Im “Freitag” finden sich aktuell zwei Beiträge zum Berliner Neutralitätsgesetz. Auf die Startseite als Empfehlung aus der Community geheftet wurde “Die Krux mit der Religion” von David Danys (24. Mai). Die Parteilinie der Linken in Berlin wolle für “Säkulare und gemäßigte Muslime und Muslima wie Atheisten und Atheistinnen mit islamischem Hintergrund, Vorkämpfer und Vorkämpferinnen einer emanzipierten Kultur in muslimisch geprägten Sphären” nicht das Wort ergreifen, sondern paktiere mit ihren islamistischen Unterdrückern. Daneben bzw. weiter oben steht der Beitrag von Cornelia Möhring und Christine Buchholz, “Gegen jeden Zwang – Das Berliner Neutralitätsgesetz beruht auf Vorurteilen, es macht Muslimas das Leben schwer”, ein redaktioneller Beitrag vom 28. Mai. Der Zwang, ein Kopftuch zu tragen, sei ebenso abzulehnen wie der Zwang, es abzusetzen. Dem ersten Beitrag nicht gänzlich unähnlich in der Argumentationsweise erschien ein Beitrag von Michael Schmidt-Salomon im Humanistischen Pressedienst, “Marx macht mobil. Der Marx-Hype in Trier und die linke Aversion gegen Religionskritik”, bereits am 8. Mai. Der Autor ist Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung, die “keine ‘atheistische’, sondern – wie die meisten führenden Wissenschaftler heute – eine ‘naturalistische’ Position” vertrete, “[d]as heißt: Wir gehen davon aus, dass es im Universum ‘mit rechten Dingen zugeht’, dass weder Götter noch Geister noch Kobolde oder Dämonen in die Naturgesetze eingreifen”. Wie der letzgenannte Beitrag zeigt, geht es hier nicht allein um eine spezifische Diskussion eines besonderen politischen Milieus. Dennoch ist diese scheinbar paradoxe Situation möglicherweise auflösbar.

“In der Frage, ob Lehrkräfte während des Unterrichts bhagwan-typische Kleidung tragen dürfen, war es bereits in den 1980er Jahren zu einer Reihe von Rechtskonflikten gekommen, die sämtlich auf Verbote hinausliefen; vgl. OVG Hamburg, Bs I 171/84, Beschluss vom 26.11.1984; BayVGH 3 CS 85 A/1338, Beschluss vom 9.9.1985; bestätigt durch BVerwG 2 B 92.87, Beschluss vom 8.3.1988” (Astrid Reuter: Religion in der verrechtlichten Gesellschaft, 2014, S. 168, Anm. 69). Das Bild zeigt einen sogenannten Drive-By des Osho Rajneesh in Rajneeshpuram, Oregon (USA), Sommer 1982. Die Neo-Sanyas oder Bhagwan-Bewegung sind eine neue religiöse Bewegung mit insbesondere reformhinduistischem Hintergrund.
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1. Der Versuch eines Überblicks
Bei Möhring und Buchholz wird dann auch gefragt, ob Frauen “durch das Kopftuchtragen” unterdrückt werden. Und ein Teil der Antwort sei hier wiedergegeben:
Die Befürworterinnen und Befürworter des Neutralitätsgesetzes sehen im Kopftuch „eine bejahende Haltung zu einer bestimmten Auslegung des Korans“. Der Glaube, dass es vor allem konservative Frauen seien, die ein Kopftuch tragen, ist ein Vorurteil. Der Soziologe Albert Scherr kommt in einer Diskriminierungsstudie zu dem Schluss: „Es ist keineswegs klar, in welchem Sinn das Tragen des Kopftuchs Ausdruck der Akzeptanz eines traditionellen Geschlechterverständnisses ist, oder aber gerade Ausdruck einer selbstbewussten und selbstbestimmten Haltung muslimischer Mädchen und Frauen in der Einwanderungsgesellschaft.“ Auch die vor drei Jahren verstorbene Psychologin Birgit Rommelspacher kritisierte, dass das Kopftuch im Westen schon frühzeitig durch die koloniale Brille betrachtet wurde und als Zeichen der Rückständigkeit und Unterdrückung galt.
Wohlgemerkt, das Zitat ist keine vollständige Wiedergabe des Abschnittes, der diese Frage beantwortet. Demgegenüber steht, im Beitrag von Danys, zweierlei:
Das Kopftuchgebot selbst lässt sich nicht aus dem Koran ableiten, sondern ist eine von einigen islamischen Religionsvertretern übernommene und religiös instrumentalisierte kulturelle Tradition archaisch-patriarchaler Verhälnisse. Eine Fatwa, also das bindende Urteil eines hochrangigen Geistlichen, die das Tragen unter allen Umständen vorschreibt, existiert bis heuer nicht. […]
Die Wahlfreiheit und Selbstbestimmung der einzelnen Schüler und Schülerinnen und ihre Entwicklung dazu wird empfindlich gestört, wenn sich eine Lehrperson als vom Staat eingesetzte Autorität und persönliches Vorbild für Mädchen und Jungen nicht entsprechend neutral verhält. Die Rechte und Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler in ihrer Gesamtheit sind, unangesehen ihrer Herkunft, in diesem Fall höher zu bewerten als die individuellen ihrer Lehrer.
Und ähnlich sähen sich die im eingangs zitierten Vorwurf an die Linken in Berlin Genannten “in Flüchtlingsheimen, auf der Straße und selbst in der Schule schutzlos Ausgrenzung und Anfeindungen als ‘Häretiker’ und ‘Verräter*innen’ gegenüber”. Bei Schmidt-Salomon wiederum “verbünden” Linke sich “mit Islamisten, die sie als ‘Anti-Imperialisten’ fehldeuten”. Er paraphrasiert eine Rede des SPD-Politikers Jürgen Neffe, der die SPD “öffnen” will, “vor allem auch für diejenigen, die dem (politischen) Islam kritisch gegenüberstehen, was man keineswegs reflexartig als eine Form von ‘Rassismus’ interpretieren dürfe”. Schmidt-Salomon kommt zu dem Ergebnis: “Tatsächlich meidet die SPD die Religionskritik so sehr wie der sprichwörtliche Teufel das Weihwasser!”. Allerdings unabhängig von dem, was darauf alles Nachvollziehbares über globale Entwicklungen oder die nationalistische Internationale gesagt wird, konkreter – das heißt: eine weitere Andeutung liefernd – ist nur noch folgende Stelle: “Wer angesichts dieser brandgefährlichen historischen Situation Religionskritik ausspart, ja sogar negativ sanktioniert, beweist damit nur, dass er (oder sie) ein unterkomplexes Weltbild besitzt und die Brisanz der gegenwärtigen weltpolitischen Lage nicht einmal ansatzweise einzuschätzen vermag.” An dieser Stelle wird offensichtlich mit der “negativen Sanktion” auf die zuvor zitierte Neffe-Stelle Bezug genommen.
Damit sei grob sozusagen die Ausgangslage des Diskurses skizziert bzw. so etwas wie sein Drehpunkt. Der Beitrag aus dem Humanistischen Pressedienst hat dabei keinen direkten Bezug zur Berliner Debatte, er schildert eine Veranstaltung in Trier zum Gedenken an Karl Marx. Und wie in dessen Kommunistischen Manifest geht ein Gespenst um, denn – Linke hin, SPD her – der Soziologe Albert Scherr oder die Psychologin Birgit Rommelspacher zeigen, dass es offensichtlich auch wissenschaftliche Gründe gibt, Einwände auszusprechen. An die Stelle wissenschaftlicher Gründe tritt auf der Gegenseite oft eine seltsame Art von Hobby-Theologie (nicht nur, aber in dieser Debatte insbesondere) des Islam, die aber in der Weise folgerichtig ist, als dass sie den Verfahren der säkularen Islamwissenschaft und – mit anderem Akzent – der islamischen Theologien folgen und insbesondere Koranwissenschaft betreiben. Religionskritik wiederum könnte von einer Revision solcher Argumentationen profitieren.

Wikipedia: “Cultural Marxism (Kulturmarxismus) ist ein politisches Schlagwort der US-amerikanischen neuen Rechten, das eine angebliche Verschwörung der ‘Linken’ beschreibt”. Die Abbildung zeigt eine Google-Bild-Suche vom 6. Juni 2018, Suchwort “Kulturmarxismus”. Insbesondere Regenbogenfarben werden als Symbolik kopiert, seltener Zeichen der Antifa oder der Sowjetunion. Thematisch assoziiert werden “Political Correctness”, die “Kernspaltung” der traditionellen Familie, Feminismus, Islamismus, Adorno und die Frankfurter Schule sowie der Terrorist Breivik.
2. Mehr Religionswissenschaft wagen? Islambilder und Religionskritik
Es lassen sich zwei Bereiche herausarbeiten, welche für Religionswissenschaftler*innen interessante Forschungsgebiete sein könnten. Das eine wäre eine historische Sichtung religionskritischer Traditionen. Was für Christentümer werden da entworfen? Wie theologisch ist die Kritik argumentativ? Welche Rolle spielen die Bibel oder andere Texte? Werden eher Institutionen oder religiöse Experten – der “Pfaffe” – angesprochen oder eine religiöse Verfasstheit der einfachen Bevölkerung? Wie ist in diesem Kontext diejenige “Religionskritik” gegenüber nicht-christlichen Religionen in den Kolonien zu beurteilen, welche aufgeklärt dort mit den christlichen Missionaren “paktierte”?
Entsprechend gilt es eben mit den Islambildern aufzuräumen. Oder mit denen vom Christentum, um aus Herrmann Ruttmanns REMID-Publikation über “Entstehung, Sozialgeschichte und Gegenwart einer Familie von Konfessionen” (2006) zu zitieren:
Es liegt mir fern, eine idealtypische Religion des Christentums zu zeichnen, die sich beispielsweise am römischen Katholizismus und dem lutherischen Protestantismus orientiert. Zu leicht werden dadurch Gemeinschaften, welche die vorherrschenden Interpretationen nicht teilen, zu defizitären oder ketzerischen Gruppen herabgestuft (S. 5).
Denn genau das wird häufig betrieben, in der Kritik des Christentums wie in der des Islam, es wird eine idealtypische Religion gezeichnet, und der Exegese kommt dabei eine besondere Rolle zu. Die “vorherrschenden Interpretationen” sind aber auch hier gemeinschaftsgebunden, ihr Verhältnis zu heiligen Texten ist ein religionswissenschaftliches Forschungsdesiderat, aber nicht aus diesen Texten herleitbar. Im Umkehrschluss kann also auch nicht aus dem Text geschlossen werden, ob eine Praxis religiös “legitimiert” sei oder etwas anderes repräsentiere.
Allerdings gibt es in der Tat eine Besonderung, im Islam ist Bidʿa, die religiöse Neuerung, vorsichtig ausgedrückt umstritten. Gerade mit Hilfe der Bidʿa-Ächtung verkauft sich der wahabitisch bzw. salafistisch geprägte Islam eben als “die wahre Religion” gegenüber einem “herkömmlichen” (verfälschten) Islam [Nachtrag 26.6.: Es gibt und gab aber auch Schulen, welche eine gute religiöse Neuerung, Bidʿa, kennen]. Und insofern begegnet etwa ein liberal-islamischer Beitrag diesem Bidʿa-Vorwurf bezüglich der Frage von Frauen als Vorbeterinnen gemischt-geschlechtlicher Gruppen und als Imaminnen ebenfalls mit einer Geste des Verwerfens verfälschender Tradition:
Im Koran selbst steht nicht, dass eine Frau das (Freitags-) Gebet nicht anleiten darf. Auch in den Überlieferungen finden sich nur bedingt Beweise dagegen, sondern vielmehr dafür, da es diese Möglichkeit schon zu Zeiten des Propheten Muhammad saw gab, nur über die Jahrhunderte durch patriarchalisches Denken in der Versenkung landete, jedoch jetzt von selbständigen und emanzipierten Frauen ausgegraben und öffentlich ausgelebt wird. (Infopoint Islam Bremen, “Caroline”, Februar 2017).
Genausowenig wie christliche Gruppen zu “defizitären oder ketzerischen” zu erklären, kann eine Religionswissenschaft weder den Gesten der Verwerfung verfälschender Traditionen noch den entsprechenden Bidʿa-Vorwürfen eines wie auch immer konkretisierten “herkömmlichen” Islam folgen – etwa im Offenen Brief an al-Baghdadi (2014?), seit 2010 Anführer der dschihadistisch-salafistischen Terrororganisation “Islamischer Staat”, “von über 120 islamischen Gelehrten weltweit” bzw. “signed by numerous Muslim theologians, lawmakers and community leaders”, der mit 24 Punkten schliesst, die meistens mit “Es ist verboten im Islam” beginnen, man siehe aber auch: “11. It is obligatory to consider Yazidis as People of the Scripture”.
Und das Erforschen der innerislamischen Vielfalt wird erschwert dadurch, dass eben gerade kein konfessionales Selbstverständnis vorliegt, bei dem ehedem Konzilien und später Reformationsakte dem Bekenntnis eine zentrale Rolle in der Differenzierung auch unter Gläubigen zuwiesen. Die schismatische Frage nach der Nachfolge Muhammads, die Differenz zwischen Sunniten und Schiiten, die wahabitisch-salafistische Ablehnung des Sufismus – das alles ändert wenig daran, dass es im Diskurs auch innerhalb des Islam eben eher um eine Bezugnahme auf einen Islam im Singular geht, anstelle von konfessionalen Bekenntnissen im Sinne von “Ich bin… evangelikal, adventistisch, katholisch oder anglikanisch”. Oder auch Angaben von Bezugnahmen auf bestimmte Lehrer*innen stehen zumindest in der öffentlichen Debatte im Hintergrund. Mehr noch: So wie konkrete Religionsgemeinschaften, ihre faktisch spezifischen Abgrenzungen und ihre “Ökumene” beim Islam erst im Feld empirisch eruiert und also durch die Forschung “konstruiert” werden müssen, so muss dem Umstand Rechnung getragen werden, was mit Religiosität in der Diaspora geschieht, wo sie ohne Kontakt zu Gemeinschaften fortbesteht und wie sie sich dann als identitätsstiftender Moment wiederum “religionsproduktiv” verselbständigen kann, also sich zu etwas Neuem entwickelt.
3. Traditionsfamilien und der Radikalitätsvergleich
Hinzukommt, dass die Beschreibungen islamistischer Gemeinschaften durch den Verfassungsschutz oder ähnliche Einrichtungen im Diskurs dominieren, allerdings ohne dass diese bereits solchen Ansprüchen an Forschung genügen würden. Der Islamismus-Begriff ist dabei vielleicht tatsächlich besser durch z.B. “religiösen Fundamentalismus” bei bestimmten Gruppierungen zu ersetzen, allerdings nicht, weil im Begriff des “Islamismus” “der Islam” assoziativ in eine ideologische Nähe zum Terror rücke (vgl. “Muslime fordern Begriffsänderung”, Islamiq, 2015), sondern weil durch die Extremismus-Perspektive der Sicherheitsakteure zwar korrekt “politische Extremist*innen” mit religiösem Hintergrund gelistet (und beobachtet) werden, aber diese nur dadurch “interessant” werden, dass ihnen ein Sicherheitsrisiko zugeschrieben wird. Daraus einen “religiösen Extremismus” abzuleiten, wie z.B. bei Alexander Kühn im Interview zu christlichem Extremismus (2017), vergrößert unweigerlich den Radius. Und es geht auf einmmal auch um Dinge, welche den Verfassungsschutz nicht grundsätzlich interessieren wie Genderrollen oder Homophobie, konservative Werte. Allerdings ist es auch nicht hilfreich, diese Lücken des Islamismus-Begriffes dann mit Klischees aus der Sektendebatte aufzufüllen, also eben diese Gruppen “wie Sekten” – also in Versammlung aller denkbaren Probleme – zu beschreiben, auch wenn sie sicherlich strukturell Aspekte neureligiöser Bewegungen haben. Am Ende wird “Islamismus” zum Sammelbegriff aller denkbaren Probleme, wie sie mit islamisch geprägten Ländern assoziiert werden können, einschließlich der Beschneidung von Mädchen, aber auch von Jungen, “Ehrenmord” und “Scharia” (wobei Familientragödien und Frauenbeschneidung in ihren Regionen nicht nur bei Muslimen vorkommen). Diese Unschärfe ist problematisch.
Trotzdem ist mit dem Wechsel auf “religiösen Fundamentalismus” auch die Perspektive verschoben. Auch Schmidt-Salomon bevorzugt diesen Ausdruck gegenüber dem ebenfalls problematischen des “politischen Islam”, der in seiner Neffe-Paraphrase Verwendung fand. Allerdings verbleiben diese Ausdrücke, “religiöser Fundamentalismus”, “Islamismus”, “(politischer) Islam”, ohne innere Differenzierung dabei synonym. Mehr noch, durch die wahrscheinlich von Schmidt-Salomon gesetzten Klammern in der Wiedergabe des SPD-Politikers, ist eine Ausweitung auf den Islam “als Ganzen” als Möglichkeit in Aussicht gestellt.
Zumal diese drei “Zugänge” auch in Bezug auf das Christentum nicht einfach zu trennen wären. Während in diversen Konzepten innerhalb von Freikirchen und Sondergemeinschaften, aber auch darüber hinaus, in katholischen geistlichen Gemeinschaften o.ä, “religiöser Fundamentalismus” durchaus ein erprobter Forschungsgegenstand ist (vgl. z.B. das Interview zum Handbuch Evangelikalismus, das es jetzt auch bei der Bundeszentrale für politische Bildung zu einem günstigen Preis zu kaufen gibt), wäre ein “politisches Christentum” eher ein Forschungsdesiderat. Die aktuelle PEW-Studie über “Christ sein in Westeuropa” kommt u.a. zu dem Ergebnis, dass “[n]icht praktizierende Christen […] weniger als praktizierende Christen dazu [neigen], nationalistische Einstellungen zu vertreten. Trotzdem sagen sie eher als Konfessionslose, dass ihre Kultur anderen Kulturen überlegen ist und dass es notwendig ist, die nationale Abstammung eines Landes zu haben, um die nationale Identität dieses Landes teilen zu können”. Geht es allerdings um konkrete religiöse Gemeinschaften, ist es in Deutschland eher die Ausnahme und auf Kleinstgruppen beschränkt, dass ein politisiertes Christentum das Gemeinschaftsverständnis prägt – oder darüber hinaus – sogar einem politischen Extremismus mit religiösem Hintergrund zugerechnet werden könnte:
Da gibt es die „Anglican Catholic Diocese of Christ the Redeemer“ (Frederick Haas; Baden-Baden und Malta), deren Bischof u.a. auf dem Parteitag der AfD auftritt und die erklärt, von einer „Anglican Province of Christ the Saviour“ oder einer „Anglican Episcopal Church of Chile“ abzuhängen. Ferner gab es die Kollegen der vom NSU getöteten Michelle Kiesewetter, die Mitglieder des deutschen Ablegers des Ku-Klux-Klans waren. Oder es gibt den „Ordo Militae Crucis Templi“ in Baden-Württemberg. Der veröffentlichte 2007 im Internet die „Ratzeburger Erklärung“. Darin verpflichtet man sich, „die abendländisch christliche Kulturgemeinschaft zu verteidigen“. (Wagenseil in: Kühn-Interview)
Andererseits ist der bloß identitätsbezogene Rückgriff auf das Christentum durch z.B. die rechtsextreme Identitäre Bewegung entsprechenden islamistischen Gesten vergleichbar. Und es fällt dabei schwer, die Identitäre Bewegung oder ähnliche Akteure unter “religiösem Fundamentalismus” zu verorten, auch wenn sie ebenfalls traditionelle Genderrollen, Homophobie und konservative Werte propagieren. Diese Gruppierungen fehlen bewusst in den Religionsstatistiken. Es sind auch weniger Übereinstimmungen als beim im Zitat genannten Ku-Klux-Klan oder bei den doch mit deutlicherem religiösen Bezug daherkommenden “Knights Templar Europe” bzw. “Arme Gefährten Christi von Salomons Tempel (PCCTS)”, welche kurzzeitig um den Rechtsterroristen Anders Behring Breivik bestanden. Zumal – gäbe es aktuelle Zweigstellen und vor allem Schätzungen ihrer Größe in Deutschland – wo sollte man diese Gruppen einfügen? Der KKK versteht sich zwar als radikal protestantisch und betrieb auch Agitation gegen “Katholiken”, andererseits die lose Orientierung an Ritterbünden, Ränge wie “Grand Wizard”, das Fehlen einer eigenen religiösen Praxis ließen sich gegen eine solche Einteilung ins Feld führen. Mit “Tempelrittern” wird eher eine Kategorisierung als (von Rom getrennter) Katholizismus naheliegend. Allerdings auch der im Zitat erwähnte “Ordo Militae Crucis Templi” (OMCT Tempelherrenorden – deutsches Priorat e.V.) leiht sich seine “Authentizität” mittels des “geistlichen Protektorat[s] S.E. Seligkeit des griechisch-katholisch-melkitischen Patriarchen von Antiochien, dem ganzen Orient, von Alexandrien und Jerusalem in Gemeinschaft mit Rom” (Mitgliederzahlen Katholizismus). Andere Bezüge lassen sich über gnostisch-okkulte Gruppen herstellen.

Darstellung eines historischen Tempelritters im Museum (Duinenabdij, Koksijde, Belgium). Der historische Templerorden wurde 1312 aufgelöst, aber es gibt Mythen über einen Fortbestand im Geheimen. Etwa gibt es in den Hochgradsystemen und Legenden der Freimaurerei ab dem 18. Jahrhundert entsprechende Rezeptionsformen eines Templer-Mythos. Sein voller Name lautete Arme Ritterschaft Christi und des salomonischen Tempels zu Jerusalem.
Bild von JoJan unter Creative-Commons-Lizenz CC BY 3.0.
Und um noch ein islamisches Beispiel anzubringen: Die Einstufung der Islamischen Gemeinde in Deutschland (IGD) als der Muslimbruderschaft nahe durch den Verfassungsschutz findet heute ihren Kommentar auf der Webseite des Verbandes:
Die Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V. wurde 1958 unter anderem auch durch islamische Persönlichkeiten aus dem Umfeld der Muslimbruderschaft die aus verschiedenen arabischen und islamischen Ländern nach Deutschland gekommen sind, gegründet.
Nichtsdestotrotz war und ist die IGD keine Institution, die eine organische oder organisatorische Bindung mit islamischen Bewegungen in der islamischen Welt unterhalten hat oder unterhält.
Die IGD und deren Mitglieder setzen sich seit Jahren differenziert mit dem Gedankengut des Islams und den islamischen Bewegungen auseinander und interpretieren den Islam entsprechend des jeweiligen Zeit- und Raumkontext für sich neu.
Aufgrund der zahlreichen Verweise auf die Muslimbruderschaft und die angeblichen Verstrickungen der IGD zu ihr in den Medien und einigen Bewertungen von Sicherheitsbehörden, betonen wir an dieser Stelle explizit und unmissverständlich, dass wir kein Teil der Muslimbruderschaft waren und sind.
Unter “Vision” heißt es aktuell (5. Juni): “Wir, die Islamische Gemeinschaft in Deutschland (IGD), Gründungsmitglied der Federation of Islamic Organisations in Europe (FIOE) und des Zentralrats der Muslime in Deutschland (ZMD), verstehen uns als deutschsprachige Gemeinschaft von Muslimen in Deutschland mit der Aufgabe, das ‘Islamverständnis der Mitte’ bekannt zu machen”. Zwischen 2016 und 2017 stand an dieser Stelle noch: “Islamverständnis der Mitte (Al Wassatiyya)”. So wird es in der REMID-Islamstatistik zitiert. Spannenderweise ist das sogar in die “Islamcharta” des Zentralrats der Muslime aufgenommen worden:
Der Islam ist weder eine weltverneinende noch eine rein diesseits-bezogene Lehre, sondern ein Mittelweg zwischen beidem. Als auf Gott ausgerichtet ist der Muslim und die Muslima zwar theozentrisch; doch gesucht wird das Beste beider Welten. Daher ist der Islam Glaube, Ethik, soziale Ordnung und Lebensweise zugleich. Wo auch immer, sind Muslime dazu aufgerufen, im täglichen Leben aktiv dem Gemeinwohl zu dienen und mit Glaubensbrüdern und –schwestern in aller Welt solidarisch zu sein.
Al Wassatiyya allerdings gilt als “a term that many of the polically visible members of the Muslim Brotherhood [in Egypt] use to describe the movement” (Mariz Tadros: The Muslim Brotherhood in Contemporary Egypt, 2012, S. 16). Nach einer Quelle geht er auf Muḥammad ʿImāra, Theologe an der Azhar in Kairo, zurück: “Mohammed ʿImmara has advocated the Islamic middle path (al-wassatiyya al-islamiyya) claiming that this position would counterbalance the extrem exploitation in the Western capitalist world. The middle part according to ʿImmara attempts to create an equilibrium between religion and life (din wa dunya) and between spirit and matter (al-ruh wal-madda)” (Politics and Social Issues, اشكاليات السياسة والمجتمع في مصر المعاصرة, Cairo Papers in Social Science, Band 22, Ausgabe 4 von “Discourses in Contemporary Egypt: Politics and Social Issues, Discourses in Contemporary Egypt: Politics and Social Issues”, hrsg. von Enid Hill, 2000, S. 92). Friedmann Eißler schreibt zu dem Konzept für die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen 2010:
Der arabische Ausdruck Wasatiyya ist seit einigen Jahren insbesondere durch die Aktivitäten des aus Ägypten stammenden, in Qatar residierenden und weltbekannten Islamgelehrten Yusuf al-Qaradawi bekannt und vor allem inhaltlich geprägt worden (…). Er bedeutet Mittelweg oder Mainstream und bezieht sich auf unterschiedliche Ansätze, die eine muslimische Identität mit modernen Lebensformen in Einklang zu bringen suchen. Charakteristisch ist die Ablehnung von Extremismus wie von traditionalistischer Weltabgewandtheit bei gleichzeitiger Betonung eines konservativen Islam, der Schariagrundsätze als göttlich gegebene Lebensordnung auch in der modernen Gesellschaft umsetzen will.
Wer es radikaler mag, findet bei der Recherche auch oft die Formel, diese Mitte verstehe sich als zwischen den beiden Extremen des Terrorismus einerseits und der Aufgabe des Islam andererseits. Dieser Weg der “Mitte” ist jedenfalls wahrscheinlich einer der gewichtigsten Gründe für die Einstufung als “legalistischer” Islamismus bzw. Extremismus (sowie die Mitgliedschaft in der Föderation Islamischer Organisationen in Europa). Ab 1972 übernahm Umar at-Tilimsani die Führung der Muslimbruderschaft und propagierte den gewaltlosen Kampf. Trotzdem gibt es Terrorakte nach 1972, die den Muslimbrüdern zugeschrieben werden. Das “legalistische” Moment bezieht sich aber eher auf die Erfolge bei Wahlen in der arabischen Welt, im Sudan wurden 1983 durch entsprechende Parteiwahlerfolge strengere Gesetze und Strafen eingeführt [Nachtrag 26.06.: Ursprünglich stand an dieser Stelle missverständlich “Scharia”; Anm. C.W.]. Die palästinensische Hamas gilt als ein Ableger. Daher ist die antidemokratische Dimension auch greifbarer als die Vorstellungen des kommenden “Königreichs” der Zeugen Jehovas auf Erden.

DuckDuckGo-Videosuche nach “Yusuf al-Qaradawi” (6. Juni 2018): Mit jetzt nicht geprüften übersetzten Passagen von öffentlichen Reden al-Qaradawis versuchen Akteure nachzuweisen, dass er gesagt haben soll, dass “Killing of Apostates Is Essential”, “Islam Muslims will conquer and rule Europe”, aber auch – im Beitrag “on Christmas” (2009) – “Islam wants us to maintain our Islamic uniqueness” (1:37).
Warum der Zentralrat der Muslime nicht selbst im Verfassungsschutzbericht entsprechend verortet wird, wo auch hier dieses Selbstverständnis der Mitte scheinbar übernommen wurde und manche Forscher eine solche Einstufung und eine andere Politik des Umgangs empfehlen (z.B. Lennart Biskup, Saudi-Arabiens radikalisierender Einfluss auf Deutschlands Muslime, 2017, oder andere Publikationen des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam), ist mir nicht bekannt. Allerdings sei auch nochmal ins Gedächtnis gerufen, dass es kein konfessionelles Bewusstsein im Islam gibt (zumindest im oben beschriebenen Sinne einer Ausdifferenzierung innerhalb der deutschen Debatte), dass Neuerungen eher verpönt sind und dass es hier um utopische Fantasien geht, deren potenzielle Verwirklichung noch einmal eine andere Frage darstellt. Und natürlich, dass dieses (wiederum “islamistische”) Beispiel gewählt wurde, da es mit wenigen Literaturrecherchen erläuterbar ist, ohne umständlich zunächst besondere empirische Feldarbeit betrieben zu haben. Auch die angesprochene Islamische Gemeinschaft in Deutschland ist damit noch lange nicht vollständig religionswissenschaftlich untersucht.
4. Religionskritik mal anders
Um das auf die eingangs zitierten Texte zurückzubeziehen, es ist also sehr wohl problematisch, eine besonders unscharf umrissene religiöse Minderheit zu kritisieren, wenn diese Unschärfe jede Grenze zwischen Institution und ethnisch-kultureller Zugehörigkeit verwischt und im zweiten Fall ist das dann eben Rassismus, insofern eine Rassismusdefinition zugrundeliegt, die entgegen einer bestimmten deutschen Verwendungsweise nicht rassentheoretisch sein muss. Dann ist die Diskriminierung aufgrund von ethnisch-kultureller Zugehörigkeit die Definition von Rassismus. Entsprechend ist kultureller “Chauvinismus” dann lediglich eine Spielart. Und Rassismus zu bezeichnen ist auch keine Frage der politischen Orientierung, sondern kann als Analyse einer Äußerung wahrscheinlich schon heute durch sogenannte KI-Programme erledigt werden.
Zugestanden ist dabei, dass diese Institutionalität, also die einer klassischen Religionskritik zugänglichen Institutionen und deren “religiöser Experten” – erst mit Expertise sichtbar gemacht werden muss. “Fundamentalismus” und “Rechtspopulismus” (das Politische eines “politischen Islam” eingeschlossen) können höchstens allgemein mit religiöser und politischer Bildung bedacht werden – oder einer entsprechend grundsätzlichen Kritik (von den im VS-Bericht islamistisch genannte Gruppen ist keine Partner eines Bundeslandes bei der Konzeption eines Religionsunterrichtes, allerdings ist der Zentralrat der Muslime in Nordrhein-Westfalen beteiligt, Stand 2011). Eine religiöse Bildung wiederum ist keine Aufgabe eines säkularen Staates, zumal in ihrem Konzept eine Wertigkeitsvorstellung von schlechterer und besserer Religiosität enthalten ist, welche weder religionswissenschaftlichen Neutralitätsideen entspräche, noch aus der Perspektive eines atheistischen oder naturalistischen Standpunktes Sinn macht.
Und noch weniger Sinn macht es, als säkulare(r) Religionskritiker*in ein Islamverständnis, einen eigenen Kommentar zu Heiligen Schriften, zu entwickeln, gleichsam als ob man einer extremistischen Splittergruppe bei der eigenen religiösen Herleitung (und dem Beweis, nicht eine Bidʿa, eine religiöse Neuerung, einzuführen) helfen wollte. Hier könnten religionskritische Traditionen sich stattdessen enttheologisieren und das Theologie-Treiben als religiöse Tätigkeit den Religionen überlassen (Theologie als religiöse Lehre im Unterschied zu religionswissenschaftlichen Analysen einer religiösen Lehre).
Schließlich, um doch noch einmal auf das Stichwort der “Mitte” zurückzukommen, muss bei den Fundamentalismus- und Rechtspopulismus-Aspekten gefragt werden, wie groß die Unterschiede zu Menschen ohne muslimischen “Hintergrund” bei bestimmten Fragen wirklich sind. Laut der Studie “Queeres Deutschland 2015” beantworteten 25,4% der Menschen mit Migrationshintergrund gegenüber 17,1% ohne das Item “Wenn der Betreuer / die Betreuerin meines Kindes in der Kita schwul / lesbisch wäre, wäre ich besorgt und hätte lieber einen anderen Betreuer / eine andere Betreuerin” zustimmend (S. 8). Damit wird auch möglich, “selbstbewusst” ein Kopftuch zu tragen, insofern die damit markierte Differenz eben milieu- bzw. kontextabhängig ist. Das Videoangebot zu Verschwörungsmythen und Antisemitismus auf Youtube ist zudem im Vergleich des muslimisch geprägten arabischsprachigen Angebots mit dem christlich, esoterisch oder säkular geprägten Angebot in deutscher Sprache gleichmächtig (vgl. die Interviews mit Michael Blume).

“Freedom of the World Report 2017: Seit elf Jahren in Folge wird die Welt autoritärer” (Netzpolitik, Markus Reuter, 1. Feb. 2017). Der Report kommt von Freedom House, einer internationalen Nichtregierungsorganisation (NGO) “mit Hauptsitz in Washington, D.C., deren Ziel es ist, liberale Demokratien weltweit zu fördern” (Wikipedia).
Link: Die Studie als PDF.
Sicherlich ist Schmidt-Salomon allerdings zuzustimmen, in der Gegenwart eine “brandgefährliche[.] historische[.] Situation” zu erkennen: “Man mache sich bewusst, wie Trump, Putin, Erdogan & Co. nationalen Chauvinismus und reaktionäre religiöse Werte miteinander verrühren, um ihre Herrschaft abzusichern”. Die Rolle der Religionskritik muss dabei allerdings deutlich eine andere sein, als diesem nationalen Chauvinismus entsprechend (scheinbar säkulare) Werte einzuschreiben. Und die Frage, ob nicht mindestens der von Schmidt-Salomon angeführte SPD-Politiker Jürgen Neffe solches im Sinn hatte, muss man sich zumindest stellen. Schmidt-Salomon oder die entsprechenden Institutionen der Konfessionsfreien wiederum sollten anerkennen, dass es auch eine “Instrumentalisierung” von “Religionskritik” als “konservativen” Wert einer nationalen Identität geben kann, dass also die Frage, wie sie die historische Situation entschärfen könnte, noch nicht völlig beantwortet ist. Und um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Auch der Autor dieser Zeilen glaubt, dass es eine wünschenswerte Zukunft nur mit Humanismus sowie Religions- und Autoritarismuskritik geben können wird.
Kris Wagenseil
Man vergleiche auch das Gespräch mit Verena Maske Islamkritik und Rassismus. Ein Briefwechsel über einen Essay von Ahmad Mansour (2016) sowie überhaupt unseren Themenschwerpunkt Islam.
Sehr geehrter Herr Wagenseil, ich finde Ihren Artikel etwas konfus. Teils ist unklar, ob Sie objektsprachliche Begriffsdefinitionen nutzen. Mich irritieren folgende Punkte: Sie nutzen das Konzept der islamischen Neuerung (bid’a) nur in der Bedeutung der Verfälschung. Daneben gibt es allerdings das Konzept der “guten bid’a (s. etwa https://de.wikipedia.org/wiki/Bid%CA%BFa), diese wird nur in salafitisch-wahabitischer Tradition nicht anerkannt. Problematisch finde ich Ihre Rede von “Einführung der Scharia”. Beim ersten Mal steht “Scharia” noch in Anführungszeichen, beim zweiten Mal sprechen Sie davon, dass sie im Sudan eingeführt worden sei. Was soll das heißen? Meinen Sie damit, dass islamisch-traditionelle Jurisprudenz ein europäisch-orientiertes Rechtssystem ersetzt habe? Meinen Sie eine bestimmte Rechtsschule? Sprechen Sie davon, dass hadd-Strafen ins bestehende Recht eingegliedert wurden? Der Begriff “Scharia” bedeutet traditionell nicht “Rechtssystem”. Er wird lediglich im popularen Sprachgebrauch sowie von Wahabiten, Salafiten und Islamgegnern so verwendet. Der Begriff bezeichnet eigentlich die “Gesetze Gottes” oder “Verpflichtungen gegenüber Gott”, also etwas sehr Abstraktes und Nicht-quantifizierbares. Gerade bei einem etwas populäreren religionswissenschaftlichen Format – dem Blog – finde ich es unerlässlich, Begriffe richtig zu gebrauchen, besonders wenn es um so umstrittene Themen wie islamisches Recht geht. Zudem hinken meiner Meinung nach Ihre Christentums-Vergleiche ein wenig.
Grüße von einer Religionswissenschaftsstudentin!
Danke für Ihre Hinweise! Ich habe zwei entsprechende Nachträge an die beiden Stellen gesetzt. Bei der zweiten Scharia-Stelle habe ich einfach unreflektiert aus einer Quelle abgeschrieben (manche Politikwissenschaftler*innen schreiben leider auch so). Bei bid’a hatte ich entsprechenden Artikel natürlich gelesen, allerdings bei ihm u.ä. Quellen (und weil selbst im Liberal-Islamischen Bund so argumentiert wird) den Eindruck, dass die gute bid’a eher eine Sache insbesondere historischer Fragestellungen sei. Ich lasse mich gerne eines Besseren belehren. Bei den Christentumsvergleichen geht es ja gerade darum, dass die Begriffe “hinken”.
Um das plastischer zu machen: der Beitrag aus dem Kontext des Liberal-Islamischen Bundes, der anzitiert wird, argumentiert nicht, dass Imaminnen eine gute bid’a seien, sondern sie gibt den schwarzen Peter des Traditionsverfälschens zurück an ihre Kritiker. Dass andere Neuerungen “seit dem Mittelalter” weiterhin im Allgemeinen akzeptiert werden mögen, ist weniger der Punkt, sondern eher wie der Begriff im aktuellen Diskurs um aktuelle Neuerungen Verwendung findet, gerade außerhalb salafitisch-wahabitischer Kreise. Dabei ist es ja durchaus möglich und wahrscheinlich, dass die eigentliche Breite der islamischen Traditionen gar nicht zur Geltung kommt.
Es gibt einen Erklärfilm der Bundeszentrale für politische Bildung: “Was bedeutet Bid’a?”:
Konkret genannte gute Neuerungen, bidʿa ḥasana, betreffen das Feiern von Muhammads Geburtstag, Heiligenverehrung, Minarette, Medresen und “Bücher, die es zur Zeit des Propheten noch nicht gab” (Kemper: Sufis und Gelehrte in Tatarien und Baschkirien, 1789-1889, 1998, S. 150), “Formen des ḏikr und tasbīḥ (Lobpreisung und Gebetsformeln)” etwa im Kontext des Sufismus (die zitierte Webseite beruft sich allerdings auf Said Nursi) oder die “Praxis, dass in manchen Moscheen und Gebetsstätten Haarsträhnen des Bartes oder der Haare des ehrenwerten Propheten (s.a.s.) ausgestellt werden”. Auch kann man der Ansicht sein, dass Bid’a nur Neuerungen mit religiösen Charakter bezeichne (genannt werden: Imām Mālik sowie die schāfiʿitischen Gelehrten al-Baihaqī, Ibn Ḥaǧar al-ʿAsqalānī und Ibn Ḥaǧar al-Haitamī, die hanafitischen Gelehrten Badr al-Dīn al-ʿAynī und Imam Birgivi und der hanbalitische Gelehrte Ibn Taymiyya).
Trotzdem kann man diskutieren, ob der bid’a-Begriff gerade eine andere diskursive Struktur erzeugt, wo die gute bid’a eher zögerliche Ausnahme bleibt, im Gegensatz z.B. zum Dogma-Begriff, der Dogmata nur nachträglich festschreiben kann und damit regelmäßig konfessionale Brüche hervorruft. Wichtig ist dabei auch, dass es eben gerade nicht um eine Bestimmung eines metaphysischen Wesens “des Islam” oder “des Christentums” gehen darf, sondern dass es lediglich um die Überlegung geht, wie bestimmte Konzepte innerreligiöse Diversifikation befördern oder erschweren könnten.
Danke für Ihre Recherche und die entsprechenden Änderungen im Text. Konkrete Beispiele für die (historische) Anwendung der “guten bid’a” kenne ich nicht. Mir ist es mehr als theoretisches Konzept begegnet, insbesondere um zu belegen, dass “im Islam” das Moment der Erneuerung und der Reform strukturell angelegt sei. Ich habe meine Unterlagen dazu durchgesehen und konnte leider keinen entsprechenden Verweis finden.
Offenbar gibt es mindestens 2 bid’a-Begriffe die Verwendung finden: zum Einen im theologischen Sinn, wo bid’a meist als Häresie eingestuft wird – das passt dann auch zu Ihren Ausführungen.
Dem gegenüber steht die Neuerung im Islamischen Recht – dieses ist anpassungsfähiger und kann über verschiedene Mittel (Analogieschluss, Konsens, Für-gut-Halten, etc.) auch Neuerungen aufnehmen (vgl. http://deacademic.com/dic.nsf/dewiki/169181 das ist noch eine alte Wikipedia-Version). Hierauf bezog sich auch mein Kommentar, dass nur salafitisches und wahabitisches Recht auf diese Elemente verzichten würden.
Ich kann nur von der Warte des traditionellen Islamischen Rechts her argumentieren, das heute weitesgehend keine Aktualität mehr erfährt. Thomas Bauer spricht in “Die Kultur der Ambiguität” von einer “Theologisierung” des Islams, bei der die vormals dominierende Rechtswissenschaft in den Hintergrund rückt und die Theologie(n) in den Vordergrund tritt. Damit wird es rund.
Danke für den Hinweis auf Thomas Bauers Buch. Ich habe mal für Mitleser*innen eine Rezension aus H-Soz-Kult rausgesucht: Florian Bernhardt 2012. Ich denke, meine Beispiele waren eher ‘theologischer’ Art. Allerdings würde ich vermuten, dass – wie das auch beim Christentum zu beobachten war – innere Diversifikation unterschiedlich motiviert war. Zumal selbst bestimmte Brüche, Entstehungen neuer Denominationen, durch mehrere Aspekte angeregt worden sein können. Und es dürften sich ja gerade unterschiedliche Strömungen innerhalb des sunnitischen Islams ausmachen lassen, obwohl das mit der bid’a dabei gerade nicht das Kriterium der Differenz ist (wobei es schon etwa sufistisch Beeinflusstes zu sondieren scheint). Das war Teil meines Anliegens, dass es Gründe gibt, warum Institutionalität (und Diversität) im Islam so schwer erkannt wird, dass also jene “Theologisierung” erst durch Forschung aufgearbeitet werden müsste, um Strömungen besser erkennen und benennen zu können (so dass eine Religionskritik sich auch an differenzierbaren Institutionen abarbeiten kann und nicht diffus Menschen einer religiösen Minderheit anspricht). Zugleich galt das Stichwort der “Enttheologisierung” der Religionskritik. Ähnlich wie bei einer Religionswissenschaft wäre es doch naheliegender, wenn sie sich gerade nicht für die wahre Interpretation eines sogenannten Heiligen Textes interessiert, sondern eben ausschließlich für die empirisch vorfindlichen religiösen Menschen und ihre Institutionen, die allerdings diverse Interpretationen solcher Texte produzieren. Da stimmen wir ja ehehin überein, dass ansonsten im Modus einer Religionskritik projektive monolithische Islambilder entstehen, wie sie letztlich den ‘Islamgegnern’ zuspielen.