Religion und (alternative) Ernährung: Vom ‚Kohlrabi-Apostel‘ zum ‚Bionade-Biedermeier‘

REMID inter­viewt Jörg Albrecht vom Graduiertenkol­leg “Religiös­er Nonkon­formis­mus und kul­turelle Dynamik” zum The­ma sein­er Dok­torar­beit “Vom ‚Kohlra­bi-Apos­tel‘ zum ‚Bion­ade-Bie­der­meier‘: Zur kul­turellen Dynamik Alter­na­tiv­er Ernährung”. Dabei ist nicht nur span­nend, dass er sich als Reli­gion­swis­senschaftler diesem Gegen­stand nähert, son­dern dass ger­ade an ein­er solchen Trans­fer­leis­tung deut­lich wird, was im Feld “the­ol­o­gis­chen” Debat­ten äquiv­a­lent wird, wenn das Feld reli­gion­swis­senschaftlich bear­beit­et wird, als ob es sich um religiöse Bewe­gun­gen han­dele. Das ist hier also method­ol­o­gisch zu ver­ste­hen und ger­ade nicht als entwer­tend gedachte Polemik gegen die “alter­na­tiv­en” For­men der Ernährung.

Gemälde “Du sollst nicht töten” (1903) des sym­bol­is­tis­chen Malers Karl Wil­helm Diefen­bach (* 1851 in Hadamar; † 1913 auf Capri), der als Sozial­re­former bzw. als Vor­bere­it­er von Leben­sre­form, Freikör­perkul­tur und Friedens­be­we­gung gese­hen wird — und von seinen Geg­n­ern wurde er als “Kohlra­bi-Apos­tel” beze­ich­net.


Unter anderem ste­ht als Mot­to vor dein­er Dok­torar­beit “Alles fließt” von Her­ak­lit, und ger­ade nicht das Mens sana in cor­pore sano aus den Satiren des Juve­nal (10,356; eigentl. “Beten sollte man darum, dass ein gesun­der Geist in einem gesun­den Kör­p­er sei“,  “[…] oran­dum est ut sit mens sana in cor­pore sano”). Wenn man sich das Kapi­tel über “ ‘Voll­w­ertkost’ für den gesun­den und autarken ‘Volk­skör­p­er’ (1933–1945)” anschaut, der erste Unter­ti­tel spricht gar von “Nazikost”, wird vielle­icht auch klar warum. Wie siehst du unter diesen Vorze­ichen das Ver­hält­nis von Reli­gion und Ernährung?

Bei der Ernährung han­delt es sich bekan­nter­maßen um ein „soziales Totalphänomen“ im Sinne von Mar­cel Mauss: Dieser kom­plexe Zusam­men­hang, der auf dem men­schlichen Grundbedürf­nis nach Nahrung basiert und gle­ichzeit­ig weit darüber hin­aus geht, durchzieht und verbindet auf der Makroebene alle Bere­iche der Gesellschaft. Und selb­st im Indi­vidu­um ver­weben sich ver­mit­telt über die Ernährung soziale, biol­o­gis­che und psy­chis­che Aspek­te. Das Ver­hält­nis von Reli­gion und Ernährung kann daher sehr unter­schiedlich aufge­fasst wer­den.

I) Ernährung in Reli­gio­nen: Klas­sisch ver­ste­ht man unter dem Zusam­men­hang von Ernährung & Reli­gion beson­dere Ernährungs- (bzw. Enthaltsamkeits-)vorschriften, die von Reli­gio­nen im Rah­men der Reg­ulierung der Lebens­führung an ihre Anhänger gestellt wer­den. Darunter fall­en dann zum Beispiel nor­ma­tive Rein­heit­skonzepte, etwa im Juden­tum oder Islam (kosher, halal), die bes­timmte generelle oder tem­poräre Nahrungstabus, zuläs­sige Zubere­itungsweisen, Tisch- und Mahlzeitenord­nun­gen usw. umfassen. Auch das Chris­ten­tum hat eine entsprechende, reiche Tra­di­tion, ins­beson­dere hin­sichtlich des Fas­tens. Zudem find­et sich hier – mehr oder weniger kon­tinuier­lich – eine bis in die Antike zurück­re­ichende Prax­is des dauer­haften Fleis­chverzichts, zumeist aber beschränkt auf Grup­pierun­gen von Spezial­is­ten (v.a. Mönch­sor­den) oder religiöse Nonkon­formis­ten (“Ket­zer”). Allerd­ings ist die Gel­tung und Anerken­nung solch­er Spei­sevorschriften nie umstand­s­los und dauer­haft gegeben. Um beim Beispiel Chris­ten­tum zu bleiben: So fan­den bere­its in der ‘Urge­meinde’ zwis­chen Repräsen­tan­ten der ‘Judenchris­ten’ und der ‘Hei­denchris­ten’ Stre­it­ereien um die Verbindlichkeit der alttes­ta­mentlichen Speisege­set­ze statt. Trotz­dem oder weil diese schließlich nicht für alle als bindend erachtet wur­den, entwick­el­ten sich zahlre­iche neue ernährungs­be­zo­gene Vorschriften und Aske­seprak­tiken, wie eben das Fas­ten (das heißt, der tem­porären Enthal­tung von bes­timmten Nahrungsmit­teln). Im Kon­text der Ref­or­ma­tion wurde dies mit der Aufhe­bung der Speisege­bote durch Zwingli erneut zum The­ma, was selb­stver­ständlich nicht bedeutete, dass nun wirk­lich ‘alles’ gegessen wer­den kon­nte. Solche (sich mitunter verän­dern­den) Nor­men und Klas­si­fika­tio­nen gradu­eller Zuläs­sigkeit von Nahrungsmit­teln sowie der Reg­ulierung ihrer Her­stel­lung, Zubere­itung und Verzehrs find­en sich in allen Ernährungskul­turen – mehr oder weniger expliz­it.

II) Ernährung als Reli­gion: Sodann kön­nen bes­timmte Ernährungsweisen – ins­beson­dere wenn die sie begrün­den­den Nor­men über den Ernährungs­bere­ich hin­aus Fol­gen für das Ver­hal­ten und die Lebens­führung haben – als Reli­gion ange­se­hen wer­den. Dies find­et sich als Topos erst in Diskursen wesentlich jün­ger­er Zeit vor­rangig im Zusam­men­hang mit Alter­na­tiv­er Ernährung. Zunächst als pos­i­tiv kon­notierte Selb­st­beschrei­bung bei den ersten organ­isierten Veg­e­tari­ern des 19. Jahrhun­derts. Allerd­ings nicht als exk­lu­sive son­dern als inklu­sive Kat­e­gorie, denn es wurde her­vorge­hoben, dass Anhänger ver­schieden­er Reli­gio­nen bzw. Kon­fes­sio­nen Mit­glieder in den Vere­inen gewe­sen seien. Mit den Verän­derun­gen der Kon­no­ta­tio­nen des Reli­gions­be­griffs entwick­elte sich im Hin­blick auf Alter­na­tive Ernährungsweisen die Gle­ich­set­zung von Reli­gion und Alter­na­tiv­er Ernährung als diskur­sives Mit­tel der Abw­er­tung, Dele­git­imierung oder Sank­tion­ierung der let­zteren. Der ethisch motivierte Fleis­chverzicht wurde bere­its in der Zwis­chenkriegszeit – als viele leben­sre­formerische Anliegen wie u.a. das Ide­al ein­er gesün­deren Ernährung bere­its Teil der All­t­agskul­tur gewor­den waren – als “verkappte Reli­gion” beze­ich­net und dies find­et Nach­hall bis in die jün­gere Forschungslit­er­atur zum The­ma [z.B. Bar­lö­sius (1997) und Fritzen (2006)]. Typ­isch ist, dass Alter­na­tive Ernährung dabei nicht als eine ‚richtige Reli­gion‘ betra­chtet wird, son­dern als etwas so Ähn­lich­es, als “qua­si-religiöse” Vorstel­lun­gen und Prak­tiken [z.B. Hamil­ton (2000) und Zeller (2014): “Qua­si-reli­gious Amer­i­can Food­ways: The Cas­es of Veg­e­tar­i­an­ism and Loca­vorism”, in: Zeller / Dal­lam / Neil­son / Rubel / Lynne (Hg.), Reli­gion, Food, and Eat­ing in North Amer­i­ca, Colum­bia Uni­ver­si­ty Press 2014, S. 294–312]. Beson­ders ein­drück­lich find­et sich dies in der Gegen­wart am Beispiel des Veg­an­is­mus: Dieser wird zum Beispiel a) aus evan­ge­lisch-the­ol­o­gis­ch­er Per­spek­tive als “Ersatzre­li­gion” gedeutet [Kai Funkschmidt (2015): “Erlö­sung durch Ernährung. Veg­an­is­mus als Ersatzre­li­gion (Teil I)”, in: EZW Mate­rial­dienst, 2015, Nr. 11, S. 403–412 (Teil II in: Ebd., 2015, Nr. 12, S. 445–455)]. Oder er wird b) aus ein­er sich selb­st als aufgek­lärt und ratio­nal (natur-)wissenschaftlich ver­ste­hen­der Per­spek­tive als “Reli­gion” (neg­a­tiv kon­notiert) im Sinne eines ‚mis­sion­ieren­den fanatis­chen Irra­tional­is­mus‘ abgew­ertet (z.B. typ­is­che Forenkom­mentare zum The­ma).

III) In mein­er Arbeit habe ich einen ganz anderen Zugang gewählt und es hat eine Weile gedauert, bis ich zuver­sichtlich genug war, diesen Weg zu gehen: Ich betra­chte den gesamten Ernährungskom­plex (das heißt, das soge­nan­nte „Ernährungssys­tem“ und seine Ein­bindung in eine unter­schiedlich weitre­ichende Koop­er­a­tion von Wirtschaft, Wis­senschaft und Poli­tik) in heuris­tis­ch­er Absicht, ‘ALS OB’ es sich um Reli­gion han­dele. Aus­ge­hend von dem rela­tionalen Ansatz der Bour­dieuschen Feldthe­o­rie behan­dele ich method­ol­o­gisch das Ver­hält­nis von Alter­na­tiv­er Ernährung und ihrem (tat­säch­lichen oder imag­inierten) kon­ven­tionellen Gegenüber als struk­turell ana­log zum Het­ero­dox­ie-Ortho­dox­ie-Ver­hält­nis. Dabei zeigt sich, dass es im Ver­lauf der Zeit darin zu Trans­fers und Trans­for­ma­tio­nen von kul­turellen Ele­menten kommt, zu Syn­the­sen und zur Neukon­stel­la­tion von vor­mals nicht-hege­mo­ni­alen bzw. hege­mo­ni­alen Vorstel­lun­gen, Prak­tiken oder Akteuren. Meine Arbeit hat – auch wenn die Rekon­struk­tion der Geschichte der Alter­na­tiv­en Ernährung in ihr den größten Raum ein­nimmt – primär ein the­o­retis­ches Inter­esse am Prob­lem des religiösen bzw. kul­turellen Wan­dels, was ich am Fall­beispiel der “Alter­na­tiv­en Ernährung” bear­beit­et habe. Den the­o­retis­chen Hin­ter­grund bilden die Fra­gen nach dem Zusam­men­hang von Inno­va­tion und Nonkon­formis­mus sowie nach ihrer Bedeu­tung für gesellschaftlichen und kul­turellen Wan­del ins­beson­dere hin­sichtlich sozialer Dif­feren­zierungs- und Plu­ral­isierung­sprozesse. Das heißt, es geht nicht zulet­zt um die the­o­retis­che Deu­tung bes­timmter all­ge­meiner­er soziokul­tureller Verän­derun­gen, die mith­il­fe des heuris­tis­chen Begriffs der kul­turellen Dynamik bzw. des Prob­lem­felds religiös­er Nonkon­formis­mus, Inno­va­tion und kul­turelle Dynamik im Rah­men des DFG-Graduiertenkol­legs „Religiös­er Nonkon­formis­mus und kul­turelle Dynamik“ an ver­schiede­nen Beispie­len unter­sucht wur­den.

Das ange­sproch­ene Mot­to für meine Arbeit bezieht sich auf die kul­turelle Dynamik der Verän­derun­gen der Ernährungskul­tur, die ich unter­sucht habe. Dabei han­delt es sich um Trans­for­ma­tio­nen und Trans­fers Alter­na­tiv­er Ernährung, die sich über die longue durée des Unter­suchungszeitraums vor dem Hin­ter­grund und im Rah­men weit umfassender­er gesellschaftlich­er Verän­derun­gen – sowohl im Ernährungs­bere­ich selb­st, als auch in all­ge­meineren poli­tis­chen, ökonomis­chen und kul­turellen Hin­sicht­en – vol­l­zo­gen haben. Die sich damit stel­lende Auf­gabe bein­hal­tete eben auch die Her­aus­forderung, einen ‚Wan­del im Wan­del‘ zu rekon­stru­ieren.

Cov­er von Deme­ter-Pub­lika­tio­nen (1978, 2014), bei der jün­geren über Rudolf “Stein­ers Impulse für die Land­wirtschaft”, “bio­dy­namisch seit 1924”.

Du arbeitest mit der Meth­ode ein­er geneal­o­gis­chen Rekon­struk­tion. Was bedeutet das genau und welche Genealo­gie von diskur­siv­en Trans­for­ma­tio­nen hast du ermit­telt?

Von mein­er akademis­chen Aus­bil­dung her bin ich neben dem Reli­gion­swis­senschaftler auch Philosoph, aber kein His­torik­er. Ich habe daher geschicht­s­the­o­retisch einen mir eher ver­traut­en Ansatz gewählt. Bekan­nter­maßen hat Niet­zsche den Begriff der Genealo­gie promi­nent ver­wen­det, um seine his­torisch-philosophis­chen Über­legun­gen zur Herkun­ft bes­timmter moralis­ch­er Vorstel­lun­gen (und kor­re­spondieren­der Prak­tiken) zu benen­nen. Fou­cault griff dieses Konzept später in einem berühmt gewor­de­nen Auf­satz “Niet­zsche, die Genealo­gie, die His­to­rie” (EA 1971; in: ders., Dits et Ecrits. Schriften in vier Bän­den. Band II, Frank­furt am Main: Suhrkamp 2002, S. 166–191) auf, um seine Vorge­hensweise zu erläutern, die nicht zulet­zt darin beste­ht, die Wer­dung von ‚Wahrheit­en‘ zu his­torisieren. Es han­delt sich dabei aus mein­er Sicht auch darum, im Sinne ein­er kul­turellen Abstam­mung oder Evo­lu­tion Verbindun­gen und Ver­wandtschaften aber eben auch Brüche oder ‘Sack­gassen’ in Entwick­lungslin­ien zu iden­ti­fizieren. Das Ziel ist dabei also im Grunde etwas ganz Banales und Selb­stver­ständlich­es: In der Darstel­lung der his­torisch bed­ingten Verän­der­lichkeit­en der Alter­na­tiv­en Ernährung sollen neben den Kon­ti­nu­itäten auch die Diskon­ti­nu­itäten her­aus­gear­beit­et wer­den, um eine essen­zial­is­tis­che, lin­eare und ten­den­ziell tele­ol­o­gis­che Geschichtss­chrei­bung (egal ob Fortschritts- oder Ver­falls­geschichte) zu ver­mei­den.

Um das kurz an ein paar Beispie­len von diskur­siv­en Trans­for­ma­tio­nen illus­tri­eren: Ich ver­gle­iche dazu mal ein paar Motive und Begrün­dun­gen für Alter­na­tive Ernährung bzw. den Fleis­chverzicht zu ver­schiede­nen Zeit­en hin­sichtlich ihrer Gemein­samkeit­en und Unter­schiede:

Am Anfang des Unter­suchungszeitraums find­et man dafür erstaunlicher­weise fast das gesamte Port­fo­lio von Argu­men­ta­tio­nen, welch­es heute auch noch Ver­wen­dung find­et. Dies bet­rifft die Kat­e­gorien der ethis­chen, gesund­heitlichen und ökonomis­chen Motive und Gründe. Bere­its in der ersten Gen­er­a­tion der organ­isierten Veg­e­tari­er wur­den kon­tro­vers Fra­gen beispiel­sweise nach der Zuläs­sigkeit des Verzehrs von Eiern und Milch, der Erhitzung der Nahrung und der Nutzung von Tieren über­haupt disku­tiert und in unter­schiedlich­ster Weise beant­wortet. Auch find­en sich in diesem Zusam­men­hang inter­es­sante ‚mis­sion­ar­ische‘ Über­legun­gen: Etwa ob es nicht bess­er wäre, statt rigide aufzutreten und poten­zielle Kon­ver­titen zu über­fordern zu Anfang nur niedrige Anforderun­gen an die Lebens­führung zu for­mulieren und erst wenn der Fleis­chverzicht sich ver­bre­it­et hätte auch auf den Verzicht auf weit­ere tierische Pro­duk­te überzuge­hen.

Was hinge­gen völ­lig fehlt, sind die heute so präsen­ten ökol­o­gis­chen Begrün­dun­gen. Dafür find­en sich noch aller­lei ‚sit­tliche‘, wie ich das nenne: Diese unter­stellen eine Wirkung der Ernährung auf den Geist und den Affek­thaushalt. Die bekan­nteste Argu­men­ta­tion­slin­ie lautet: „Tier­mord führt zum Men­schen­mord“. Aber auch spir­ituelle Rein­heits- und Ver­vol­lkomm­nungsmo­tive lassen sich hierunter sub­sum­ieren.

Gesund­heitliche Begrün­dun­gen für den Fleis­chverzicht find­en sich hinge­gen durchge­hend bis zur Gegen­wart. Allerd­ings haben sie sich inhaltlich drastisch mit den verän­dern­den hege­mo­ni­alen Vorstel­lun­gen von Gesund­heit und Krankheit gewan­delt. Fan­den sich zu Anfang u.a. beispiel­sweise kaum anschlussfähige Über­legun­gen zu schädlichen Fäul­nis­prozessen bei der Ver­dau­ung von Fleisch, so wird mit­tler­weile auch von der hege­mo­ni­alen evi­denzbasierten Medi­zin der Kon­sum von Fleisch als Fak­tor für soge­nan­nte ernährungsmitbe­d­ingte chro­nis­che Krankheit­en aber auch etwa für Krebs ange­se­hen.

Span­nend finde ich auch die Vari­a­tio­nen des ökonomis­chen Argu­ments: Dieses beste­ht grundle­gend darin, dass Pflanzenkost bil­liger ist als Fleisch, weil dieses eine ver­lus­tre­iche Trans­for­ma­tion von jen­er durch die Tier­hal­tung darstellt. Volk­swirtschaftlich wurde dies von den Veg­e­tari­ern als Möglichkeit zur Lösung der „sozialen Frage“ ange­se­hen, weil durch den Verzicht auf die Tier­hal­tung mehr Nahrungsmit­tel pro­duziert wer­den kön­nten. Dies blieb jedoch zunächst ohne nen­nenswerte Res­o­nanz über das leben­sre­formerische Milieu hin­aus. Das änderte sich aber nach dem Ersten Weltkrieg mit verän­derten ernährungswis­senschaftlichen Ansicht­en und ernährungspoli­tis­chen Notwendigkeit­en. Die Senkung des Fleis­chverzehrs in der Volk­sernährung wurde nun auf ernährungspoli­tis­ch­er Ebene im Rah­men von Autarkiebe­mühun­gen disku­tiert und im Drit­ten Reich in einem gewis­sen Rah­men auch prak­tiziert. Dabei spiel­ten neben den ökonomis­chen Erwä­gun­gen auch gesund­heitliche eine Rolle, die nun allerd­ings rassen­bi­ol­o­gisch auf den hin­sichtlich sein­er Leis­tungs­fähigkeit zu opti­mieren­den Zus­tand des „Volk­skör­pers“ bezo­gen wur­den.

In den 1970er Jahren hinge­gen wurde nun von einzel­nen Autoren das ökonomis­che Argu­ment im Hin­blick auf das Wel­ternährung­sprob­lem glob­al­isiert und der Fleis­chverzicht als Lösung präsen­tiert, was wiederum kaum auf prak­tis­che Res­o­nanz – sog­ar inner­halb des Alter­na­tiv­en Milieus – stieß. In ein­er ökol­o­gis­chen Vari­a­tion tauchte dann das ökonomis­che Argu­ment wieder in den 1990er Jahren auf: Die mit der indus­tri­al­isierten Massen­pro­duk­tion von Fleisch für den Verzehr ver­bun­de­nen Methane­mis­sio­nen der Wiederkäuer wur­den als ein Fak­tor für den anthro­po­ge­nen Kli­mawan­del prob­lema­tisiert. Damit kon­nte der Verzicht auf Fleisch ökol­o­gisch – auf das All­ge­mein­wohl, nicht auf das Tier­wohl bezo­gen – begrün­det wer­den. Mit der Prob­lema­tisierung der Massen­tier­hal­tung infolge der BSE-Krise wurde diese Argu­men­ta­tion plöt­zlich anschlussfähig und sehr erfol­gre­ich pop­u­lar­isiert.

Im Gegen­satz zum tierethis­chen Motiv, aus dem moralisch der kon­se­quente Verzicht auf Fleisch (oder gar jegliche ‚Nutzung‘ von Tieren bzw. die grund­sät­zliche anthro­pol­o­gis­che Infragestel­lung der vorherrschen­den Men­sch-Tier-Ver­hält­niss­es über­haupt) logisch fol­gt, erlauben ökonomis­che bzw. ökol­o­gis­che und gesund­heitliche („die Dosis macht das Gift“) Begrün­dun­gen prinzip­iell auch die Option der Fleis­chre­duk­tion (als bewusst prak­tiziert­er Essstil gegen­wär­tig als „Flex­i­taris­mus“ beze­ich­net). Daher zeigt sich in der Geschichte der Alter­na­tiv­en Ernährung, dass let­ztere eine bre­it­ere kul­turelle Kom­pat­i­bil­ität aufweisen während der ethisch motivierte Verzicht mit sein­er inhärenten Kom­pro­miss­losigkeit am wenig­sten anschlussfähig ist. Typ­is­cher­weise wurde er aus Prozessen von kul­turellen Syn­the­sen Alter­na­tiv­er Ernährung (Ökonomisierung, Aufw­er­tung, Ver­wis­senschaftlichung etc.) regelmäßig aus­ge­gren­zt. Selb­st in der bre­it­eren Pop­u­lar­isierung der veg­a­nen Ernährung seit etwa 2010 find­en sich entsprechende Ten­den­zen, in denen gesund­heitliche oder hedo­nis­tis­che Motive in den Vorder­grund gehoben wer­den („Veg­an for fun“ – Atti­la Hild­mann).

Dieses Bild stammt aus dem Blog ein­er Ernährungs­ber­a­terin, welche das Auf­greifen von Vol­lko­rnkost-Ideen durch den Nation­al­sozial­is­mus (vgl. dazu Uwe Spiek­er­mann: Vol­lko­rn für die Führer. Zur Geschichte der Vol­lko­rn­brot­poli­tik im “Drit­ten Reich”. In: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhun­derts. Jg. 16, 2001, S. 91–128) zum Argu­ment dafür macht, die Deutsche Gesellschaft für Ernährung als solche zu prob­lema­tisieren und eigene Wege zu gehen: “Seit Anfang 2012 lebe ich nun nach Low Carb, seit 2013 gluten­frei. Mit der Paleo-Ernährung (in Deutsch­land auch als Steinzeit­ernährung bekan­nt) und aktivem Stress­man­age­ment mit Yoga habe ich über ein halbes Jahr meinen Darm wieder so gesund bekom­men, dass ich wieder fast alle Lebens­mit­tel ver­trage, auf die ich eine zeit­lang verzicht­en musste. Heute lebe ich nach dem Vor­bild ein­er Pri­mal-Ernährung […]”.

Das let­zte inhaltliche Kapi­tel zu alter­na­tivem Land­bau (ca. 1910–2006) stellt dabei auch die Frage “Ist Alter­na­tiv­er Land­bau zugle­ich ‘ökol­o­gis­ch­er’ Land­bau?”. Das wäre dem­nach ein Äquiv­a­lent dazu, ob Reli­gion­swis­senschaft sich für medi­zinis­che Wirk­samkeit inter­essieren solle (vgl. Reli­gion & Medi­zin: Ein Gespräch über Heil- und Heilungskonzepte zwis­chen den Diszi­plinen, 2018). Wie sind hier die Posi­tio­nen im Diskurs — und deine eigene?

Ah, ich ver­ste­he, die Frage scheint missver­ständlich for­muliert, zumin­d­est außer­halb des Kon­textes mein­er Arbeit. Nein, es geht hier nicht um die Wirk­samkeit von Land­bau­for­men im Hin­blick auf irgendwelche Ziele. Natür­lich sind dies span­nende Fra­gen: Sind Erzeug­nisse aus ökol­o­gis­chen Land­bau gesün­der? Kann man damit die Welt ernähren? o.ä. Aber es ist ja ger­ade meinem reli­gion­swis­senschaftlichen Zugang — meine Posi­tion ist ganz dem method­ol­o­gis­chen Agnos­tizis­mus verpflichtet — inhärent, dass ich solche Fra­gen in mein­er Arbeit nicht beant­worten kann und will. Das heißt aber nicht, dass eine reli­gion­swis­senschaftliche Exper­tise bei der Behand­lung solch­er Fra­gen in inter­diszi­plinären Zusam­men­hän­gen nicht förder­lich sein kön­nte, beispiel­sweise hin­sichtlich der Reflex­ion über die Beant­wort­barkeit oder die Funk­tion solch­er Fra­gen nach der Wirk­samkeit in bes­timmten Kon­tex­ten. Sie dominieren aber häu­fig den Diskurs und es gibt Experten und Gegen-Experten, die gegen­sät­zliche Ansicht­en vertreten und pop­u­lar­isieren. Es gibt ver­schiedene Inter­essen­la­gen und ‑grup­pen, es gibt Lob­by­is­mus, zivilge­sellschaftlich­es Engage­ment usw. Aber ger­ade die sich dabei zeigen­den antag­o­nis­tis­chen Kon­stel­la­tio­nen sowie ihre Verän­derun­gen und ihre soziokul­turellen Auswirkun­gen inter­essieren mich reli­gion­swis­senschaftlich in sys­tem­a­tis­ch­er Absicht.

Ich will erk­lären, was mit der Frage aus meinem Kapi­tel eigentlich gemeint ist: Näm­lich ob der Alter­na­tiv­er Land­bau in sein­er Geschichte, d.h. genaugenom­men also ver­schiedene Land­bau-Sys­teme und ‑Schulen, schon immer „ökol­o­gis­che“ Land­wirtschaft im heuti­gen Ver­ständ­nis darstellte, was ich verneine. Der Alter­na­tive Land­bau trans­formierte sich nach meinen Befun­den erst im Ver­lauf der 1980er Jahre zum Ökol­o­gis­chen Land­bau als ein­er wis­senschaftlich insti­tu­tion­al­isierten und schließlich auch rechtlich anerkan­nten Bewirtschaf­tungsweise. Damit ein­her ging ein Wan­del der Begriffe, ihrer Bedeu­tun­gen und Funk­tio­nen. Den Begriff Alter­na­tiv­er Land­bau — wie auch und über­haupt den Begriff der Alter­na­tiv­en Ernährung — habe ich aus der Objek­t­sprache über­nom­men. Ich benutze sie wegen ihrer rela­tionalen Funk­tion (abwe­ichend von den entsprechen­den Vorstel­lun­gen und Prak­tiken der Mehrheit) als metasprach­liche Ober­be­griffe (wobei ich meinen Unter­suchungs­bere­ich natür­lich auf konkrete Ernährungsweisen und Land­bausys­teme ein­schränken musste). Objek­t­sprach­lich taucht der Begriff des “alter­na­tiv­en Land­baus” erst mit der Kon­junk­tur der pos­i­tiv­en Kon­no­ta­tion des Wortes „alter­na­tiv“ Ende der 1970er Jahre auf. Zu diesem Zeit­punkt gab es in Deutsch­land de fac­to nur zwei von den Prinzip­i­en der kon­ven­tionellen chemisch-tech­nis­chen Inten­siv­land­wirtschaft (d.h. zuge­spitzt: “Wach­sen oder weichen” in Bezug auf Betrieb­s­größe und Pro­duk­tiv­ität sowie “viel hil­ft viel” in Bezug auf Dünger und Pes­tizide) abwe­ichende und organ­isierte Wirtschaftsweisen: Den biol­o­gisch-dynamis­chen Land­bau (Stein­er) und den biol­o­gisch-organ­is­chen (Müller/Rusch), wobei let­zter­er sich erst Anfang der 1970er von der Schweiz aus in Deutsch­land zu ver­bre­it­en begann (übri­gens zunächst durch pietis­tisch geprägte Land­wirte, die bere­its bio­dy­namisch wirtschafteten, mit den anthro­posophisch inspiri­erten Prak­tiken und deren weltan­schaulichem Hin­ter­grund aber ihre Prob­leme hat­ten). Erst Ende der 1980er Jahre – im Zusam­men­hang mit der gesellschaftliche Aufw­er­tung des Alter­na­tiv­en Land­baus, die Aus­druck in der zunehmenden Nach­frage nach Erzeug­nis­sen aus alter­na­tiv­er Pro­duk­tion und den steigen­den Umsätzen der Naturkosthandels, der sich zur Bio­branche pro­fes­sion­al­isierte, fand – wurde der Begriff „ökol­o­gis­ch­er Land­bau“ nun pro­gram­ma­tisch gefordert. Mit der bre­it­eren Prob­lema­tisierung von Umweltschä­den und Kosten durch die in erhe­blichen Maße sub­ven­tion­ierte kon­ven­tionelle Land­wirtschaft, kam es auch zu sein­er (agrar-)wissenschaftlichen und poli­tis­chen Anerken­nung und Aufw­er­tung, die sich europaweit in der ersten EU-Öko-Verord­nung von 1991 nieder­schlug. Dies vol­l­zog sich im Rah­men eines grund­sät­zlichen Par­a­dig­men­wech­sels, der soge­nan­nten “Ökol­o­gis­chen Rev­o­lu­tion”. Seit­dem hat die Beze­ich­nung “ökol­o­gisch” in viel­er­lei Kon­tex­ten die über­tra­gene Bedeu­tung des ‘Guten’ und ‘Richti­gen’ angenom­men. In der Folge wurde „Ökol­o­gis­ch­er Land­bau“ zum Ober­be­griff erhoben, fand schnell Ein­gang in die Admin­is­tra­tions- und All­t­agssprache und wird seit­dem auch ret­ro­spek­tiv auf die alter­na­tiv­en Land­bausys­teme der vor-ökol­o­gis­chen Ära angewen­det.

Aus mein­er Per­spek­tive ist das aber nicht tre­f­fend, weil die Dimen­sion der Ökolo­gie, wie wir sie heute denken, damals völ­lig unbekan­nt war. Außer­dem sug­geriert dies eine Kohärenz und Kon­ti­nu­ität, die ich so nicht vorfind­en kann: Die Leben­sre­former entwick­el­ten beispiel­sweise zunächst Ideen ein­er tier­freien Land­wirtschaft, die später aus­ge­gren­zt wur­den (und erst seit den 1990er Jahren im Konzept der bio-veg­a­nen Land­wirtschaft wieder auf­tauchen). Selb­stver­ständlich sollte min­er­alis­ch­er Dünger die ent­zo­ge­nen Nährstoffe erset­zen und kein organ­is­ch­er — wie er ja nur durch Tier­hal­tung anfällt. Der min­er­alis­che Dünger wurde erst später prob­lema­tisiert, nicht zulet­zt auch wegen sein­er Herkun­ft, denn er musste importiert wer­den. Hier mis­cht­en sich u.a. zivil­i­sa­tion­skri­tis­che Degen­er­a­tions­be­fürch­tun­gen mit völkischen Sor­gen um die Bodenge­sund­heit sowie mit wirtschaft­spoli­tis­chen und mil­itärstrate­gis­chen Reflex­io­nen über die Abhängigkeit von Importen. Mit der Möglichkeit der syn­thetis­chen Stick­stof­fgewin­nung zur Dünger­her­stel­lung fes­tigte sich die Hege­mo­ni­al­stel­lung der Agrikul­tur­chemie als Leitwissenschaft und es ent­stand eine wech­sel­seit­ige Inter­essen­ver­mis­chung von wis­senschaftlich­er Forschung und Düngemit­tel­wirtschaft. Dabei kam es zu ein­er Aus­gren­zung biol­o­gis­ch­er Ansätze und Wis­sens aus der Agrar­wis­senschaft (etwa der Boden­bak­te­ri­olo­gie) die zum Teil ihren Hort für lange Zeit im Alter­na­tiv­en Land­bau fan­den (wodurch nun die Ent­ge­genset­zung von ‚natür­lich‘ und ‚nicht-natür­lich‘ mit der von ‚biol­o­gisch‘ und ‚chemisch‘ assozi­iert wurde). Auch Sied­lungs- und Selb­stver­sorgungskonzepte, die immer mal wieder zen­tral waren, kon­nten sich nicht dauer­haft durch­set­zen. Und erst mit dem Auf­tauchen bes­timmter neuer ‚kon­ven­tioneller‘ Tech­nolo­gien, wur­den diese auch abgelehnt – der Pes­tizidein­satz in den 1960er Jahren und die Gen­tech­nik in den 1990er Jahren.

Bild von sozialismus.ch, wahrschein­lich vom 4. “March against Mon­san­to und Syn­gen­ta”, 19. Mai 2018, in Basel.

Aus ein­er Per­spek­tive ein­er sozial­is­tisch motivierten und vor allem struk­turell ver­sierten Kri­tik des Wirtschaftssys­tems bzw. der “kap­i­tal­is­tis­chen Pro­duk­tion­sweise” erscheinen manche Konzepte alter­na­tiv­er Ernährung sozusagen am Prob­lem vor­beien­twick­elt, sie rührten die Pro­duk­tion­sweise ger­ade nicht grundle­gend an, höch­stens in der Weise, dass Tech­nikfeindlichkeit, antieli­taris­tis­che Monop­o­lis­ten­schelte sowie Idyl­lisierung von Sub­sis­ten­zwirtschaft und sym­bol­isch des Kle­ingärt­ners eher regres­sive, vor­bürg­er­liche For­men von Herr-Knecht-Ver­hält­nis­sen begün­sti­gen. Und auf der anderen Seite, selb­st wenn nicht nur im West­en alle Fahrrad fahren und ohne Plas­tik einkaufen wür­den, würde wiederum doch nur etwas Zeit eingekauft. Wie gehen die von dir unter­sucht­en Szenen mit solchen Ein­wän­den um?

Diese Frage kann ich nicht wirk­lich gut beant­worten. Da müsste man tat­säch­lich noch mal nach­schauen. Es han­delt sich ja qua­si um ‘the­ol­o­gis­che’ Debat­ten im unter­sucht­en Feld. Ich ver­mute allerd­ings, dass solche Anfra­gen in den meis­ten Fällen ein­fach ignori­ert wer­den. Denn auch umgekehrt erscheint aus Sicht manch­er Konzepte Alter­na­tiv­er Ernährung die Kap­i­tal­is­muskri­tik am eigentlichen Prob­lem vor­beige­hend. Span­nend dürfte es dort sein, wo gemein­same – ide­ol­o­gis­che oder soziale – Schnittmen­gen existieren. So gab es beispiel­sweise sozial­is­tis­che Organ­i­sa­tio­nen mit veg­e­tarischen Prinzip­i­en wie den „Inter­na­tionalen sozial­is­tis­chen Kampf­bund“ (sog­ar aktiv im Wider­stand gegen Nation­al­sozial­is­mus), der der frühen Tier­rechts­be­we­gung zuzurech­nen ist. Der Fleis­chverzehr wurde kon­se­quent aus ‚sozial­is­tis­ch­er‘ Per­spek­tive als Prak­tik der „Aus­beu­tung“ abgelehnt. Im linksalter­na­tiv­en Milieu nach 1968 waren kap­i­tal­is­muskri­tis­che Posi­tio­nen vorherrschend und fan­den über die Kon­sumkri­tik auch mit Alter­na­tiv­er Ernährung zusam­men. Noch Mitte der 1980er Jahre wurde in der Naturkost­branche die Vere­in­barkeit von kap­i­tal­is­tis­chem Sys­tem und Ökolo­gie aus­geschlossen. Zeit­gle­ich mit dem Zer­fall des Alter­na­tiv­en Milieus und schließlich dem Ende des Kalten Kriegs ver­loren kap­i­tal­is­muskri­tis­che Posi­tio­nen generell an Bedeu­tung und Plau­si­bil­ität. Die Naturkost- trans­formierte sich zur Bio-Branche (aus „Unter­lassern wur­den Unternehmer“), Kon­sumkri­tik wurde zum kri­tis­chen Kon­sum, Ökonomie und Ökolo­gie schließen sich nicht mehr aus. Hinge­gen find­et sich in der mod­er­nen Tier­rechts­be­we­gung Kap­i­tal­is­muskri­tik und Ernährung als ‚poli­tis­ch­er Veg­an­is­mus‘ eng verzah­nt.

Wie sähe denn umgekehrt die Kri­tik an der „Kap­i­tal­is­muskri­tik“ aus? Warum geht let­ztere aus der Per­spek­tive Alter­na­tiv­er Ernährung nicht weit genug?

Ich kann da jet­zt nicht viel zu sagen. Ich wollte nur auf die Schw­er­punk­t­set­zung hin­weisen. Stellen wir uns beispiel­sweise eine – ich sage mal dif­fus ‚spir­ituelle‘ – alter­na­tive Ernährungsweise vor, die das Elend der Welt aus dem Ver­hal­ten der Men­schen her­leit­et und die Umkehr zum ‚Heil‘ in der ‚richti­gen‘ Ernährungsweise erblickt. Wir bewe­gen uns aber hier speku­la­tiv in einem philosophis­chen Bere­ich. „Kri­tik an der Kap­i­tal­is­muskri­tik“ finde ich zudem nicht tre­f­fend. Wie gesagt, war die Kap­i­tal­is­muskri­tik im Zusam­men­hang mit Alter­na­tiv­er Ernährung häu­fig anfangs lauter als später, sie sind aber auch keines­falls notwendig miteinan­der ver­bun­den. Prinzip­iell geht es aber wohl eher um die grund­sät­zliche Frage, auf welchem Weg tief­greifende gesellschaftliche Verän­derun­gen über­haupt umge­set­zt wer­den kön­nen oder sollen: Schnelle ‚Rev­o­lu­tion‘ oder eher langsame ‚Reform‘? Typ­is­che Konzepte Alter­na­tiv­er Ernährung denken größere Zusam­men­hänge wün­schenswert­er gesellschaftlich­er Verän­derun­gen vom Indi­vidu­um her: das klas­sis­che Mot­to der Leben­sre­form­be­we­gung lautete „Gesellschaft­sre­form durch Selb­stre­form“.

In meinem Unter­suchungs­bere­ich find­en sich nonkon­forme Inno­va­tio­nen wie die Alter­na­tive Ernährung typ­is­cher­weise in Verbindung mit weit­eren nonkon­for­men Vorstel­lun­gen und Prak­tiken der Ablehnung oder Infragestel­lung bes­timmter hege­mo­ni­aler Bere­iche: Fleisch, Kirche, poli­tis­ches und wirtschaftlich­es Sys­tem etc. Entsprechend find­en sich vielfältige und het­ero­gene „alter­na­tive“ Gege­nen­twürfe, die sich in spez­i­fis­chen, von mir als nonkon­for­men Milieus beze­ich­neten Sozialzusam­men­hän­gen durch „mul­ti­ple Devianzen“ (Heinz Mürmel) der zuge­höri­gen Akteure konzen­tri­eren. Wahrschein­lich nicht zufäl­lig tauchen sie an zwei Zeit­punk­ten (nach 1848 und nach 1968) auf, die von manchen Zeitgenossen und später von His­torik­ern mit einem ‚Scheit­ern‘ von Rev­o­lu­tio­nen in Zusam­men­hang gebracht wur­den. Anfang der 1970er wurde die Ablehnung von rev­o­lu­tionärem Aktivis­mus und die prak­tis­che Hin­wen­dung zur eige­nen Lebens­führung – beispiel­sweise in selb­stver­sor­gen­den Land­kom­munen und alter­na­tiv­en Lebens­for­men – jour­nal­is­tisch und kul­turhis­torisch als „apoli­tis­che“ oder „bürg­er­liche Flucht“ gedeutet und mit der Leben­sre­form- und Jugend­be­we­gung um 1900 par­al­lelisiert (Spiegel-Artikel von 1971, Fre­cot et al. 1972: “Fidus 1868–1948. Zur ästhetis­chen Prax­is bürg­er­lich­er Flucht­be­we­gun­gen” etc.). Man kön­nte diese Entwick­lun­gen mit gle­ichem Recht aber auch als bewusste Strate­gieän­derun­gen deuten. Dort, wo nach aktiv­en Ver­suchen die erstrebten Verän­derun­gen im Großen nicht zu erre­ichen waren, besann man sich Verän­derun­gen im Kleinen und hegte Hoff­nun­gen auf langfristige Auswirkun­gen: Hier – bei der eige­nen Lebens­führung bzw. der Arbeit am Selb­st – kon­nte direkt und prak­tisch begonnen und Vor­bild­wirkung ent­fal­tet wer­den.

Du betra­cht­est die alter­na­tiv­en Ernährungskonzepte, als ob sie Reli­gio­nen seien. Das geschieht allerd­ings in ein­er Sit­u­a­tion, wo „Reli­gion­shaftigkeit“ als polemis­che Fig­ur die Kri­tik an ihnen dominiert. Dabei geht es ja nicht um einen voll­ständi­gen Diskurs der Ernährung, im Mit­telpunkt ste­hen die Diskurse um bzw. die Werke und Zeug­nisse im konkreten Kon­text alter­na­tiv­er Konzepte. Daneben gibt es ja nicht nur „Wach­sen heißt weichen“ oder „Viel hil­ft viel“. Oder kön­nte es sog­ar sein, dass ein Ernährungsrat­ge­ber immer „alter­na­tiv“ ist? Was lässt sich über sein Gegen­teil aus­sagen?

Nein, ich betra­chte des gesamten Ernährungskom­plex, das heißt ernährungs­be­zo­gene Vorstel­lun­gen und Prak­tiken des Kon­sums, das Ernährungssys­tem (Pro­duk­tion, Ver­ar­beitung, Dis­tri­b­u­tion, Entsorgung) uns seine Ein­bindung in Wirtschaft, Wis­senschaft und Staat so, als ob es sich um ‚Reli­gion‘ han­deln würde. Aus dieser Per­spek­tive erscheint zum Beispiel Fleis­chverzicht als eine ‚Het­ero­dox­ie‘, so dass sich nun erst erah­nen lässt, was denn eigentlich die ‚Ortho­dox­ie‘ darstellt: U.a. näm­lich die Gesamtheit der nicht hin­ter­fragten, weil ‚selb­stver­ständlichen‘ Ernährung­sprak­tiken und ‑vorstel­lun­gen. Dies zeigen im let­zten Drit­tel des 19. Jahrhun­derts die starken Reak­tio­nen auf eine Hand­voll von Leuten, die öffentlich behaupteten, man könne auf den Kon­sum von Fleisch zu verzicht­en, ohne zu ver­hungern. Mehr noch: Es sei zudem moralisch geboten und oben­drein gesün­der. Diese Reak­tio­nen, etwa in Form von dif­fusen Sank­tio­nen wie Spott oder Ger­ingschätzung, aber auch in Form von mehr oder weniger ern­sthaften ernährungswis­senschaftlichen Auseinan­der­set­zun­gen mit führen­den Vertretern der Wis­senschaft, macht­en die hege­mo­ni­ale „Fleis­chre­li­gion des 19. Jahrhun­derts“ (Albert Wirz) über­haupt erst sicht­bar.

Allerd­ings ist die quan­ti­ta­tive Ver­bre­itung bes­timmter kul­tureller Vorstel­lun­gen und Prak­tiken nicht gle­ichzuset­zen mit ihrem eher qual­i­ta­tiv­en Sta­tus im Ensem­ble kul­tureller Hege­monien im sozialen Raum: Zwar war der Fleis­chverzicht zunächst nonkon­form, jedoch zeigt sich aus his­torisch­er Per­spek­tive, dass Alter­na­tive Ernährung selb­st dies nicht notwendi­ger­weise sein muss. Bere­its vor dem 2. Weltkrieg näherten sich ernährungsre­formerische Forderun­gen und ernährungswis­senschaftliche Empfehlun­gen aneinan­der an. Mit dem steigen­den Wohl­stand und den Verän­derun­gen des Ernährungssys­tems sowie dem Kon­sumver­hal­ten seit den 1950er Jahren, kann man die hege­mo­ni­alen admin­is­tra­tiv­en Ernährungsempfehlun­gen – streng rela­tion­al bezo­gen auf das Ernährungsver­hal­ten der Mehrheit der Bevölkerung – tat­säch­lich als „alter­na­tive“ Ernährungsweise anse­hen: Sie entsprechen dabei im Groben nahezu den Richtlin­ien der „Voll­w­ert­ernährung“ — was wiederum auch kein Zufall ist, da zudem his­torische Beziehun­gen und Kon­ti­nu­itäten ins­beson­dere durch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) existieren. Regelmäßig muss dann fest­gestellt wer­den, dass offen­sichtlich kein Erfolg der Bemühun­gen zu kon­sta­tieren ist, das kon­ven­tionelle und mit­tler­weile nicht mehr als wün­schenswert erachtete Ernährungsver­hal­ten der Bevölkerung zu verän­dern.

Hier zeigt sich aber deut­lich die kul­turelle Dynamik der Alter­na­tiv­en Ernährung: das heißt jene Prozesse der kul­turellen Trans­fers und Trans­for­ma­tio­nen, durch die vor­ma­lig nonkon­forme Vorstel­lun­gen und Prak­tiken sich aus­bre­it­en, vor allem aber anerkan­nten und bisweilen sog­ar hege­mo­ni­alen Sta­tus in ein­er Gesellschaft erlan­gen kön­nen. Dabei zeigte sich aus rela­tionaler Per­spek­tive, dass die Alter­na­tive Ernährung ihren soziokul­turellen Sta­tus gegenüber dem hege­mo­ni­alen Ernährungssys­tem verän­dert hat: Sie trans­formierte sich von ein­er inno­v­a­tiv­en und nonkon­for­men ‚Alter­na­tive‘ zu ein­er alter­na­tiv­en ‚Option‘ im Plu­ral­is­mus ein­er sich zunehmend diver­si­fizieren­den Ernährungskul­tur und trug gle­ichzeit­ig aktiv zu dieser Plu­ral­isierung bei.

Danke für das Inter­view.

Das Inter­view führte Kris Wagen­seil.

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