Anthropologie und Religion: Forschen über das Ende der Aushandlungen

Eva Spies (Reli­gion­swis­senschaft) und Mag­nus Echtler (Eth­nolo­gie), bei­de Uni­ver­sität Bayreuth ste­hen REMID Frage und Antwort zu den reli­gions­be­zo­ge­nen Fragestel­lun­gen der Jahresta­gung der Deutschen Gesellschaft für Sozial- und Kul­tur­an­thro­polo­gie (DGSKA) zum The­ma “Ende der Aushand­lun­gen?”.

Im Herb­st tagte die Deutsche Gesellschaft für Sozial- und Kul­tur­an­thro­polo­gie zum The­ma “Ende der Aushand­lun­gen?”: “Dass Wirk­lichkeit­skon­struk­tio­nen und Bedeu­tungszuschrei­bun­gen sozial ver­han­delt wer­den, ob während religiös­er Zer­e­monien, in Flüchtlingslagern oder in natur­wis­senschaftlichen Labors, ist in den ver­gan­genen Jahrzehn­ten zu einem konzep­tionellen Grundbe­stand eth­nol­o­gis­chen Arbeit­ens gewor­den”. Genauer gehe es um “jene Prak­tiken […], mit­tels der­er die poten­tiell unbe­gren­zten Dynamiken sozialer Aushand­lun­gen durch Akte der Schließung zu einem Ende gebracht wer­den”. Was ist damit gemeint?

So wie wir das Tagungs­the­ma ver­standen haben und wie es durch die Tagungsteilnehmer*innen bear­beit­et wurde, ging es zum einen darum, den sozial­wis­senschaftlichen Begriff der Aus- und Ver­hand­lung und seine Imp­lika­tio­nen nochmals kri­tis­ch­er und empirien­ah zu beleucht­en. Also zu fra­gen, was meinen und erforschen wir genau, wenn wir sagen, dass sich (soziale) Wirk­lichkeit­en erst in und durch Inter­ak­tio­nen kon­sti­tu­ieren und Phänomene und Bedeu­tun­gen eben nicht gegeben sind, son­dern erst durch kon­textspez­i­fis­che Übereinkün­fte, Verpflich­tun­gen, Zielset­zun­gen und Kon­struk­tio­nen entste­hen und daher auch im Fluss sind.

Zum anderen – und darauf bezieht sich das „Ende der Aushand­lung“ – ging es darum, zu fra­gen, wie wir auch (glob­ale) soziale, poli­tis­che und kul­turelle Prozesse fassen kön­nen, die dieser Offen­heit und Flu­id­ität entste­hen­der Lebenswel­ten Gren­zen set­zen bzw. uns mit Posi­tio­nen auseinan­der­set­zen kön­nen, die eben nicht davon aus­ge­hen, dass soziale Real­itäten immer nur vor­läu­fige Ergeb­nisse von Aushand­lung sind, son­dern beispiel­sweise „natür­lich“ gegeben, autori­ta­tive Set­zun­gen oder moralis­che Überzeu­gun­gen.

Eine religiöse Tra­di­tion ist aus Aushand­lungsper­spek­tive beispiel­sweise immer Resul­tat von Inter­ak­tio­nen und vielfälti­gen Bezug­nah­men; gle­ichzeit­ig wer­den durch ortho­doxe Bewe­gun­gen oder Iden­tität­spoli­tiken oder auch in jedem Zen­sus durch die Unter­schei­dung unter­schiedlich­er „Reli­gio­nen“ religiöse Ein­heit­en und Gren­zen fest­geschrieben und ten­den­ziell als sta­tisch und unver­han­del­bar ver­mit­telt. Wie fasst man diese Gle­ichzeit­igkeit der Gegen­sätze (wie der Indologe/Soziologe Mar­tin Fuchs das nen­nt) konzeptuell und empirisch? Hil­ft da der Aushand­lungs­be­griff noch weit­er? Ver­leugnet er nicht zu sehr die mach­ta­sym­metrischen Prozesse, indem er Ideen von Kreativ­ität, Teil­habe, Gegen­seit­igkeit oder die Ver­tragslogik eher her­vorhebt als die machtvollen Prozesse der Bes­tim­mung dessen, was für wen über­haupt als ver­han­del­bar gilt und was nicht?

Ein Work­shop, den Sie mit Mag­nus Echtler organ­isiert haben, drehte sich um die Pro­duk­tion religiös­er Autorität: “Wieder andere legit­imieren religiöse Autorität über Ver­weise auf men­schliche Errun­gen­schaften wie Tol­er­anz, Ver­nun­ft und Kon­sens­fähigkeit und ver­suchen durch den Auss­chluss der schein­bar Intol­er­an­ten und Unvernün­fti­gen, Diskus­sio­nen um Autorität und Wahrheit zu been­den.” Ich finde es dabei immer wieder span­nend, wie weitre­ichend die Ein­flüsse religiös­er Autorität reichen. So etwa als Beispiel in den kri­tis­chen Rep­liken auf die Ten­denz, auch in der Erstel­lung unser­er Reli­gion­ssta­tis­tik, die jüngst von Fachkol­le­gen — ich hoffe scherzhaft — als “post­mod­erne Sta­tis­tik” beze­ich­net wurde, “religiöse Vielfalt” entsprechend weit zu fassen. Es geht im Detail um ein­er­seits Neue religiöse Bewe­gun­gen, die manche eher Neue spir­ituelle Bewe­gun­gen nen­nen, ander­er­seits um die Inte­gra­tion der­jeni­gen, die sich nicht-religiösen Weltan­schau­un­gen zuord­nen. Dabei ging es allerd­ings niemals um ein “Ende der Kri­tik” (in Anlehnung an den Tagungsti­tel), son­dern es hat damit zu tun, bes­timmte Ter­mi­nolo­gien als religiös gefärbt zurück­zuweisen, und damit auch bes­timmte For­men von essen­zial­is­tis­ch­er Reli­gion­skri­tik. Wie das Wort “Sek­te”. Nun ging es auch in Ihrem Work­shop um eine “neue[.] begrif­fliche[.] Fas­sung von ‘religiös­er Diver­sität’ ”. Was meinen Sie damit?

In unserem Work­shop ging es in Vorträ­gen von Franziska Fay, Nadine Sievek­ing und Mag­nus Echtler um empirische Beispiele zum The­ma „Her­stel­lung religiös­er Autorität“. Diese Her­stel­lung beruht ja in großen Teilen darauf, dass Aushand­lun­gen um die Fra­gen stat­tfind­en: wer / was hat Autorität, wer / was ist auf­grund wovon legit­imiert eine bes­timmte Posi­tion einzunehmen und wie wird die notwendi­ge soziale Anerken­nung von Autorität erre­icht? In diesem Sinne ist Autorität immer Pro­dukt sozialer Inter­ak­tion und damit immer rela­tion­al, prekär, vor­läu­fig. Gle­ichzeit­ig müssen solche Aushand­lung­sprozesse schein­bar auch ein (vor­läu­figes) Ende find­en, wenn religiöse Autorität als solche und damit als „nicht (mehr) ver­han­del­bar“ anerkan­nt wer­den soll. Wenn also bspw. ein Nach­fol­ger für eine Führungspo­si­tion gefun­den wurde, wenn eine neue Form der Ver­mit­tlung religiösen Wis­sens als legit­im gilt oder eine spez­i­fis­che Posi­tion als ortho­doxe fest­gestellt wird. Dann fragt sich, wer hat es wie zus­tande gebracht, dass die Aushand­lung als been­det erscheint und sozusagen Gren­zen geschlossen wur­den; Gren­zen zu anderen For­men der Legit­imierung von Autorität, Gren­zen zu anderen Wis­sens­for­men oder zu anderen Posi­tio­nen, die nicht als ortho­dox gel­ten. Konkret disku­tierten wir beispiel­sweise, wie zur Koran­lek­türe befähi­gende Ara­bis­chkurse, unter­richtet in säku­laren Insti­tu­tio­nen und durch eine Prü­fung abgeschlossen, mithin also bürokratisch zer­ti­fiziertes Wis­sen, die Kursteilnehmer*innen (aus der urba­nen Mit­telschicht Sene­gals) ermächti­gen, religiöse Autorität zu begrün­den bzw. in Frage zu stellen. Oder, wie lokale Akteure in San­si­bar die nicht ver­han­del­baren und gegen­sät­zlichen Stand­punk­te glob­aler Kinder­rechts­diskurse und islamis­ch­er Moralvorstel­lun­gen bezüglich der kör­per­lichen Diszi­plin­ierung von Kindern ver­han­deln, indem sie alter­na­tive Koran­in­ter­pre­ta­tio­nen mobil­isieren und Men­schen­rechte in religiöse Ter­mi­nolo­gie über­set­zen. Oder den Fall, dass der neue Mes­sias ein­er südafrikanis­chen Kirche nicht der­jenige wurde, der vom Vorgänger ernan­nt und per Gericht­surteil bestätigt wurde, son­dern sein Konkur­rent, weil ihn ein Häuptling qua sein­er tra­di­tionalen Autorität dazu erk­lärt hat.

Diese Aushand­lung­sprozesse sind also immer Bestandteil plu­raler Kon­texte während das (vor­läu­fige) Ende der Aushand­lung ten­den­ziell Plu­ral­ität reduziert oder eine spez­i­fis­che Form von Plu­ral­ität festschreibt, so wie es eben auch jede Kat­e­gorie ein­er Sta­tis­tik (vor­läu­fig) tut. Jedes Ende der Aushand­lung kann aber natür­lich wiederum Anlass bieten, eine neue Aushand­lung zu begin­nen und eben Kat­e­gorien infrage zu stellen. Unser Gedanke ist daher, Diver­sität in der Forschung als Prozesse der Dif­feren­zierung zu ver­ste­hen und (in Anlehnung an das Bayreuther Exzel­len­z­clus­ter Africa Mul­ti­ple) unsere Forschungs­ge­gen­stände wie auch unsere Kat­e­gorien als Ergeb­nis rela­tionaler Prozesse. Dabei geht es darum, religiöse Vielfalt nicht nur als vielfältige For­men der gegebe­nen Ein­heit Reli­gion oder als Teile eines Ganzen zu ver­ste­hen, son­dern religiöse Tra­di­tio­nen als in sich mul­ti­ple Pro­duk­te von Prozessen des Inbeziehungset­zens oder Abgren­zens. Wo und wie wird die Gren­ze von religiös zu nicht-religiös gezo­gen oder wie entste­ht eine Form der Autoritäts­be­grün­dung in Rela­tion zu anderen For­men, zu den Medi­en und Mate­ri­al­itäten, die genutzt wer­den, zu diversen agen­cies und zu unter­schiedlichen Konzepten von Autorität?

In einem Work­shop von Kat­ja Rieck geht es um “moments of non-nego­tia­bil­i­ty in ‘doing good’ or ‘doing right’ ”. Ein­er­seits deutet ja bere­its “Jen­seits von Gut und Böse” von Friedrich Niet­zsche an, dass es auch um reli­gion­skri­tis­che Fragestel­lun­gen geht. Ander­er­seits — Sie wer­den schnell erah­nen, warum ich das kenne — gibt es da ein bes­timmtes religiös­es Motiv: “Wehe denen, die die Schuld her­beiziehen mit Strick­en des Nichts, und die Sünde wie mit Wagen­seilen! Die da sagen: Es eile, es komme rasch sein Werk, damit wir es sehen! Und der Ratschluss des Heili­gen Israels nahe her­an und komme, damit wir ihn erken­nen! Wehe denen, die das Böse gut nen­nen und das Gute böse; die Fin­ster­n­is zu Licht machen und Licht zu Fin­ster­n­is; die Bit­teres zu Süßem machen und Süßes zu Bit­terem!” (Jesa­ja 5,18–20). Sicher­lich drückt dieses Bibelz­i­tat die Nicht-Aushan­del­barkeit von ‘Gutes tun’ aus. Und den­noch würde ich das Zitat nicht auf eine z.B. “reifi­ca­tion of pow­er rela­tions or struc­tures” reduzieren, wie vielle­icht den per­for­ma­tiv­en Akt der Zehn Gebote selb­st. Nun ver­spricht auch der Work­shop in Rekurs auf David Grae­ber: “Recent­ly anthro­pol­o­gists have turned to the study of ‘the good’ pre­cise­ly to cor­rect what is per­ceived as the lop­sided per­spec­tive on the nego­tia­bil­i­ty of social life that result­ed from the post­struc­tural­ist turn”. Worum geht es da?

Hier ging es unter anderem um die Erforschung sozialer (auch religiös­er) Aktivis­ten und ihrer gesellschaftlichen Pro­jek­te zum Beispiel in Pak­istan oder auch um para-staatliche gewaltvolle Inter­ven­tio­nen „für das Gemein­wohl“ wie sie im war on drugs auf den Philip­pinen erfahren wer­den. The­ma waren also solche Akteure, die eine (schein­bar) ein­deutige Posi­tion dazu ein­nehmen, was sie für gut und richtig hal­ten und gegen was sie ankämpfen. Ethis­che Posi­tio­nen, spez­i­fis­che Werte und Moral wer­den ja oft als unver­han­del­bar ver­standen bzw. wer­den es in dem Moment, in dem man eine bes­timmte Posi­tion ver­tritt und andere Posi­tio­nen ablehnt oder auss­chließt. In der Sprache poli­tis­ch­er Ver­hand­lungs­forsch­er sind das dann „sacred val­ues“. Der Work­shop und Grae­bers Ein­wurf zielte, denken wir, auf die Frage ab, ob eine Forschungsper­spek­tive auf Aushand­lung nicht den Blick auf ger­ade solche Überzeu­gun­gen und Vorstel­lun­gen vom „Guten“ ver­stellt, indem sie vielmehr Flu­id­ität, Inter­essen und Strate­gien in den Mit­telpunkt stellt. Das ver­weist aber auch auf die Frage, inwiefern das Pos­tulieren von „Unver­han­del­barkeit“ eben auch ein „total­itär­er“ Akt des Auss­chlusses ander­er Posi­tio­nen ist (siehe die kon­tro­verse Debat­te um die Uni­ver­sal­ität der Men­schen­rechte). Zugle­ich wirft das auch eine Frage an die Wissenschaftler*innen selb­st und ihre poli­tis­che Posi­tion­ierung auf: Wie kön­nen wir noch (poli­tisch) Stel­lung beziehen, Werte und Posi­tio­nen vertreten, wenn wir immer nur die Flu­id­ität von Posi­tio­nen, Diskursen und Werten beto­nen? Bzw. wen und was schließen wir aus, wenn wir Stel­lung – natür­lich für „das Gute“ – beziehen?

Hier geht es also wieder um die zwei Ebe­nen, die enger miteinan­der ver­woben scheinen, als gedacht: zum einen der the­o­retis­che-konzeptuell inspiri­erte Forschungs­fokus, der Kul­tur, Gesellschaft, Reli­gion eben nicht als sta­tis­che gegebene „Ein­heit­en“ betra­chtet, son­dern Prozesse ihrer Her­stel­lung oder Emer­genz unter­sucht. Während gle­ichzeit­ig – zum anderen – Prozesse zu beobacht­en sind, die eben ger­ade von der Unver­han­del­barkeit bes­timmter Posi­tio­nen, Werte oder Ver­fahren aus­ge­hen und damit eventuell auch eher Inhalte als Prozesse und Sub­stanz statt Rela­tion­al­ität beto­nen.

In einem jüngst pub­lizierten Überblick “Meth­o­d­en der Reli­gion­swis­senschaft” wurde die entschei­dende Rolle der Eth­nolo­gie für diverse his­torische Öff­nung­sprozesse im Fach betont. In einem Vorge­spräch sagten Sie, “dass in der Reli­gion­swis­senschaft die sozi­ol­o­gis­chen bzw. sozial­wis­senschaftlichen Inter­view-Zugänge den (sehr zeitaufwändi­gen) ethno­graphis­chen Meth­o­d­en vorge­zo­gen wer­den”. Woran machen Sie das fest und was ent­ge­ht der Reli­gion­swis­senschaft eventuell damit?

Nach einem Artikel in der FAZ und diversen anderen Beiträ­gen im Inter­net wurde der “Quex­it” inner­halb der Sozi­olo­gie, der “Auszug[.] der quan­ti­ta­tiv­en Sozial­forschung aus der Sozi­olo­gie” (Ste­fan Hirschauer, Der Quex­it, Soziopo­lis, 2018), The­ma des sozi­ol­o­gis­chen Ascher­mittwochs 2019.

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Und mit den Teilnehmer*innen des Round­table, Heike Drot­bohm und Mar­tin Söke­feld, wurde “diskutier[t], welche Posi­tio­nen die Eth­nolo­gie gegenüber diesen Grenzziehun­gen und Dif­feren­zierung­sprozessen ein­nehmen kann. Wie gehen wir mit Gren­zen um, die als schein­bar unver­han­del­bar dargestellt wer­den, wie ver­hal­ten wir uns gegenüber Kri­te­rien der Zuge­hörigkeit, die geset­zt oder als selb­stver­ständlich artikuliert wer­den, wie sehen wir die Grenzziehun­gen von Akteur*innen, deren poli­tis­che Posi­tio­nen wir teilen?”. Und in der Sozi­olo­gie gibt es einen Meth­o­d­en­stre­it, um einen “Quex­it” (ganz aktuell ver­wech­sel­bar mit unter dem­sel­ben Stich­wort fir­mieren­den Entwick­lun­gen um Queens­land in Aus­tralien). Wie ist das inner­halb der Eth­nolo­gie? Wie sehr bet­rifft das The­ma Ihrer Tagung auch die Wis­senschaft selb­st?

So wie sich die Kul­tur- und Sozialan­thro­polo­gie / Eth­nolo­gie auf der Tagung präsen­tiert hat, ist die qual­i­ta­tive ethno­graphis­che Forschungsrich­tung ein­deutig die dom­i­nante. Auf der Tagung vor­tra­gende Doktorand*innen und Post*Doktorandinnen benan­nten typ­is­cher­weise die exak­te Länge ihrer Feld­forschun­gen, auch um deut­lich zu machen, dass ihr ethno­graphis­ch­er Zugang sich von Kurzeitaufen­thal­ten und Inter­view­forschun­gen unter­schei­det: Auch wenn sich dies stark verän­dert, ist die Eth­nolo­gie mehrheitlich noch eher in außereu­ropäis­chen Kon­tex­ten forschend tätig, was nochmals andere (sprach­liche, soziale, kul­turelle, ethis­che, poli­tis­che) Her­aus­forderun­gen mit sich brin­gen kann, als Forschun­gen „im eige­nen Land“ oder kürzere Forschungsaufen­thalte. Eventuell sind daher post- und dekolo­niale Debat­ten ger­ade in diesem Fach sehr präsent und vielle­icht wer­den daher auch Debat­ten zu (Forschungs-)Ethik, sowie zu epis­te­mol­o­gis­chen und ontol­o­gis­chen Fra­gen in der Eth­nolo­gie ener­gis­ch­er geführt als wir dies in der Reli­gion­swis­senschaft erleben. Sie ver­weisen auf die poli­tis­chen Imp­lika­tio­nen von Forschun­gen und die Posi­tion­ierun­gen der Forschen­den, die nicht nur im Rah­men der genan­nten Debat­ten sehr aktiv disku­tiert wer­den, son­dern auch in denen um die „öffentliche Rolle“ der Kul­tur-und Sozialan­thro­polo­gie, sei es in Fra­gen von Migra­tion, Diver­si­ty, Resti­tu­tion bzw. all­ge­mein des Kon­tak­ts zur außer­akademis­chen Öffentlichkeit (vgl. die neuge­grün­dete AG Pub­lic Anthro­pol­o­gy)

Diese Debat­ten gibt es natür­lich auch in der Reli­gion­swis­senschaft. Unser Ein­druck ist aber, dass sie in der Eth­nolo­gie / Sozial- und Kul­tur­an­thro­polo­gie eher zum Selb­stver­ständ­nis des Fachs gehören und daher auf bre­it­er­er Basis geführt wer­den.

Gle­ichzeit­ig scheint es in der Reli­gion­swis­senschaft aber ein sehr viel weit­eres Meth­o­d­en­spek­trum zu geben; Ethno­graphis­che Langzeit­forschung ist hier eben nur ein­er von vie­len Zugän­gen, was wir wiederum sehr begrüßen. Den­noch scheint uns bei­den für die Gegen­warts­forschung der ethno­graphis­che Zugang (die Feld­forschung) der frucht­barste. Der ist zwar sehr zeitaufwändig, aber nur dieser hohe Aufwand ermöglicht eben die Teil­nahme am Alltäglichen, das Ein­tauchen in eine andere Lebenswelt. Teil­nehmende Beobach­tung als Meth­ode ist als Teil­nahme materiell, kör­per­lich und notwendi­ger­weise inter­sub­jek­tiv, spricht als Beobach­tung alle Sinne an, und ist ihrem Wesen nach offen für die tägliche Unter­brechung der Forschungs­frage durch das Uner­wartete. Sie ermöglicht Ein­blicke in die Rela­tion von Diskurs und Prax­is, erfordert die tägliche Aushand­lung per­sön­lich­er Beziehun­gen, und ver­weist die Forscher*in wieder­holt auf die Unver­han­del­barkeit ihrer eige­nen Posi­tion­al­ität.

Ins­ge­samt ist die Kul­tur-und Sozialan­thro­polo­gie genau­so wie die Reli­gion­swis­senschaft als wis­senschaftliche Diszi­plin zunehmend (von den Forschungspartner*innen, Kolleg*innen, den poli­tis­chen Bedin­gun­gen) her­aus­ge­fordert anzuerken­nen, dass es die dis­tanzierte, neu­trale und völ­lig unpoli­tis­che wis­senschaftliche Posi­tion nicht gibt und die Pro­duk­tion wis­senschaftlichen Wis­sens zum einen ein rela­tionaler und zum anderen auch ein poli­tis­ch­er Prozess ist.

“The end of nego­ti­a­tions in the Mid­dle East? Debat­ing the pow­er of every­day life and scopes for action after post-Islamism”, heißt ein Work­shop von Maren Jor­dan und Clau­dia Liebelt. Auch eth­nol­o­gis­che Islam­forschung hat­ten wir im Vorge­spräch the­ma­tisiert. Die Lei­t­erin­nen des Work­shops spitzen ihre Frage zu: “One key ques­tion that has been con­tro­ver­sial­ly debat­ed with­in the Anthro­pol­o­gy of Islam in recent years is the rela­tion between mun­dane prac­tices of every­day life and the nor­ma­tive for­ma­tion of (pious) sub­jec­tiv­i­ties, as well as their polit­i­cal impli­ca­tion”. Nun ist selb­st der Aus­druck “Post-Islamis­mus” für die öffentliche Debat­te erläuterungs­bedürftig. Was ist damit gemeint? Wie kön­nte die kon­tro­verse Debat­te inner­halb der Anthro­polo­gie des Islam den Hor­i­zont — sowohl der deutschsprachi­gen Reli­gion­swis­senschaft als auch der Medi­endiskurse — bere­ich­ern?

Wir arbeit­en bei­de zu christlichen Tra­di­tio­nen und arbeit­en selb­st nicht mit dem Begriff „Post-Islamis­mus“. Soweit wir ver­standen haben bezog sich Post-Islamis­mus im Work­shop auf das Konzept des Islamwis­senschaftlers Asef Bay­at und die dadurch angeregte Diskus­sion, inwieweit sich „islamistis­che Bewe­gun­gen“ verän­dern / verän­dert haben und dabei neue For­men von All­t­agspoli­tik, sozialen Bewe­gun­gen oder neue Räume sozialen oder poli­tis­chen Engage­ments eröffnet haben. Der Work­shop the­ma­tisierte aber weniger die Debat­ten um den Begriff, als gelebten All­t­ag. Vor dem Hin­ter­grund, dass das Demokratiev­er­sprechen „post-islamistis­ch­er“ Bewe­gun­gen seit 2011 vielerorts nicht mehr aktuell ist, standen im Work­shop zunächst eher All­t­agser­fahrun­gen und ‑prak­tiken zum Beispiel in Ägypten, Iran oder der Türkei im Mit­telpunkt und erst dann die Frage, wie diese in Zusam­men­hang ste­hen mit und ein­wirken auf religiös-nor­ma­tive Vor­gaben und sozio-poli­tis­che Ord­nun­gen. Clau­dia Liebelt unter­sucht beispiel­sweise alltägliche geschlechtsspez­i­fis­che Hand­lungsräume in der heuti­gen Türkei, indem sie sich in Schön­heitssa­lons den verän­dern­den For­men von Fem­i­ninität und Fröm­migkeit annäherte. Sie zeigt damit nicht nur sich wan­del­nde All­t­agsvorstel­lun­gen von Ästhetik und (from­mer) Weib­lichkeit, son­dern auch die sich verän­dern­den Vorstel­lun­gen von angemessen­em weib­lichen Auftreten in der türkischen Öffentlichkeit. Samuli Schielke und Aymon Kreil befassten sich mit der Sehn­sucht nach Nor­mal­isierung und Sta­bil­ität in Ägypten nach 2014 und den Ver­suchen junger Men­schen, einen eige­nen und doch bisweilen „kon­ven­tionellen“ Lebensweg zu find­en.

Was hier­bei wessen Hor­i­zont erweit­ern kön­nte, wis­sen wir nicht. Die Ten­denz der Anthro­pol­o­gy of Islam weniger auf „Islam“ bzw. auf „Reli­gion“ zu fokussieren und sehr viel stärk­er Lebens- oder All­t­agswel­ten in den Blick zu nehmen, scheint uns aber ein sehr frucht­bar­er Zugang für die gesamte empirische Reli­gions­forschung. Denn Reli­gion ist für die meis­ten Men­schen eben nur eine Facette des Lebens von sehr vie­len und hier liegt der Schw­er­punkt eher auf dem gelebten Leben und den Träu­men, Bedürfnis­sen und Sehn­sücht­en der Men­schen mit denen man forscht.

Danke für das Inter­view!

Das Inter­view führte Kris Wagen­seil.

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