Religion, Politik und Partei(programm): Von Glücksempfinden und gesellschaftstragenden Utopien

Der erste Weltglücksbericht der UNO ist vor kurzem erschienen. Am Glücklichsten sei man in Dänemark, Norwegen, Finnland und den Niederlanden, dagegen empfinde man in Benin, in der Zentralafrikanischen Republik und in Togo am wenigsten Glück. Deutschland kommt beim Gallup World Poll nur auf den 30., beim World Happiness Report auf Platz 47. An erster Stelle stehe dabei Arbeit bzw. Erwerbstätigkeit als Faktor des Glücks, dicht gefolgt von Partnerschaft und Religion. Auch Gesundheit und eine grüne Umwelt sind wichtig (vgl. taz-Artikel vom 27. Mai). Insgesamt bringen die Autoren der Studie es auf folgende Formel: „Solange es kein hohes Niveau von Altruismus und Vertrauen untereinander gibt, kann eine Gesellschaft nicht glücklich sein. Deshalb riet schon Aristoteles, dass Glück hauptsächlich durch tugendhafte Akte angestrebt werden sollte. Auch Buddha und unzählige andere Weise argumentieren so, ebenso viele heutige Psychologen und moralische Führer.“ (zitiert nach ebenda). Doch was befördert ein “hohes Niveau” kooperativen Handelns? Welche Rolle spielt “Religion” dabei? Und in Anbetracht der taz-Formulierung “vor allem in armen Ländern mit unsicheren Lebensbedingungen hat der Glaube offenbar eine deutlich tröstende Funktion”: Wie verändert sich die Perspektive, wenn man nicht allein auf “Religionen” im Sinne eines konventionellen Begriffes schaut, sondern überhaupt nach dem fragt, was man als “gesellschaftstragende Utopien” bezeichnen könnte?

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Quo vadis, domine? Eurozentrismus(kritik) in der Religionswissenschaft

“Mit Europa und den USA endet die Welt nicht”, soll Wladimir Putin im Interview mit der Tagesschau am 30. August 2008 gesagt haben. Über die Zusammenarbeit mit chinesischen Sport-Journalisten äußerte Reporter Heribert Faßbender im Stern (Nr. 35/2008 vom 21. August 2008, S. 154): “Mein wichtigster Rat: Interpretiert und praktiziert die Menschenrechte und die Pressefreiheit so, wie wir das in Europa tun”. Die im Kolonialismus, aber auch in der euro-amerikanischen Ideengeschichte fußende Überheblichkeit des Westens ist längst ein vertrauerter Topos. Entsprechend variiert es der amerikanische Blick – der Sänger und Schaupieler Harry Belafonte wird in der Stuttgarter Zeitung vom 13. März 2003 zitiert mit den Worten: “Die Vokabel ‘altes Europa’ zu benutzen, das ist, als würde man sagen, die Bürgerrechte sind alt, Jesus ist alt, die Philosophen sind alt – und genau das ist der Punkt. Noch mal: Geschichte ist dazu da, aus ihr zu lernen. Europa ist da in einem höheren Reifestadium. Das ist nicht eure Schande, sondern eure Ehre.” – Samir Amin arbeitete 1988 die Denkfigur des “Eurozentrismus” heraus (L’eurocentrisme, critique d’une idéologie, Paris). Andere Autoren wie der Ägyptologe Jan Assmann (Die mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, 2003) oder der Sinologe François Jullien (De l’universel, de l’uniforme, du commun et du dialogue entre les cultures, 2008) versuchen für ihr jeweiliges Gebiet näher herauszuarbeiten, was das Spezifische des europäischen Ethnozentrismus sein könnte. Wie sieht es allerdings in der Religionswissenschaft aus? Inwiefern ist sie eurozentrisch? Zu diesen Fragen interviewte REMID die Religionswissenschaftlerin Dr. Angelika Rohrbacher (vgl. Eurozentrische Religionswissenschaft? Diskursanalytische Methodik an den Grenzen von Ost und West. Marburg: Tectum, 2009).

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Märchen und Magie zwischen Wirklichkeit und Fiktion. Eine Kritik

Anlässlich des Gebrüder-Grimm-Jahres veranstaltete REMID am 30. April einen Vortragsabend. Die Marburger Brüder-Grimm-Stube war gut besucht. Im Gegensatz zu vielen Darstellungen des Märchens als universale Erzählform mit vornehmlich ursprünglich oraler Verbreitung wurde seine besondere Rolle als Produkt der europäischen Geschichte betrachtet. Das Mittelalter kennt im eigentlichen Sinn keine Märchen (auch wenn heute manches als solches verkauft werden mag). Das Märchen besteht streng genommen nur als “Kunstmärchen” und ist zu unterscheiden von Textformen wie dem Artusroman, der Heiligenlegende, dem Heldenepos, dem Schwank oder der Aesop nachempfundenen Tierfabel. Das Pentameron (1634-36) zeigt sogar, dass Märchen als Textgattung in Abhängigkeit stehen können zur im Humanismus entwickelten Form der Novelle: Titel und Struktur des Werkes sind an Giovanni Boccaccios Novellensammlung Decamerone (1349-1353) orientiert. Letztlich liegt einfach ein schwerwiegendes Missverständnis vor: Das Märchenhafte des Mittelalters ist ein Resultat der inneren Kritik der Aufklärung seit der Reformation in Europa. Erst durch diese Filter und unter Reflexion der Erfahrungen im Kolonialismus, in der Romantik, im Nationalismus usf. wurden Märchen heute das, was sie unterstellen immer schon gewesen zu sein: zum Ausdruck einer universellen Stimme des Mythos (wie des kollektiven Unbewussten).

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Der “arische” Jesus und “arteigene Religion”: Neue Studie zu einem spirituellen deutschen Sonderweg

Die Wiederbelebung sogenannter “heidnischer” Religionen setzte zwar gleichzeitig mit der Entwicklung der Nationalismus-Idee ein, doch ist das aus christlicher Perspektive konstruierte Konzept des Paganen ebenso offen für Universalisierungen. So unterscheiden sich frühe Versuche keltischer Orden in Anlehnung an die Freimaurerei in England stark von heutigen populären Bewegungen wie Wicca, modernen Schamanismus oder den meisten ethnisch konstruktiven Formen von Paganismus (keltisch, germanisch, slawisch, römisch, griechisch usf.). Entsprechend speziell sind biologistisch-rassistische Konzepte sogenannter “arteigener Religion” im deutschsprachigen Raum vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Zeit des Nationalsozialismus. Als interdisziplinäre Arbeit zwischen Neuerer Geschichte und Religionswissenschaft entstand an der Universität Hannover Jörn Meyers‘ Studie „Religiöse Reformvorstellungen als Krisensymptom? Ideologen, Gemeinschaften und Entwürfe ‘arteigener Religion’ (1871-1945)“. REMID interviewte den Autoren.

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Religion und Öffentlichkeit am Beispiel der Medienberichterstattung zur Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage

Ob es bei der Deutschen Bank um den Ackermann-Nachfolger Anshu Jain und seine Herkunftsreligion, den Jainismus, geht oder um aktuelle US-Präsidentschaftskandidaten – auf einmal spielen die auf diese Weise ins Gespräch kommenden Religionen in den Medien eine Rolle. Während die Medien auf diese Weise Privates in das Blickfeld des öffentlichen Interesses erheben, spielen Religionen als öffentlicher Akteur selbst zunehmend eine marginaler werdende Rolle – zumindest äußern Vertreter der Religionen solche Wahrnehmungen mit Besorgnis (man vgl. Blog-Artikel “Wie steht’s mit der Offenheit für Religionen in Großbritannien? – Die Baroness, der Papst, die Jedi-Ritter und die Medien“). REMID möchte zu diesem Fragenkomplex eine Artikelserie starten, die mit interessanten Beiträgen aus verschiedenen Perspektiven das aktuelle Verhältnis von Religionen und Öffentlichkeit erörtert. Den Anfang macht ein Interview mit Dr. Ralf Grünke, Sprecher der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage als stellvertretender Direktor des Europäischen Büros für Öffentlichkeitsarbeit.

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Religion und Menschenrechte. Im Gespräch mit Amnesty International

In der letzten Woche wurde ein neuer Report der Nicht-Regierungs-Organisation Amnesty International veröffentlicht. Es geht um die Diskriminierung von Muslimen in Europa. Das Medienecho ist kontrovers. Etwa wenn es, wie im Fall Frankreich, auch mit einer laizistischen Tradition zu tun hat, dass religiöse Symbole oder das Tragen religiöser Kleidung in bestimmten öffentlichen Räumen eingeschränkt worden sind. Das “Anti-Burka-Gesetz” allerdings kann genauso als Ausdruck von Islamophobie verstanden werden (vgl. Telepolis-Artikel “Ein Fall für den Europäischen Gerichtshof der Menschenrechte”). Menschenrechte und Religion(en) können sowohl in Konflikt miteinander geraten als es auch Menschenrechte in Bezug auf religiöse bzw. weltanschauliche Selbstbestimmung gibt. Schließlich haben Menschenrechte als ethischer Wertekanon auch in ihrer Diskussion immer schon Bezüge zur Philosophie und zu religiösen Traditionen. REMID interviewte aus aktuellem Anlass Ulrike Fell von der Themenkoordinationsgruppe Religion und Menschenrechte bei der deutschen Sektion von Amnesty International.

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Ein Versuch über Rudolf Ottos „Das Heilige“

Gewisse Schwierigkeiten können sich demjenigen in den Weg stellen, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts versucht, sich auf eine angemessene Weise dem Werk Rudolf Ottos zu nähern. Sein Hauptwerk „Das Heilige – Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen“ von 1917 (im folgenden zitiert nach der 23-25. Auflage, München: Beck 1936; die eigenwillige Orthographie entstammt Ottos Wunsch) mag ein Meilenstein in der Geschichte der Religionswissenschaft sein, doch erscheint es für den Fachfremden erst einmal so, als spiele Ottos Werk in aktuellen Diskursen kaum eine Rolle. Sein Begriff des „Numinosen“ hingegen ist wohl in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen, wie ein kurzer Blick ins Internet ergibt.

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Religion online: Digitale Sinnsucher, virtuelle heilige Stätten und die Rolle des Tabus

Virtuelle Welten haben von Anfang an einen utopischen Charakter – sei es das “Projekt Xanadu” als früher Versuch einer digitalen universalen Bibliothek 1960 (benannt nach einer Zeile des Gedichtes “Kubla Khan Or A Vision in a Dream” von Samuel Taylor Coleridge von 1798), sei es die später gebrochene Euphorie eines Stanislaw Lem (vgl. die Artikel des Science-Fiction-Autoren auf Telepolis, insbesondere “Progression des Bösen” von 2001 im Vergleich mit “Meine Abenteuer mit der ‘Futurologie’” von 1997). Überhaupt liegen virtuelle und ideale Welten qua Konstruktionsmoment schon nahe beisammen (vgl. die Einführung des Bandes “Virtuelle und ideale Welten” von Ulrich Gehmann, Karlsruher Studien zur Technikgeschichte Nr. 8, Karlsruhe 2012). Sinnkonzepte, ob nun weltanschaulich, religiös oder spirituell, spielen also grundsätzlich eine Rolle. Wie es konkret um Religionen in den Neuen Medien bestellt ist, dazu befragte REMID die Religionswissenschaftlerin Anna Neumaier von der Ruhr-Universität Bochum.

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Ressource oder Wachstumsblase Bildung? “Religiöse” und utopische Aspekte eines besonderen Konzeptes

Betrachtet man den sogenannten “Verbraucherpreisindex für die Bundesrepublik Deutschland“, haben die meisten Graphen eine spätestens seit 2005 steigende Tendenz. Das meiste wird teurer, “Bekleidung und Schuhe” pendeln seit den 1990ern auf dem gleichen Niveau, ähnlich gibt es bei “Freizeit, Unterhaltung und Kultur” langfristig kaum Veränderung. Rasant abstürzend aus vergleichsweise schwindelnden Höhen verliert sich die “Nachrichtenübermittlung”. Dagegen klettert das “Bildungswesen” in solche Höhe empor, alle anderen Graphen weit hinter sich lassend.
Daneben steht etwa “Am schwarzen Berg” von Anna Katherina Hahn, das Werk erhielt die Auszeichnung einer Nominierung für den Leipziger Buchpreis 2012 unter der Rubrik “Belletristik”. Die Jury nennt den Roman um Peter und Mia im Stuttgart des Jahres 2010 eine “gnadenlose Milieustudie des alltäglichen Lebens zweier Familien mit den Gewohnheiten und Verzweiflungen einer akademischen Mittelschicht”. Moritz Bassler nennt das Buch in der TAZ gar einen “metabildungsbürgerliche[n] Roman“. Das “ganze bürgerliche Bildungskonzept” rücke “im Verlauf der Lektüre in ein neues, durchaus unerwartetes Zwielicht”. Viele Rezensenten sehen das (tragisch endende) Seelenleben eines idealtypischen “Wutbürgers” dargestellt, “bürgerliche Bildung” erscheint gar als idealistisch-humanistischer Religionsersatz – symbolhaft repräsentiert durch die schwäbische Romantik eines Eduard Mörike, aus dessen Gedicht “Die Elemente” der Titel entlehnt ist (“Am schwarzen Berg da steht der Riese…”).

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