Im heutigen Interview mit der Religions- und Islamwissenschaftlerin Assia Harwazinski (Tübingen) geht es um die unterschiedlichen Perspektiven und Zugänge von Islamwissenschaft und Religionswissenschaft, die Rolle der Theologien und das Verhältnis von Säkularität, Wissenschaft, Islam und Christentum.

Eine typische Darstellung der zwölf Imame in der entsprechenden Richtung des schiitischen Islam. Gerade in Hinsicht auf religiöse Vielfalt im Islam können sich religionswissenschaftliche und islamwissenschaftliche Zugänge unterscheiden.
Wir hatten uns im Vorfeld etwas ausgetauscht, und spannend fand ich dabei das dreifache Verhältnis von Religionswissenschaft und Theologie zum Islam, also unmittelbar als Religionswissenschaft im Verhältnis zu christlichen Theologien und entsprechenden Aneignungsversuchen letzterer, gespiegelt im Verhältnis zu Islamic Studies, aber auch zur Islamwissenschaft. Wie würden Sie diese jeweiligen Verhältnisse charakterisieren und was könnte eine säkulare Islamwissenschaft von der Religionswissenschaft lernen?
Sowohl die Religions- als auch die Islamwissenschaft sind kulturwissenschaftliche, bekenntnisfreie Disziplinen, wobei die Islamwissenschaft sehr philologisch ausgerichtet ist, während die Religionswissenschaft historisch-soziologisch und -anthropologisch arbeitet, eher sozialen Wandel untersucht und sehr interdisziplinär organisiert ist. Das ist verständlich, denn der Bereich “Religion” berührt viele Lebensbereiche, an die man zunächst nicht unbedingt denkt. Daher halte ich die Disziplin „Religionswissenschaft“ für eine ausgesprochen ergiebige, durch die man sehr viel Wissen über das Funktionieren von Menschen und Gesellschaften erwerben kann.
Die Islamwissenschaft war eine für Theologen beider christlicher Konfessionen eine Zeitlang sehr attraktive Disziplin. Man erhoffte sich Erkenntnisse über die Religion des Islam und Argumente, aber letztlich, um die Debatten des “Interreligiösen Dialogs” erfolgreicher gestalten zu können. Einhergehend damit ist natürlich ein gewisses Missionsinteresse: Man will den “Gegner” oder “Konkurrenten” besser kennenlernen, um besser parieren zu können. Das war und ist eine Art intellektuelles Duell, und das gilt für alle Beteiligten. Es bestand von Beginn an die Gefahr, dass es beim interreligiösen Dialog zu einer mehr oder weniger starken Instrumentalisierung der jeweiligen Gegenseite kommt – eine Tatsache, die von einigen kritischen Religionswissenschaftlern seit ein paar Jahren angemerkt und hinterfragt wurde. Man hatte nun lebendige Vertreter einer konkurrierenden monotheistischen (und äußerst starken, erfolgreichen) Religion vor sich und muss(te) sich irgendwie arrangieren. Im Prinzip ging es in den Debatten häufig um konkurrierende Gottesbilder und -verständnisse, aber auch um Verdeutlichen der (vermeintlichen) Überlegenheit der eigenen Theologie/n. Man konnte/kann nun ganz intellektuell die Unterlegenheit des religiösen Gegners öffentlich darstellen.
Die Islamwissenschaft tat sich teilweise schwer, die Religionswissenschaft ernst zu nehmen – trotz teilweise gemeinsamer Wurzeln aus der Semitistik -, arbeitete lieber mit Theologen und Politikwissenschaftlern zusammen. Das hat sich etwas geändert, obwohl die Religionswissenschaft immer noch eine Art “Stiefkind” unter den kulturwissenschaftlichen Disziplinen ist – vermutlich, weil sie sich auch mit Systemen auseinandersetzt, die nicht im gängigen Muster als “religiöse” einzubetten sind, einen sehr offenen Religionsbegriff (“belief systems”) pflegt und sich auch mit den so genannten “Sekten” befasst, die aus religionswissenschaftlicher Sicht häufig keine solchen sind. Aber eine Sekte ist für viele Mitmenschen “igitt”, wenn nicht gar gefährlich, damit befasst man sich nicht bzw. wenn eine/r das tut, ist er wohl dubios oder verdächtig. “Sekte” ist primär ein diffamierender Begriff. Das ist insofern Blödsinn, als das Christentum einen sektenartigen Anfang hatte und man sich in vielen Berufsfeldern mit “igitt”-Dingen befassen muss, beispielsweise im gesamten Gesundheitssektor, in Großküchen, Metzgereien, Müllverarbeitung usw. Überall gibt es Unappetitliches, zuweilen auch Gefährliches, als Untersuchungsgegenstand und Abfälle, mit denen man umgeht, umgehen muss; es gehört zum Arbeitsbereich und somit zum entsprechenden Arbeitsalltag. Und wer denkt schon bei Themen wie “Medien”, “Homöopathie” oder “Tanz” an Religion bzw. Spiritualität? Das ist Neuland.
Religionswissenschaftler entdecken Kontinente an Wissensgebieten, sind in diesem Sinne “Eroberer”, aber eben keine “Missionare”. Das unterscheidet sie deutlich von Theologen. Weder Religions- noch Islamwissenschaft betreiben bzw. vermitteln Glaubenslehren; sie untersuchen und analysieren diese lediglich.
Persönlich lehne ich die Bezeichnungen “Islamic Studies” und “Religious Studies” inzwischen ab; sie suggerieren eine Religiosität bzw. Konfessionalität des Faches und ihrer Vertreter, die so nicht vorhanden ist bzw. keine Voraussetzung dafür ist. Sie haben bei mir sehr früh ein Unwohlsein ausgelöst. Ich halte die Begriffe “History and Cultures of Islam” (für Islamwissenschaft) und “Study of Religion” bzw. “Comparative Study of Religion” für angemessener, weil zutreffender.
Die “Islamische Theologie” gibt es schon lange, aber nicht in der BRD. Dort begann die Errichtung der “Zentren für Islamische Theologie” letztlich als eine Reaktion auf 9/11. Man erhofft sich dadurch eine Art “Zähmung” radikaler Kräfte. Bereits zuvor war man in vielen Seminaren mit dem deutlich anwachsenden Zulauf religiöser Muslime konfrontiert. Es ging in einigen Fällen soweit, dass man versuchte, den dort in der Lehre Tätigen Vorschriften zu machen darüber, wie sie das Fach zu unterrichten hätten; sie kamen mit der historischen Nüchternheit, mit dem agnostischen Umgang mit dem Gegenstand, teilweise auch mit den Erkenntnissen, die aus manchen alten Texten gewonnen wurden, nicht zurecht. Dies tun allerdings auch manche Theologen gegenüber Religionswissenschaftlern; deshalb sind es ja unterschiedliche Disziplinen.
Letztlich war dies eine Auswirkung der erfolgreichen islamischen Revolution im Iran und entsprechenden Entwicklungen anderswo. Während früher Exil-Muslime unter den Studierenden dominierten, die aus politischen Gründen vor solchen Regimen geflohen waren und in diesen islamwissenschaftlichen Instituten im Studium ein wenig ein “Heimatgefühl” für sich fanden, kamen nun die religiösen Vertreter selbst, mit Stipendien. Sinnvollerweise sollten es muslimische Theologen sein, die in diesen neuen Zentren für Islamische Theologie unterrichten. In der BRD gab es aber das Problem, dass es gar nicht so viele davon hier im Ausland gibt; so gestaltete sich die Besetzung der Stellen eine Zeitlang etwas schwierig. Bis auf wenige Ausnahmen handelt es sich offenbar eher um “islamische Islamwissenschaft/ler”, die alle gern hier leben und arbeiten möchten; kaum einer dort hat einen offiziellen Abschluss in „Islamischer Theologie“ aus einem ihrer Herkunftsländer aufzuweisen. Die Konditionen, die sonst für Theologen gelten, gelten dort offenbar nicht. Man konstruiert etwas, das so noch nicht vorhanden war bzw. ist. Ob das letztlich zu mehr Verständnis, mehr Toleranz und tatsächlicher Lösung irgendwelcher anstehender oder sich noch zeigender Probleme führen wird, sei dahingestellt; das lässt sich von außen ohnehin kaum beurteilen. Jedenfalls werden diese Zentren finanziell in einer Weise üppig gefördert, von der andere Einrichtungen oft nur träumen können, allerdings auch aus Finanzquellen von außerhalb. Ob dadurch eine tatsächlich unabhängige Forschung gewährleistet werden kann, lässt sich für mich nicht beurteilen; man darf aber gewisse Zweifel anmelden.

“Religion Stencil” (Stempel). “Säkular heißt – im strengen Sinne – religionsneutral. Ein säkularer Islam ist somit ein religionsneutraler Islam: genial! Eine religionsneutrale Religion, eine Religion die allen Religionen, also vor allem sich selbst, neutral gegenübersteht”, liest man in einem Artikel des dem Erdoganismus nahestehenden Propaganda-Portals Nex24, “Prof. Dr. Günther zu ‘Säkularer Islam’: Der Islam bedarf keiner Aufklärung” (Nov. 2018). Die Reduktion der Religion auf spirituelle Wellness sei und bleibe eine Errungenschaft des europäischen Christentums.
Bild von Matthew Fearnley unter Creative-Commons-Lizenz CC BY 2.0.
Wie lässt sich die Debatte um einen “säkularen Islam” hier verorten?
Diese Debatte ist teilweise etwas irritierend, nicht zuletzt auf dem einfachen Grund, weil man die vielgepriesene “Säkularität” der deutschen, überwiegend in einer wie auch immer gearteten Form christlich geprägten Gesellschaft durchaus und zurecht in Frage stellen kann. Ich verstehe es so, dass es um den Erhalt der politischen Trennung von Kirche und Staat gehen soll. Dies macht sich vor allem in den Bereichen des staatlich organisierten Unterrichts- und Erziehungswesens, sozialen und pflegerischen Arbeitsfeldern sowie in den Finanzen fest. Es besteht aber beim zugewanderten Islam die Forderung nach einer Säkularität, die bei der einheimischen Mehrheitsgesellschaft in Bezug auf die eigene Religion gar nicht oder kaum hinterfragt, sondern einfach vorausgesetzt wird. Dabei genießen die christlichen Großkirchen enorme, staatlich abgesicherte Privilegien, die ihnen eine Infrastruktur bieten, von der andere Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften nur träumen können. Dadurch besetzen die beiden christlichen Großkirchen große gesellschaftliche Arbeitsfelder, die mit eigentlicher “Religion” oder “Religiosität” gar nichts zu tun haben, beispielsweise ganze Felder der Bildungs- und Sozialarbeit, Organisation von Jugendfreizeiten, Altenarbeit usw. Natürlich hatte der Reformator Martin Luther gerade die Bildung, auch für Frauen, einst stark befürwortet und Gutes dadurch angestoßen für die spätmittelalterliche bzw. frühneuzeitliche Stände-Gesellschaft, seine Schattenseiten hin oder her. Das sind wichtige Felder, aber nicht notwendig religiöse, auch wenn vereinzelt darin mal das ein oder andere Gebet oder ein Gottesdienst stattfinden.
Besonders ärgerlich ist hierbei, dass diese Arbeitsfelder bei Stellenbewerbungen nur Menschen Zutritt gewähren, die offiziell noch Mitglieder einer der christlichen Großkirchen sind und dies nachweisen können, das heißt: Kirchensteuerzahler. Die Kirchensteuerzahlung bei formaler Religionsmitgliedschaft ist die Eintrittskarte auch für Berufsfelder in kirchlichen Einrichtungen, die mit Religionsverwaltung und/oder theologischen Funktionen nichts zu tun haben. Das kann jeder Mensch in zahlreichen öffentlichen Stellenausschreibungen konkret und direkt nachlesen [in Deutschland wird oft die Mitgliedschaft in einer Kirche vorausgesetzt, die zur Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen gehört; Anm. Red.]. Die eigentliche Qualifikation steht nicht im Vordergrund, auch die Tatsache der durchlaufenen religiösen Initiationsrituale von Taufe, Kommunion und/oder Konfirmation hat hier keine Bedeutung. Dabei erhalten kirchliche Einrichtungen grundsätzlich in vielen Bereichen staatliche Zuwendungen aus Steuergeldern aller Bürger. Dieses Füllhorn ergoss sich über die kleinen Orchideenfächer eher selten, erst recht nicht über die Religionswissenschaft. Daraus wurde und wird diesen Disziplinen aus meiner Sicht häufig zu Unrecht ein mehr oder weniger großer Vorwurf gemacht; wir hatten keine Lobby, die uns stark vertrat – wobei wir häufig unter selbstausbeuterischen Bedingungen gearbeitet und geforscht haben. Ohne starke Infrastruktur zu arbeiten ist oft mühsam; man ist zusätzlichen Angriffen ausgesetzt.
Wir sind seit langem ein “Objekt der Begierde” für manche Theologen und entsprechende Einrichtungen geworden, aber ebenso zwiespältig wie zu einem “Objekt der Begierde” ist ihr Verhältnis zu dieser Disziplin: Auch hier will man eigentlich dominieren, kontrollieren, die – sehr speziellen eigenen – Hoheitsrechte der Wissenschaftsverwaltung nicht abgeben. Persönlich halte ich dies für „theologischen Imperialismus“; eine Art „Besitzstandswahrung“, die entsprechenden grundgesetzlichen Regelungen teilweise entgegensteht. Stellenbesetzungen für Religionswissenschaftler an theologischen Instituten gehen oft einher mit der selbstverständlichen Forderung nach konfessioneller Bindung und/oder der Voraussetzung des Nachweises eines entsprechenden Theologie-Studiums – was einfach zeigt, dass man als Religionswissenschaftler nicht wirklich ernst genommen wird in der Eigenständigkeit; man wird höchstens “übernommen”, unter den Bedingungen der konfessionellen Einrichtung. Das zeigt sich beispielsweise auch darin, dass jemand, der katholische Theologie studiert, nicht ohne weiteres dieses Fach mit “Religionswissenschaft” kombinieren kann (zumindest nicht hier vor Ort): Man muss eine schriftliche Einverständniserklärung der jeweiligen zuständigen Professoren und Fakultäten einholen und vorlegen. Die Kombination mit jeder anderen Disziplin ist problemlos möglich. Auch wird die Studienkombination von katholischer und evangelischer Theologie parallel nicht zugelassen (diese Information stammt von einer Studierenden der katholischen Theologie, die dies gerne getan hätte). Dies widerspricht dem ständigen Anspruch und der öffentlich gepriesenen Forderung nach Ökumene, die von Theologen gerne im Munde geführt werden. In der Praxis erweist sich dies häufig als reines Lippenbekenntnis. Und wer sich selbst ausbeutet, ist selber schuld, zeigt aber offenbar eine gute Portion Leidenschaft – was für gute Forschung unerlässlich ist.
Das islamische Verständnis von “Säkularität” ist unterschiedlich. Viele Muslime haben keinerlei nennenswerte Probleme, sich in und mit der deutschen Gesellschaft zu arrangieren. Im Gegenteil: Sie genießen die hiesige Freizügigkeit in vielen Bereichen, die sie aus ihrer Heimat nicht kannten – was vielleicht am meisten für muslimische Frauen gilt. Allerdings gibt es natürlich einige – in der Regel offensiver auftretende religiös geprägte -, die dies anders sehen. Man kann den Islam auch so verstehen, dass er bereits eine “säkulare Religion” darstellt – in dem Sinne, dass der Islam tatsächlich in allen Lebensfragen und Belangen Anleitungen, Hinweise und mehr oder weniger klare Richtlinien für das Diesseits vorgibt – sei es beim Essen, bei der Eheschließung, bei der alltäglichen Lebensführung usw. – alles wird im Prinzip nachlesbar geregelt, durch die Traditionen und das Islamische Recht. Der Islam hat das Potenzial zu einem “All-Round-Konzept”. Es gibt religiöse Muslime, die dies begrüßen und argumentieren, in diesem Sinne sei der Islam eine weltliche Religion, weil er alle Dinge im Diesseits klar regelt. Hier, unter sehr Religiösen oder gar Islamisten, bedeutet “Säkularität” folglich die Umsetzung und Verwirklichung islamischer Strukturen im Diesseits, indem alle Bereiche des Lebens unter die religiösen Vorschriften gebettet werden – also das genaue Gegenteil einer politischen “Trennung von Staat und Kirche”, was wir üblicherweise unter “Säkularität” verstehen.
Nun gibt es seit einigen Jahren Teilnehmer der öffentlichen Debatte, die den Islam gerne “keimfrei” hätten, wie es Shirin Amir-Moazami in ihrem prägnanten Aufsatz vom 28.11.2018 in der ZEIT (Initiative Säkularer Islam: Der Wunsch nach einem keimfreien Islam, 2018) online nannte – im Prinzip ohne viel Frömmigkeit und Religiosität. Die Frage ist, wie viel Islam das dann noch ist, ob es überhaupt noch einer ist. Es ist jedenfalls ein reduzierter. Säkularität ist üblicherweise für die meisten Menschen ein wenig einhergehend mit einem “Verlust” oder “Rückzug” einer offensiv gelebten, sichtbaren Frömmigkeit. Das ist aus meiner Sicht nicht weiter schlimm und gut verkraftbar, denn Religion bzw. religiöse Systeme stehen in der Alltagspraxis manchmal im Weg, stellen Hindernisse dar oder verursachen Probleme; man denke beispielsweise an das kirchliche Glockenläuten, wobei das noch recht moderat ist. Aber man stelle sich vor, sich hierzulande daran gewöhnen zu müssen, fünfmal täglich – was bedeutet: auch nachts – den muslimischen Gebetsruf, über Lautsprecher, zu hören. Darauf möchten viele Menschen aus guten Gründen verzichten (übrigens auch viele Muslime). Beim säkularen Islam handelt es sich meinem Verständnis nach um eine Form eines zurück gestutzten, etwas verwässerten Islam, der sich auf die rituellen Praktiken der Glaubensausübung beschränkt, einhergehend mit der Bereitschaft, diese den Gegebenheiten eines Arbeitslebens in nicht-islamischer Umgebung anzupassen. In der Praxis bedeutet dies, dass beispielsweise muslimische Busfahrer an christlichen Feiertagen die Schichten für ihre nicht-muslimischen Kollegen übernehmen, oder dass das rigide islamische Fasten während des Ramadans besonders in der warmen Jahreszeit für Vollzeit-tätige Muslime etwas erleichtert wird, indem man sie in dieser Zeit die Nacht- oder Frühschichten übernehmen lässt. Manche Muslime nehmen auch ihren Jahresurlaub in der Zeit des Ramadan. Es gibt eine Anzahl von Möglichkeiten, die Erfüllung solcher religiösen Pflichten pragmatisch und unkompliziert zu lösen. Wie man weiß, muss jeder gute Garten immer wieder etwas zurück geschnitten werden, will er gelingen. Die multikulturelle Gesellschaft ist eine Art Garten mit vielfältigen Blumen und Pflanzen, die alle ihren eigenen Platz zur Ausbreitung benötigen, um gut zu gedeihen, ohne Anderen denselben abspenstig zu machen. Das geht nur durch Zuweisung und Organisation dieses Platzes, durch regelmäßige Pflege, das Entfernen von Unkraut – aber selbst Letzteres ist zuweilen sehr schön und sollte blühen dürfen, wenn es gefällt und nicht zerstört. Solange die anderen Pflanzen ihren Platz noch finden.
Klaus Spenlen schreibt über Ihre Arbeit “Islami(sti)sche Erziehungskonzeptionen: Drei Fallbeispiele aus Baden-Württemberg”, sie ginge dezidiert Fällen nach, die gerade keine Offenheit in Fragen der Sexualerziehung dokumentierten, und stellt dem gegenüber, dass die Mehrzahl der Vertreter Islamischer Theologie “relativ offen mit der schulischen Sexualerziehung umgegangen ist und es auch heute noch tut” (Spenlen, Integration muslimischer Schülerinnen und Schüler: Analyse pädagogischer, politischer und rechtlicher Faktoren, Lit: Münster, 2010, S. 356, einschl. Anm 992). Wie ist der heutige Stand der Debatte?
Dafür möchte ich mich zunächst bei Herrn Spenlen bedanken; es ehrt mich, dass sich jemand dieser kleinen unspektakulären Arbeit gewidmet und sich damit auseinandergesetzt hat. Für mich war es schlicht so, dass diese drei behandelten Erziehungskonzeptionen dem damaligen Integrationsbeauftragten von verschiedenen muslimischen Trägern vorgelegt wurden, resultierend aus Initiativen des sogenannten “Interreligiösen Dialogs”. Es ging darum, sie regional für entsprechende Veränderungen in erzieherischen Einrichtungen der Kinderbetreuung einzusetzen und anwendbar zu machen. Alles geschah in bester Absicht. Dass sich dadurch umgehend eine heftige Auseinandersetzung unter verschiedenen muslimischen Verbänden und Vertretern entwickelte, in die sich zusätzlich christliche Gruppen, deren Vertreter und Konvertiten einmischten, war eher unerwartet. Das nahm ich zum Anlass, mir diese Entwürfe einmal vorzunehmen – wenn einem das Material quasi direkt geliefert wird. Aus eigener Unterrichtspraxis kann ich bestätigen, dass viele Muslime, die sich religiös verstehen, sich nicht unbedingt offen im Umgang mit Sexualerziehung in der Schule zeigen – wobei das Interesse an der Thematik grundsätzlich mächtig vorhanden ist. Manches, was hier inzwischen selbstverständlich ist, wird als “Pornographie” gewertet – wobei hier manchmal die Islamisten unerwartete Unterstützung von entsprechenden Feministinnen, auch aus theologischen Umfeldern, bekommen. Für manche Lehrer – und vor allem Lehrerinnen! – bedeutete dies in der Vergangenheit schon einige Male enormen Zeit- und Energieverlust für entnervende stunden- bis tagelange Konfliktlösungsgespräche mit Elternvertretern, die ihre muslimischen Töchter nicht am Sport- oder Schwimmunterricht teilnehmen lassen wollten oder sie nicht mit auf schulisch organisierte Freizeiten (wie Schullandheim) schicken wollten. Diese Zeit geht dem eigentlichen Unterricht verloren und führt(e) nicht immer zur angestrebten Lösung der Teilnahme (= Teilhabe). Hier brauchen sich keine der beteiligten, involvierten Lehrkräfte irgendwelche Vorwürfe zu machen, sie hätten nichts getan oder nichts versucht. In den Gesprächen mach(t)en die Lehrerinnen oft die Erfahrung, dass sie von den muslimischen Vätern als Gegenüber gar nicht ernst genommen wurden; schließlich sind sie ja eine Frau, deren Autorität noch weniger ernst genommen wird als die eines “ungläubigen” Mannes. Die Selbstverständlichkeit weiblicher Lehrkräfte in der Vermittlung auch heikler Unterrichtsmaterie und als Ansprechpartner in Konfliktfällen ist für manche muslimische Männer immer noch ein “No Go”. Das kann sehr stressig sein, für alle Beteiligten, aber besonders für die betroffenen Schülerinnen und Lehrerinnen. Man hat viele Ängste, vor allem um den Verlust der “Ehre” dieser Mädchen und Töchter, die sich an der Schicklichkeit und Jungfräulichkeit festmachen. Dies kommt besonders an schulischen Einrichtungen mit einem hohen migrantischen Anteil an Muslimen vor. Wie der Stand dieser Debatte aktuell ist, entzieht sich meiner Kenntnis; dazu müsste man erneut Lehrkräfte befragen, die an entsprechenden Einrichtungen mit hohem muslimischen Anteil an Schülern arbeiten und unterrichten. Die “Zentren für Islamische Theologie” könnten sich hier konstruktiv zu Gunsten der Teilnahme solcher muslimischer Mädchen an Unterricht und entsprechenden Veranstaltungen, an der Teilnahme an der Sexualaufklärung und Ähnliches einsetzen und sich derartigen Konfliktgesprächen als Gegenüber stellen, um deren Inklusion zu fördern anstatt parallele Strukturentwicklungen zu unterstützen. Dann ließe sich feststellen, ob da irgendwelche Fortschritte zu verzeichnen sind. Von außen lässt sich dies aber nicht beurteilen.

Jean-Léon Gérôme (1824–1904) , “A Muezzin Calling from the Top of a Minaret the Faithful to Prayer”, 1879, Öl auf Leinwand. Das Gemälde illustriert zugleich Orientalismus in der europäischen Kunst des 19. Jahrhunderts.
Ich will nochmal auf Kirchenglocke versus Muezzin-Ruf zurückkommen. Auch Kirchenglocken läuten nachts. Und laut einem Beitrag im Deutschlandfunk gab es 2016 nur dreißig Moscheen in Deutschland, die überhaupt einen Muezzin-Ruf einsetzen, im als Beispiel verwendeten Düren der nächtlichen Ruhe wegen nur dreimal am Tag (Düren. Und täglich grüßt der Muezzin, Deutschlandfunk 2016). Geht es in der Debatte nicht also auch um das Aushandeln kultureller Normen? In einem anderen Fall im Ruhrgebiet verhindert die Klage eines Anwohners aus dem Jahr 2015 Gebetsrufe einer Moscheegemeinde über Lautsprecher. Er sah seinen christlichen Glauben durch die öffentliche Übertragung der Gebetsrufe ins Freie herabgesetzt (Gebetsrufe im Ruhrgebiet. Stadt klagt gegen Muezzin-Verbot, n-tv 2018). Was wäre demgegenüber ein säkulares Verständnis von Öffentlichkeit?
Selbstverständlich geht es grundsätzlich um das Aushandeln kultureller Normen, da diese teilweise stark von der Religion bestimmt werden, aber auch um Grenzsetzungen; das gehört dazu. Ich muss zugeben, dass ich erfreulicherweise immer in Umgebungen gelebt habe, in denen nachts keine Kirchenglocken läuten – höchstens mal in der Weihnachts- oder Osternacht oder zu sonstigen sehr hohen religiösen Anlässen. – Ein säkulares Verständnis von Öffentlichkeit würde nicht mit religiösen Argumenten arbeiten, sondern mit dem Argument der „nächtlichen Ruhestörung“.
Es mag an meiner Perspektive als Religionswissenschaftler liegen, aber ich sehe in Forschungsarbeiten wie derjenigen von Kristina Dohrn (Hizmet in Tansania und Deutschland: Feldforschung in der Bewegung des Fethullah Gülen, 2016) oder Nina Käsehage (Salafismus in Deutschland: Gefährliche Wissenschaft? Rezension zum Werk Nina Käsehages, 2018), die also mit anthropologischen oder sozialwissenschaftlichen Zugängen ins Feld gehen und heutige Religionsgemeinschaften vor Ort untersuchen, einen wichtigen Beitrag zur Islamforschung. Dennoch scheinen Arbeiten dieser Art kaum in die öffentlichen Debatten einzugehen oder auch nur in die Fachdebatten. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Zunächst muss ich zugeben, beide Arbeiten selbst nicht zu kennen. Woran das liegt, dass solche Arbeiten (noch) nicht breiter wahrgenommen werden, weiß ich nicht. Es mag daran liegen, dass sozialwissenschaftliche Studien grundsätzlich eher nicht als „attraktive Lektüre“ gelten; häufig sind sie ja etwas trocken. Es mag auch daran liegen, dass man rein religionswissenschaftlichen und/oder ethnologischen Arbeiten ohne islamwissenschaftlichen Hintergrund nicht so recht traut, möglicherweise zu recht; sie erscheinen manchen Außenstehenden vielleicht als „ein wenig naiv“. Allgemein traut man bis heute eher Theologen und Juristen, besonders, wenn diese ihre Fächer mit Islamwissenschaft kombiniert haben. Gerade im Bereich der Salafismus-Forschung gab es schon Einiges an Forschung und Veröffentlichungen, beispielsweise die – ich sage mal vorsichtig: diplomatisch, dabei äußerst fundiert, aufgebaute – Aufsatzsammlung von Birgit Krawietz und Georges Tamer (Eds.), „Islamic Theology, Philosophy and Law. Debating Ibn Taymiyya and Ibn Qayyim al-Jawziyya” von 2013. Darin findet sich u. a. ein interessanter Beitrag von Annabelle Böttcher über die Rezeption dieser beiden Denker als wechselnde Salafi-Ikonen außerhalb der arabischen Welt – konkret: In Deutschland, und hier besonders in Leipzig. Man kann sicherlich guten Gewissens sagen, dass es ein wesentlicher Unterschied ist, ob man als Wissenschaftler/in über unproblematische oder über problematische Gruppen arbeitet; Ersteres ist möglicherweise langweiliger und weniger prestige-trächtig, Letzteres setzt von vornherein gewisse schärfere Regeln und Vorsichtsmaßnahmen voraus, birgt aber evtl. ein sensations-wirksames spektakuläres Ergebnis in sich. Jedenfalls ist im letzteren Fall der forschenden Person von vornherein eine gewisse Bewunderung von Außenstehenden sicher, weil sie sich ja etwas Ungewöhnliches traut, vor dem Viele zurückscheuen. Jede/r Wissenschaftler/in muss selbst entscheiden, welchen Tanz auf rohen Eiern er oder sie sich zutraut und wie weit man gehen möchte. Angehörige religiöser Gruppierungen, besonders solchen Randständigen, können äußerst misstrauisch und zugleich äußerst anhänglich bzw. aufdringlich sein, und Manche neigen schnell zu Verschwörungstheorien, die dann zu entsprechendem „Kontrollverhalten“ führen können. Man denke nur an die „Zeugen Jehovas“, die aufgrund ihrer Missionsverpflichtungen häufig an der Haustür klingeln. Insgesamt muss ich aus persönlicher Erfahrung und Sicht aber betonen, dass sich Islam- und Religionswissenschaft in vielen Forschungsbereichen hervorragend ergänzen.
Danke für das Interview.
Das Interview führte Kris Wagenseil.
Kleine Anmerkung:
Die Zugehörigkeit zu einer Kirche der “Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen” (AcK) bedeutet nicht die Zahlung von Kirchensteuer, wie das häufig gesagt wird. Viele Kirchen der AcK – Orthodoxe, Freikirchen – erheben keine Kirchensteuer, sondern finanzieren sich mit anderen Mitteln. Von Luft und Liebe lebt keine. Teilweise genügt aber das bloße Bekenntnis der Zugehörigkeit, teilweise verlangen sie von ihren Mitgliedern Beiträge, die sehr viel höher sind als die Kirchensteuer (Zehnt).
Grundsätzlich ist die Kirchensteuer ein Mittel, das über das rein verbale Bekenntnis zu einer Glaubensgemeinschaft hinaus auch eine Verpflichtung zu einer finanziellen Teilhabe in sich schließt.