Reaktionär, konservativ oder progressiv? Ein Glossar. Teil 1: Dialektik von Moderne und Mythos

“Im Fall des überwertigen Realismus kann davon gesprochen werden, dass Werte, Anpassungsforderungen bzw. der Status quo lediglich aufgrund ihrer bloßen (als unerschütterlich wahrgenommenen) Existenz unhinterfragt akzeptiert werden – und eben nicht, weil man sie für richtig hält. Man kann hier also von einer lediglich pragmatischen Akzeptanz (Mann 1970[: The social cohesion of liberal democracy. American Sociological Review 35: 424-439; Anm. C.W.]) der gesellschaftlichen Verhältnisse sprechen. Diese werden akzeptiert, weil sie bestehen und man sich keine andere Alternative vorstellen kann oder will. Es ist zu vermuten, dass es jemanden, der zum überwertigen Realismus neigt, vergleichsweise schwer fällt, gute, das heißt inhaltliche Gründe für seine Akzeptanz der sozialen Verhältnisse zu finden. Beim Wertkonservativismus liegen die Dinge jedoch anders. Hier kann eher von einer normativen Akzeptanz (ebd.) der Sozialordnung gesprochen werden. Die Wert- und Anpassungsvorstellungen werden hier von dem Einzelnen bewusst reflektiert, aus normativen Gründen übernommen und können daher auch auf Nachfragen expliziert und begründet werden” (und hier bestehen geringere Werte auf entsprechenden Skalen wie Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit; Veronika Schmid: Die unerträgliche Freiheit der Anderen – Studien zum überwertigen Realismus, Marburg 2013, S. 155f.). In anderen Worten: Es ist entscheidend für die Beurteilung einer Weltanschauung, ob sie in diesem Sinne als ‘reaktionär’, ‘konservativ’ oder ‘progressiv’ befunden wird. In wiederum anderen Worten: Es geht also darum, “religiösen” oder auch “weltanschaulichen” Nonkonformismus zu differenzieren (man vgl. die Interviews zum Graduiertenkolleg “Religiöser Nonkonformismus und kulturelle Dynamik” in Leipzig mit Thomas Hase, ‘In Sekten’? Religiöser Nonkonformismus als Auslöser kultureller Dynamik – aktuelle Ansätze in der Religionsforschung, 2012, und Jörg Albrecht, Religion und (alternative) Ernährung: Vom ‚Kohlrabi-Apostel‘ zum ‚Bionade-Biedermeier‘, 2018)

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Soziologie auf Abwegen? Vom Quexit und warum Geisteswissenschaftler*innen gerade besonders wichtig sind

Laut FAZ gibt es aktuell einen neuen “Methodenstreit” in der Soziologie (Artikel vom 23. Januar), genauer einen “Positivismusstreit”. “Natürlich gab es schon immer Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen sozialwissenschaftlichen Richtungen, insbesondere zwischen den Vertretern der qualitativ-hermeneutischen Ansätze und jenen der quantitativ-metrifizierenden Verfahren”, liest mensch da. Und: “seit dem Positivismusstreit der sechziger Jahre [habe] auch keine dieser Richtungen mehr einen Alleinvertretungsanspruch für das Fach angemeldet”. Vom “Quexit” ist die Rede, in Anlehnung an den “Brexit”, Englands geplanten Austritt aus der Europäischen Union, wegen der “Qualos”, den Vertreter*innen qualitativer Ansätze von Sozialforschung, einer “Pippi-Langstrumpf-Soziologie”. Mit diesen wird der “Quexit”, der “Auszug[.] der quantitativen Sozialforschung aus der Soziologie” (Stefan Hirschauer, Der Quexit, Soziolpolis, 2018), begründet. Oberflächlich betrachtet geht es um Ideen von Repräsentativität, der Initiator der ‘spaltenden’ “Akademie für Soziologie”, Thomas Hinz, spricht eher von einer “Unterrepräsentanz” quantifizierener Methoden, und widerspricht zumindest nicht der Zuordnung der Akademie zu “Positionen, die nah am Kritischen Rationalismus und Realismus liegen” (Blog des Soziologie-Magazins, Mai 2018). Eigentlich ginge es auch nicht um weniger Vielfalt in den Methoden, sondern darum “zu einem methodisch kontrollierten und transparenten Weiterentwickeln von Erkenntnissen bei[zu]tragen”, und dass “die wissenschaftlichen Ansätze [nicht] gleichsam um ihrer selbst begründet werden” (ebd.). Einheit in der Vielfalt? Das Problem ist weitaus komplexer, und hat sogar tatsächlich auch eine politische Dimension.

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Freigeistige Organisationen als Gegenstand der Religionswissenschaft: Typen, Strategien, Widersprüche

Diesen Monat erschien die Dissertation von Stefan Schröder (Universität Bayreuth), Freigeistige Organisationen in Deutschland. Weltanschauliche Entwicklungen und strategische Spannungen nach der humanistischen Wende (Berlin: De Gruyter). Wir konnten ihn für ein Interview gewinnen. Und auch wenn unklar ist, für welchen Anteil der Menschen ohne Zuordnung in der REMID-Statistik die freigeistigen Verbände wie der Humanistische Verband Deutschlands (HVD), der (größtenteils deutsche) Internationale Bund der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA) oder die Giordano-Bruno-Stiftung (GBS) ein Sprachrohr sein könnten, die Strategien und weltanschaulichen Konzepte, um die es im Interview gehen wird, strahlen weit über die 0,05 Mio. an Mitgliedschaften und 0,35 Mio. geschätztes Umfeld.

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