen stellt die religiös-weltan­schauliche Neu­tral­ität an den Unter­richt des Fach­es Lebens­gestal­tung-Ethik-Reli­gion­skunde?“ in: Ken­ngott et al. (2015). Kon­fes­sionell — interreligiös — reli­gion­skundlich: Unter­richtsmod­elle in der Diskus­sion. Kohlham­mer Ver­lag.

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