Informationsplattform Religion: Der Kalifatsstaat


Wenn von islamistischen Organisationen in Deutschland die Rede ist, kommt unweigerlich der „Kalifatsstaat“ in den Sinn. Er ist mit der Person Metin Kaplan verbunden. Kaplan genoss zunächst in Deutschland Asyl. Kaplan wurde u. a. wegen Aufruf zum Mord verurteilt. Nach Verbüßung einer Freiheitsstrafe wurde Kaplan im Herbst 2004 in die Türkei abgeschoben.
Entstehung

Der Kalifatsstaat ging aus dem Verband islamischer Vereine und Gemeinden (ICCB) hervor. Dieser wiederum entstand 1984 aus einer Abspaltung von Milli Görüs. Der Führer des ICCB, Cemaleddin Kaplan, wurde wegen seiner radikalen Ansichten auch als „Khomeini von Köln“ bekannt. Ein Ziel war die Abschaffung der politischen Ordnung in der Türkei und die Errichtung eines auf Koran und Scharia basierenden Staatswesens. Kaplan proklamierte 1992 den „Föderativen Islamstaat Anatolien“, er selbst galt seithin als Kalifen und Staatsoberhaupt. 1994 folgte auf einer Veranstaltung in Köln die Ausrufung des Kalifatsstaates.
Aus Nachfolgestreitigkeiten nach dem Tod Cemaleddin Kaplans im Mai 1995 ging sein Sohn Metin Müftüoglu Kaplan als Sieger hervor. Er erhielt den Beinamen „Kalif von Köln“. Es kam es Abspaltungen; in Berlin residierte mit Ibrahim Sofu ein Gegenkalif. Er wurde am 8. Mai 1997 ermordet. Zuvor war von Metin Kaplan eine Fatwa ergangen, die Sofu als Abtrünnigen verurteilte, der getötet werden könne. Kaplan wurde darauf hin wegen Aufruf zum Mord zu einer vierjährigen Freiheitsstrafe verurteilt, die im Sommer 2004 beendet war. In einem nur schwer durchschaubaren juristischen Geflecht von Asylfolgeanträgen und Klagen gegen deren Ablehnung sowie vor dem Hintergrund, dass Kaplan wegen eines Straftatvorwurfs in der Türkei die Todesstrafe drohen könnte oder zumindest ein rechtsstaatliches Verfahren nicht garantiert schien, wurde einem Auslieferungsantrag der Türkei zunächst nicht Folge geleistet. Im Oktober 2004 jedoch kam es unversehens zur Abschiebung von Metin Kaplan in die Türkei.
Radikalisierung unter Metin Kaplan

Unter Metin Kaplan fand eine weitere Radikalisierung in den Zielen des Kalifatsstaates statt. Kaplan rief zum Sturz aller nichtislamischen Regierungen auf. Hinter Polizeiaktionen gegen Repräsentanten des Kalifatsstaates, die auch die Durchsuchung von Moscheen einschlossen, wurden Drahtzieher in der Türkei vermutet, die den Idealen des türkischen Staatgründers Kemal Atatürk anhingen. Im Zuge des sich verschärfenden Konflikts im Nahen Osten sowie militärischer Aktionen der USA gegen den Sudan im Zusammenhang mit Terroranschlägen gegen US-Einrichtungen wurde auch die antisemitische Polemik stärker; insgesamt sah man eine Verschwörung gegen den vom Kalifatsstaat vertretenen wahren Islam am Werk. Auch gegen andere islamische Verbände, so Mili Görüs, wurde polemisiert.
Für Werner Schiffauer (Die Gottesmänner. Türkische Islamisten in Deutschland. Frankfurt a. M. 2000) hat sich der Verband zunehmend zu einer „Sekte“ entwickelt. Unter diesem Gesichtspunkt wird die zunehmende Radikalisierung als Reaktion auf innere und äußere Entwicklungen im Verband erklärbar: Die religiös-politischen Ziele wurden nicht verwirklicht. Abspaltungen dokumentieren Kritik und Legitimitätsprobleme des neuen Führers Metin Kaplan. Zudem besaß Kaplan nicht das Charisma seines Vorgängers Cemaleddin Kaplan. In der Öffentlichkeit werden die Anliegen der Gemeinschaft trotz ihrer bereits vorhandenen Radikalität nicht wahrgenommen. Konflikte mit der Polizei und den Ordnungsbehörden erzeugen äußeren Druck und führen potenziell zur weiteren Verunsicherung der Anhänger. Andere islamische Verbände haben sich vom ICCB und dem Kalifatsstaat distanziert; der Kalifatsstaat war isoliert.
Die Radikalisierung und selbst betriebene Abgrenzung zur Gesellschaft demgegenüber zur stärkeren Bindung der verbliebenen Anhänger an die Gemeinschaft. Die Formulierung weiter gehender Ziele überdeckt die Nicht-Erfüllung der bisherigen Erwartunngen. Die Steigerung des Anspruchs der Gemeinschaft mit ihrem Führer Metin Kaplan lenkt von Legitimitätsproblemen der Führung ab.
Solche Prozesse lassen sich in vielen neu entstandenen religiösen Gemeinschaften beobachten, die eine radikale gesellschaftliche Alternative vertreten. Das Ausbleiben der eigenen (Heils-) Erwartungen führt auf Dauer entweder zu einer Radikalisierung oder zu einer Anpassung an die umgebenden Gesellschaften.
Verbot und Entwicklung der Mitgliederzahlen

Der ICCB bzw. der Kalifatsstaat wurden seit Jahren von den Verfassungsschutzbehörden beobachtet. Am 8. Dezember 2001 hat der Bundesinnenminister hat den Kalifatsstaat und 18 ihm in direkter Verbindung stehende Organisationen verboten; die entsprechenden Aktionen (Durchsuchungen von Gebäuden, Beschlagnahme von Material) fanden am 12. Dezember statt. Die Maßnahme beinhaltete auch das Verbot der Bildung von Nachfolgeorganisationen. Im Frühjahr 2002 kamen Berichte auf, nach denen Teile der Gemeinschaft im Untergrund weiter operierten. In Niedersachsen wurden neuere Schriften verbreitet.
Am 19. September 2002 folgte das Verbot von 16 weiteren Vereinen, die mit dem Kalifatsstaat in Verbindung gestanden haben sollen bzw. in denen die Ziele des Kalifatsstaates weiter vertreten wurden. Klagen gegen die Verbote wurden von den Gerichten bestätigt, eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht scheiterte am 2. Oktober 2003.
Auch für 2003 gibt es Berichte über die illegale Fortführung des Vereins, die entsprechende polizeiliche Aktionen nach sich zogen.
Die Mitgliederzahlen des ICCB bzw. Kalifatsstaates sind seit Jahren rückläufig. Nach den Verfassungsschutzberichten waren im Jahr 1995 rund 3.500 Menschen im Verband organisiert, dem 70 Moscheevereine angeschlossen sind. Für die Jahre 1997 und 1998 wird die Zahl der Vereinsmitglieder mit 1.300 angegeben, für 2000 mit 1.200 und für das Jahr 2001 mit 1.100.Die neuen Verfassungsschutzberichte gehen für 2002 und 2003 von 800 Mitgliedern aus und betonen, dass deren Handlungsfähigkeit stark eingeschränkt sei. Aktivitäten würden vornehmlich über das Ausland entfaltet.

 

Autor: Steffen Rink, 2002.

 

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Autor*in: REMID e.V.