Religionskunde in Deutschland: Ein Flickenteppich ohne klares Muster – Interview mit Prof. Dr. Wanda Alberts

Prof. Dr. Wan­da Alberts, Pro­fes­sorin für Reli­gion­swis­senschaft an der Leib­niz Uni­ver­sität Han­nover forscht und lehrt unter anderem zu reli­gions­be­zo­gen­em Schu­lun­ter­richt und der Rolle der Reli­gion­swis­senschaft in Bil­dungskon­tex­ten. Im Feb­ru­ar 2023 erschien das von ihr, Horst Jungin­ger, Katha­ri­na Neef und Christi­na Wöste­mey­er her­aus­gegebene Hand­buch Reli­gion­skunde in Deutsch­land. In diesem liefern die Autor*innen nicht nur eine Über­sicht über die Diver­sität reli­gions­be­zo­gen­er Schulfäch­er in Deutsch­land, son­dern bean­standen auch die Ver­nach­läs­si­gung reli­gion­swis­senschaftlich­er Exper­tise. Anlässlich der Veröf­fentlichung des Hand­buch­es führte REMID ein Inter­view mit Frau Alberts.

In Ihrem Inter­view mit dem Deutsch­land­funk unter­schei­den Sie deut­lich die grundle­gende Natur von kon­fes­sionellem Reli­gion­sun­ter­richt und Reli­gion­skunde und beto­nen, dass die Stärkung von Let­zterem keine Bedro­hung für den religiösen Reli­gion­sun­ter­richt darstellen würde. Wie schätzen Sie eine solche Koex­is­tenz dieser zwei Bil­dungs­bere­iche ein, wenn es um Inhalte geht, die von bei­den Fäch­ern the­ma­tisiert, aber unter­schiedlich gew­ertet wer­den? Ein Beispiel wäre etwa die Frage, ob bes­timmte religiöse Grup­pen eine Denom­i­na­tion inner­halb ein­er größeren Tra­di­tion darstellen oder nicht doch eine eigen­ständi­ge Glaubens­ge­mein­schaft bilden.

A: Wichtig ist, dass auch von poli­tis­ch­er Seite erkan­nt wird, dass beken­nt­nis­ge­bun­den­er Unter­richt und Reli­gion­skunde zwei völ­lig ver­schiedene Dinge sind und Reli­gion­skunde nur von tat­säch­lich reli­gion­swis­senschaftlich aus­ge­bilde­ten Lehrkräften erteilt wer­den kann. Die Inhalte, die man sich gemein­hin als ähn­lich vorstellt, sind de fac­to sehr unter­schiedlich. Die The­ma­tisierung von „anderen“ Reli­gio­nen (die durch dieses Oth­er­ing ja erst zu „anderen“ wer­den)  geschieht im kon­fes­sionellen Reli­gion­sun­ter­richt in der Regel durch die prob­lema­tis­che Sch­ablone des Wel­tre­li­gio­nen­par­a­dig­mas – im Unter­scheid übri­gens zur The­ma­tisierung der „eige­nen“ Reli­gion. Der Gegen­stand „Reli­gion“ wird im Rah­men von Reli­gion­skunde grund­sät­zlich anders konzep­tu­al­isiert, d.h. das, was man über Reli­gion und Reli­gio­nen lernt, ist etwas anderes, als was man im kon­fes­sionellen Unter­richt lernt – hier wer­den die Stereo­type und Essen­tial­isierun­gen, die das Wel­tre­li­gio­nen­par­a­dig­ma mit sich bringt, ger­ade hin­ter­fragt. Zudem wird der Unter­richts­ge­gen­stand völ­lig anders ger­ahmt. Das Konzept der Rah­mung wurde in diesem Kon­text von Katha­ri­na Frank einge­führt. Sie zeigt klar die Unter­schiede zwis­chen religiösen und reli­gion­skundlichen Rah­mungen von Reli­gion auf.

Die Frage nach der Rolle einzel­ner religiös­er Grup­pen wird im reli­gion­skundlichen Unter­richt diskur­siv behan­delt, d.h. die Diskus­sio­nen um diese Frage dargestellt und nachvol­l­zo­gen. Eine abschließende Entschei­dung über den „Sta­tus“ bes­timmter Grup­pen wird hier nicht getrof­fen, son­dern der Diskurs darüber analysiert.

Auch in anderen Ihrer Arbeit­en kri­tisieren Sie das sog. „Wel­tre­li­gio­nen­par­a­dig­ma“, also die Vorstel­lung, dass Reli­gio­nen als feste, selb­st­ständi­ge und in sich geschlossene Ein­heit­en agieren, ohne hier­bei die Diver­sität einzel­ner Tra­di­tio­nen und ihre inneren Dynamiken zu berück­sichti­gen. Wie ließe sich in der Prax­is die Lehre über die Vielzahl der religiösen Gemein­schaften umset­zen, ohne sich stark vere­in­fachter oder über­holter Ver­all­ge­meinerun­gen zu bedi­enen, gle­ichzeit­ig aber ein­er real­is­tis­chen Umset­zbarkeit gerecht wer­den. Wäre es eine Option, einen Fokus auf eben solche Reli­gion­s­ge­mein­schaften zu leg­en, welche für Schüler*innen in Deutsch­land beson­dere All­t­agsrel­e­vanz und greif­bare Nähe haben?

A: Eine Über­win­dung des Wel­tre­li­gio­nen­par­a­dig­mas als Muster für die Darstel­lung von Reli­gio­nen bein­hal­tet auch, dass es eben nicht einen „Kanon“ an Reli­gio­nen gibt, über die man sich möglichst viel Wis­sen aneignen muss. Stattdessen wer­den eher grundle­gende Fra­gen darüber, was für wen wann als „Reli­gion“ in den Blick gerät, rel­e­vant. Dafür kann man sich dann bei der Auswahl der The­men – die aber denn nicht mehr eine sukzes­sive oder ver­gle­ichende Behand­lung einzel­ner „Reli­gio­nen“ als Ein­heit­en bedeutet – selb­stver­ständlich an den gesellschaftlichen Kon­tex­ten ori­en­tieren, die für die Schüler*innen rel­e­vant sind. Das kann beispiel­sweise die (dur­chaus kon­tro­verse) Diskus­sion um Reli­gion als „Kul­turerbe“ sein, oder auch die Ver­hand­lung reli­gions­be­zo­gen­er The­men im poli­tis­chen, rechtlichen oder Bil­dungs­bere­ich, etwa die Frage nach dem Platz religiös­er Sym­bole in unseren Gesellschaften. Dadurch ergibt sich „All­t­agsrel­e­vanz“ bzw. „prak­tis­che Nähe“ auf eine ganz andere Weise als wenn die Selb­st­darstel­lun­gen von Reli­gio­nen bzw. the­ol­o­gis­che Posi­tio­nen „nacherzählt“ wer­den ohne sie sozial- und kul­tur­wis­senschaftlich einzuord­nen. Damit sind der Gegen­stand des Unter­richts nicht mehr selb­stver­ständlich „die Reli­gio­nen“, son­dern gesellschaftlich rel­e­vante Aspek­te von Religion(en), die genau dadurch für die Lebenswelt der Schüler*innen auch bedeut­sam sind.

Sie set­zen sich dafür ein, dass die Aus­bil­dung von Lehrkräften für eine neu­trale, wis­senschafts­basierte Reli­gion­skunde in erster Lin­ie von dem akademis­chen Fach der Reli­gion­swis­senschaft getra­gen wer­den sollte. Bis­lang ist dies nur vere­inzelt und mar­gin­al­isiert der Fall. Stattdessen stellt in der Regel die Philoso­phie das Ref­eren­z­fach dar. Wie müsste sich Ihrer Mei­n­ung nach Ver­hält­nis von Reli­gion­swis­senschaft und Philoso­phie gestal­ten und welchen Platz sollte das Schul­fach Philoso­phie bzw. Ethik neben kon­fes­sionellen Reli­gion­sun­ter­richt und Reli­gion­skunde ein­nehmen?

A: Reli­gion­swis­senschaft und Philoso­phie haben grund­sät­zlich unter­schiedliche Meth­o­d­en und Gegen­stands­bere­iche. Diese soll­ten klar getren­nt aus­gewiesen wer­den. Reli­gion­swis­senschaft ist Bezugs­diszi­plin für reli­gion­skundlichen Unter­richt, Philoso­phie für philosophis­chen bzw. ethis­chen Unter­richt. Die Verbindung von Reli­gion­skunde und Ethik, die häu­fig vorgenom­men wird, kön­nte in den Fach­na­men deut­lich­er aus­gewiesen wer­den, wie etwa in Bran­den­burg im Fach „Lebens­gestal­tung, Ethik, Reli­gion­skunde“. Aktuell find­en wir viele Alter­na­tiv- bzw. Ersatzfäch­er für den kon­fes­sionellen Reli­gion­sun­ter­richt, die allein „Ethik“ oder „Philoso­phie“ im Namen tra­gen, aber auch Reli­gion­skunde enthal­ten. Let­ztere wird dann oft ver­nach­läs­sigt. Es ist aber wichtig zu beto­nen, dass Philosoph*innen ohne reli­gion­swis­senschaftliche Aus­bil­dung (Fach­wis­senschaft und Fach­di­dak­tik) nicht qual­i­fiziert sind, Reli­gion­skunde zu unter­richt­en.

Mein­er Ansicht nach, sollte Reli­gion­skunde all­ge­mein als Ele­ment schulis­ch­er Bil­dung für alle Schüler*innen etabliert wer­den, unab­hängig von kon­fes­sionellem Reli­gion­sun­ter­richt und Ethikun­ter­richt. Die Verbindung mit Ethikun­ter­richt ist im Moment das dom­i­nante Par­a­dig­ma in Deutsch­land, möglich wäre Reli­gion­skunde aber auch im Ver­bund mit Sozialkunde. Ein Prob­lem in der Verbindung mit Ethikun­ter­richt ist die Abgren­zung der expliz­it nicht nor­ma­tiv­en Reli­gion­skunde von den nor­ma­tiv­en Aspek­ten von Ethikun­ter­richt. Hier geht lei­der sehr viel durcheinan­der und Reden über Reli­gion aus „ethis­ch­er Per­spek­tive“ kann leicht zu impliziter The­olo­gie wer­den.

Welche Gründe sehen Sie dafür, dass die Reli­gion­swis­senschaft in der Prax­is bish­er kaum Ein­fluss auf die Gestal­tung von Kern­cur­ric­u­la für sog. Alter­na­tivfäch­er in Deutsch­land hat? Wie ließe sich dies ändern?

A: Ich sehe hier zwei Gründe:

1) Die Reli­gion­swis­senschaft war als eigen­ständi­ge Diszi­plin lange nicht wirk­lich über einen kleinen akademis­chen Kon­text hin­aus bekan­nt – so dass Theolog*innen nicht nur als Spezialist*innen für ihre eigene Reli­gion, son­dern im Prinzip auch für „Reli­gion an sich“ oder auch den Umgang mit „anderen Reli­gio­nen“ ange­se­hen wur­den. Zudem sind die Alter­na­tivfäch­er oft direkt abhängig vom kon­fes­sionellen Reli­gion­sun­ter­richt und Vertreter*innen der Kirchen und der The­olo­gie zögerten nicht, an der Gestal­tung der­sel­ben mitzuwirken (was in Bezug auf das Recht auf Reli­gions­frei­heit eigentlich ein Skan­dal ist). Zudem sind die Zuständigkeit­en in den entsprechen­den Min­is­te­rien häu­fig so verteilt, dass Reli­gion­sun­ter­richt und die Alter­na­tivfäch­er als ein gemein­samer Bere­ich behan­delt wer­den – der dann in der Regel kirchen­fre­undlich beset­zt ist. Da wis­sen dann Per­so­n­en in den Min­is­te­rien, bei denen man sich fragt, wo ihre reli­gion­swis­senschaftlichen Ken­nt­nisse denn herkom­men sollen, häu­fig bess­er als Religionswissenschaftler*innen, worum es eigentlich geht – bzw. stellen sie es eben so dar, dass die „Fachken­nt­nis“ vorhan­den wäre, obwohl diese eben the­ol­o­gisch oder konkret schul­be­zo­gen, aber eben nicht reli­gion­swis­senschaftlich ist. Auch das ist eigentlich ein Skan­dal, im Detail von außen aber nur sehr schw­er nachzu­vol­lziehen. In den Recherchen für das Hand­buch kon­nten wir aber dies­bezügliche Muster in unter­schiedlichen Kon­tex­ten erken­nen.

2) Die Reli­gion­swis­senschaft war bis vor nicht allzu langer Zeit zudem stark mit sich selb­st und ihrem akademis­chen Kon­text beschäftigt. Das Feld „Schule“ kam nicht in den Blick und es wurde häu­fig überse­hen, dass in Kon­tex­ten, die notwendi­ger­weise reli­gion­swis­senschaftlich gestal­tet wer­den müssten, aus anderen Per­spek­tiv­en reli­gions­be­zo­gen­er Unter­richt geplant wurde. Hier ist die Reli­gion­swis­senschaft bish­er eher vere­inzelt aktiv gewor­den, so dass die notwendi­gen Unter­schei­dun­gen, etwa zwis­chen (kon­fes­sionell aus­ge­bilde­ten) Religionspädagog*innen und reli­gion­swis­senschaftlich qual­i­fizierten Per­so­n­en häu­fig nicht getrof­fen wur­den. Hier sehe ich einen klaren gesellschaftlichen Bedarf, diese Unter­schiede zu ver­mit­teln und an den Stellen, an denen Reli­gion­swis­senschaft gebraucht wird, die Exper­tise auch zur Ver­fü­gung zu stellen. Das Prob­lem ist jedoch, dass die zahlen­mäßig kleine Reli­gion­swis­senschaft da selb­st aktiv wer­den muss, um erst ein­mal auf diese Unter­schiede hinzuweisen. Diese sind ja für die meis­ten Men­schen – und noch nicht ein­mal für mit der Materie befassten Politiker*innen und Ver­wal­tungs­beamte – gar nicht nachvol­lziehbar, so dass man dort auch nicht immer mit großer Freude emp­fan­gen wird. Irgend­wo muss der Kreis der Unwis­senheit aber unter­brochen wer­den. Jemand anderes wird diese Auf­gabe für uns wahrschein­lich nicht übernehmen.

In Nieder­sach­sen fungiert das Fach „Werte und Nor­men“ als Alter­na­tive zum kon­fes­sionellen Reli­gion­sun­ter­richt. Die Aus­bil­dung entsprechen­der Lehrkräfte soll neben der Philoso­phie und Gesellschaftswis­senschaften auch von der Reli­gion­swis­senschaft getra­gen wer­den und ist somit auch Gegen­stand Ihrer Lehrtätigkeit. Welche Erfahrun­gen und Vorken­nt­nisse brin­gen Studierende mit, welche mitunter selb­st während der Schulzeit das Alter­na­tiv­fach „Werte und Nor­men“ belegt haben?

A: Hier ist ein großes Prob­lem, dass es bish­er, obwohl Reli­gion­swis­senschaft offiziell (neben Philoso­phie und Gesellschaftswis­senschaften) Bezugs­diszi­plin für Werte und Nor­men ist, ein­er­seits wenig tat­säch­lich reli­gion­swis­senschaftlich aus­ge­bildete Lehrkräfte gibt und zudem das Kern­cur­ricu­lum aus reli­gion­swis­senschaftlich­er Per­spek­tive prob­lema­tisch ist. Darauf hat die Vor­sitzende der DVRW schon vor Jahren hingewiesen, wirk­lich passiert ist aber bish­er nichts. Große Teile von Werte und Nor­men, welch­es eigentlich laut Nieder­säch­sis­chem Schulge­setz reli­gion­skundliche Ken­nt­nisse ver­mit­teln soll, sind aber statt dessen impliz­it the­ol­o­gisch (hier­für wird in der Fach­lit­er­atur z.T. der Begriff „small-c-con­fes­sion­al“ gebraucht) und schlecht aus­ge­bildete Lehrkräfte kön­nen dies kaum aus­gle­ichen. Daher sind die Erfahrun­gen und Vorken­nt­nisse sehr kontin­gent. Den reli­gion­swis­senschaftlichen Zugang zu Reli­gion erler­nen Studierende, auch wenn sie Werte und Nor­men in der Schule als Fach hat­ten, in der Regel erst im Studi­um. Wichtig ist, dass an allen Stan­dorten, die Lehrkräfte für Werte und Nor­men aus­bilden nicht nur reli­gion­swis­senschaftliche Mod­ule, son­dern auch reli­gion­swis­senschaftliche Fach­di­dak­tik verpflich­t­end gelehrt wer­den. Das ist bish­er nicht der Fall. Daher wer­den die reli­gions­be­zo­ge­nen The­men in Werte und Nor­men bish­er nicht auf reli­gion­swis­senschaftlich­er Grund­lage ver­mit­telt, so dass häu­fig impliz­it oder expliz­it reli­gion­saf­fir­ma­tive oder reli­gion­skri­tis­che Per­spek­tiv­en die Darstel­lung rah­men. Das ist natür­lich ein vol­lkom­men unhalt­bar­er Zus­tand, auch aus rechtlich­er Per­spek­tive. Es gibt hier viel zu tun, für Poli­tik und Wis­senschaft.

In Ihren Arbeit­en ziehen Sie häu­fig die Schul­sys­teme der skan­di­navis­chen Län­der als Vorzeige­mod­ell für das Fach der Reli­gion­skunde her­an. Gibt es aktuell auf inter­na­tionaler Ebene ein Mod­ell, welch­es Sie aus reli­gion­swis­senschaftlich­er Sicht für uneingeschränkt geeignet und auch für deutsche Schulen wün­schenswert ein­schätzen?

A: Prinzip­iell finde ich eine verpflich­t­ende Reli­gion­skunde für alle nach skan­di­navis­chem Mod­ell bil­dungspoli­tisch wesentlich ver­ant­wor­tungsvoller als unseren Flick­en­tep­pich bezüglich reli­gions­be­zo­ge­nen Unter­richts. Allein deshalb, weil reli­gion­skundliche Bil­dung erst dadurch prinzip­iell und für alle über­haupt ver­füg­bar wird. M.E. ein Muss in unseren plu­ralen Gesellschaften, in denen Reli­gion im öffentlichen Raum immer wieder the­ma­tisiert wird. In der Umset­zung gibt es in diesen Fäch­ern natür­lich immer auch wieder prob­lema­tis­che Aspek­te, so dass es schwierig ist, ein Mod­ell als uneingeschränkt wün­schenswert zu beze­ich­nen. Vor­bild ist ein Mod­ell wie das Schwedis­che allerd­ings dur­chaus. Nor­we­gen mit seinem Gerangel um die Festschrei­bung des „Chris­ten­tums als Kul­turerbe“ und ver­schiedentlich­er Pri­or­isierung christlich­er Vorstel­lun­gen, die das Fach KRL vor dem Europäis­chen Gericht­shof für Men­schen­rechte zu Fall gebracht hat, zeigt hinge­gen eher die Fall­stricke bei der Etablierung von inte­gra­tiv­en Mod­ellen. Wichtig ist die For­mulierung des Europäis­chen Gericht­shofs für Men­schen­rechte: Verpflich­t­en­der reli­gions­be­zo­gen­er Unter­richt muss Reli­gio­nen „objek­tiv, kri­tisch und plu­ral­is­tisch“ darstellen. Dies darf nicht mit religiösen Ansätzen, die zwar Gegen­stand des Unter­richts sein, ihn aber nicht rah­men kön­nen, ver­mis­cht wer­den.

Zulet­zt noch ein Gedanken­ex­per­i­ment: Anstatt Reli­gion zum Gegen­stand eines eige­nen Schul­fach­es zu machen (unab­hängig davon, ob aus kon­fes­sioneller oder neu­tral-wis­senschaftlich­er Per­spek­tive), könnte(n) Religion(en) fächerüber­greifend und kon­textge­bun­den Bestandteil von Fäch­ern wie Geschichte, Poli­tik oder Sprachen the­ma­tisiert wer­den. Würde dies nicht noch mehr der in der gegen­wär­ti­gen Reli­gion­swis­senschaft ver­bre­it­eten Ansicht nahekom­men, dass Religion(en) kein von der Umwelt abgeson­derte Phänomen eigen­er Art, son­dern stets Pro­dukt gesellschaftlich­er Umstände ist? Wie ste­hen Sie als Reli­gion­swis­senschaft­lerin dazu, Reli­gion von ihrem „Thron“ zu nehmen und stattdessen lediglich als einen Bere­ich men­schlich­er Gesellschaft unter vie­len zu betra­cht­en?

A: Ja, das ist natür­lich ein gutes Argu­ment. Genau­so wie die Diszi­plin Reli­gion­swis­senschaft im Prinzip aus der Abgren­zung zur The­olo­gie her­vorge­gan­gen ist, kön­nte man Reli­gion­skunde als eigen­ständi­ges Fach als Kon­se­quenz aus dem kon­fes­sionellen Reli­gion­sun­ter­richt sehen. Wirk­lichkeit und Wis­sen kön­nen natür­lich immer ganz unter­schiedlich geord­net wer­den und Wis­sen unter­schiedlich kat­e­gorisiert und weit­ergegeben wer­den. Im Prinzip spricht über­haupt nichts dage­gen, dem Gegen­stand „Reli­gion“ nicht immer eine Son­der­rolle zuzuschreiben. Diese Son­der­rolle ist ja auch ein Erbe eines religiösen Ver­ständ­niss­es von Reli­gion als etwas „ganz anderem“. Als Reli­gion­swis­senschaft­lerin kann man sich zuweilen nur wun­dern, welche Priv­i­legien und Aus­nah­men von anson­sten beste­hen­den Regeln mit dem Ver­weis auf „Reli­gion“ möglich sind. Gesellschaftlich wird es aber ver­mut­lich noch eine ganze Weile dauern, bis Reli­gion ein „nor­maler“ Gegen­stand ist, nicht zulet­zt WEIL reli­gion­skundliche Bil­dung in der Schule bish­er eine weit­ge­hende Leer­stelle ist und religiöse Reli­gion­skonzepte auch in öffentlichen Diskus­sio­nen und Poli­tik dominieren. In diesem Kon­text ist vielle­icht ein eigenes inte­gra­tives reli­gion­skundlich­es Schul­fach nicht unbe­d­ingt die einzige langfristig wün­schenswerte Lösung. Aber ger­ade auf­grund der Tat­sache, dass ein reli­gion­skundlich­er Zugang zu Reli­gion so unbekan­nt ist, halte ich es für dur­chaus sin­nvoll, diesem ganz expliz­it einen Raum einzuräu­men. Entschei­dend ist dafür auch wieder die reli­gion­swis­senschaftliche Lehrkräfteaus­bil­dung. Ohne diesen Hin­ter­grund ist ein solid­er reli­gion­skundlich­er Unter­richt nicht möglich. Man kön­nte natür­lich the­o­retisch reli­gion­swis­senschaftliche und reli­gion­swis­senschaftlich-fach­di­dak­tis­che Mod­ule auch in die Aus­bil­dung von Lehrkräften für Geschichte, Poli­tik oder Sprachen inte­gri­eren, aber ist das real­is­tisch?

Allerd­ings ist tat­säch­lich zu über­legen, ob grundle­gende reli­gion­swis­senschaftliche Ken­nt­nisse nicht Ele­ment der all­ge­meinen Lehrkräfteaus­bil­dung wer­den soll­ten, weil der Gegen­stand Reli­gion ja in unter­schiedlichen schulis­chen Kon­tex­ten rel­e­vant ist und zum The­ma wird. Da würde es schon sehr helfen, wenn Lehrkräfte hier zwis­chen ein­er intu­itiv­en, religiösen und säku­lar-reli­gion­swis­senschaftlichen Herange­hensweise an das The­ma unter­schei­den kön­nten.

Danke für das Inter­view.

Das Inter­view führte Sebas­t­ian Mihatsch.