Die 1871 als Staatsaufgabe neben dem Recht auf Wissen und Bildung eingeführte allgemeine Schulpflicht (früher: „Schulzwang“) wird heute nicht mehr von allen Bundesbürgern als Privileg angesehen. Eltern, die ihre Kinder in eigener Verantwortung zu Hause unterrichten, weil sie zum Beispiel ihre pädagogischen Grundsätze oder religiösen Wertevorstellungen im staatlichen Schulsystem nicht angemessen vertreten sehen, verstoßen in Deutschland gegen geltendes Recht.
So heißt es in § 56 des Hessischen Schulgesetzes, der sich in ähnlicher Form auch in den Schulgesetzen aller anderen Bundesländer wiederfinden läßt:
„Schulpflicht besteht für alle Kinder, Jugendlichen und Heranwachsenden, die im Lande Hessen ihren Wohnsitz […] haben. […] Die Schulpflicht ist durch den Besuch einer deutschen Schule zu erfüllen.“ §§ 59 und 60 bestimmen, dass die Schulpflicht neun Jahre beträgt und dass die Kinder auf eine öffentliche Schule gehen müssen. Alternativ kann eine Ersatzschule besucht werden. „Anderweitiger Unterricht außerhalb der Schule darf nur aus zwingenden Gründen vom Staatlichen Schulamt gestattet werden.“
Glaube und Schule im Konflikt
Eltern, die vom gängigen Schulsystem Abstand nehmen, weil es im Gegensatz zu ihren religiösen Wertevorstellungen steht, machen sich demnach strafbar. Im Gegensatz zu anderen Ländern, in denen lediglich eine Unterrichts- bzw. Bildungspflicht besteht, ist Hausunterricht in Deutschland aufgrund der hier existierenden Schulpflicht nicht erlaubt. Während einige Familien vor Gericht eine Duldung des Unterrichtens zu Hause erstritten haben, wurden andere strafrechtlich belangt.
Nach Schätzung von Andreas Fincke, dem Referenten für christliche Sondergemeinschaften bei der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, sind es bundesweit 40 bis 80 Kinder, die aus religiösen Gründen nicht zum Unterricht geschickt würden, zum Teil trotz strafrechtlicher Maßnahmen.
Gründe für den Hausunterricht von Anhängern christlicher Gemeinschaften
Die von verschiedenen religiösen Gemeinschaften aufgeführten Gründe für den Hausunterricht dokumentieren exemplarisch das Spektrum der Argumente:
Bibeltreue Christen
Anhänger der Bibeltreuen Christen (Bekennende Evangelisch-reformierte Gemeinde) sehen an öffentlichen Schulen christliche Erziehungsgrundsätze wie Schamhaftigkeit, Gehorsam gegenüber den Eltern und die Liebe zu Gott unterwandert. Weiterhin werden die ausschließliche Weitergabe der Evolutionstheorie und die zu große Präsenz des Themas Sexualität, welches als Elternsache angesehen wird, kritisiert.
Bibelbund
Im Bereich „Verzeichnis / Gesamtverzeichnis“ finden sich viele grundlegende Texte – über die Suchfunktion des Browsers nach „Schule“ suchen.
Zwölf Stämme
Mitglieder der christlichen Glaubensgemeinschaft „Zwölf Stämme“, die ihre Kinder ebenfalls nach biblischen Grundsätzen aufziehen wollen, wehren sich mittels des Heimunterrichts gegen die „geistigen Einflüsse und Strömungen dieser Zeit“ und damit gegen eine „selbsternannte Gesellschaft“, welche „die von der Entwicklung völlig überholte Schulpflicht als Mittel zur Disziplinierung“ nutze. Es wird an den Schulen ein mangelnder Schutz der Kinder vor seelischen und körperlichen Verletzungen konstatiert. Da Kinder der Gemeinschaft bspw. auf Markenkleidung verzichteten, seien „Zwölf Stämme“-Kinder außerdem oft dem Spott der anderen Kinder ausgesetzt.
Zwölf Stämme (Homepage)
[Anmerkung der Redaktion von 2018: Die Zwölf Stämme haben Deutschland 2016 verlassen. Im Vorfeld haben eine polizeiliche Razzia 2013 und Sorgerechtsprozesse stattgefunden – aufgrund von möglicherweise systematischer Gewaltanwendung gegenüber Schutzbefohlenen, vgl. Artikel „Peter Pan und die zwölf Stämme: Das Spiel als Paradigma“ (2013).]
Evangeliumschristen-Baptisten
Kinder aus russischen Aussiedlerfamilien, die den Gemeinden der Evangeliumschristen-Baptisten angehören, besuchen zwar weiterhin öffentliche Schulen – jedoch sollen sie weder an Klassenfahrten, Schwimm- und Sportunterricht oder am Religionsunterricht mit esoterischen Experimenten, noch an Rollenspielen, Festen und Theatervorstellungen teilnehmen. Die aktuelle Schulpolitik wird als „antichristlich, intolerant und totalitär“ bezeichnet.
Fallbeispiele / Urteile
Beispiel 1 – Bibeltreue Christen Gießen
Das Ehepaar Bauer, Anhänger der Bibeltreuen Christen in Gießen, meldete 2001 ihre fünf schulpflichtigen Kinder von der Schule ab. Stattdessen unterrichteten sie diese unter Betreuung einer christlichen Heimschule zu Hause. Daraufhin wurde ein Strafantrag durch das staatliche Schulamt gestellt.
Im ersten Urteil (Amtsgericht Alsfeld) im April 2003 konstatierte das Gericht eine „Pflichtenkollision“ zwischen gesetzlicher Schulpflicht und starkem Glauben und sprach die Angeklagten frei, da diese „zum Besten der Kinder“ gehandelt hätten und das Grundrecht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit eine Bestrafung nicht zulasse.
Daraufhin legte die Staatsanwaltschaft, welche vom Amtsgericht ein Bußgeld von 800 Euro gefordert hatte, Berufung ein.
Im zweiten Urteil (Landesgericht Gießen) im November 2003 wurde der Freispruch des Alsfelder Amtsgerichts aufgehoben. Es wurde keine „unerlaubte Indoktrination“ erkannt, vielmehr entspreche „die Schulwirklichkeit […] dem, was Kinder tagtäglich erleben“. Die Weigerung der Eltern, ihre Kinder in die Schule zuschicken, wurde mit 400 Euro geahndet.
Trotz einer angedrohten Geldbuße von 1.600 Euro bei Nichteinhalten des Schulgesetzes setzte das Ehepaar Bauer den Heimunterricht fort und legte Revision gegen das Gießener Urteil ein.
Im dritten Urteil (Oberlandesgericht Frankfurt, Aktenzeichen 2 Ss 139/04) bestätigte der 2. Strafsenat am 29. Juli 2004 das Urteil des Landesgerichtes Gießen und wies ein Revisionsverfahren zurück.
Nach dem hessischen Schulgesetz droht Eltern, die ihre Kinder „dauernd oder hartnäckig wiederholt der Schulpflicht entziehen“ eine Geldstrafe von bis zu 180 Tagessätzen oder eine Freiheitsstrafe von bis zu sechs Monaten.
Das Ehepaar Bauer sieht in dem Urteil einen Verstoß gegen das Grundgesetz und denkt über eine Verfassungsbeschwerde nach.
Beispiel 2 – Zwölf Stämme
Im Oktober 2002 wurden 20 Kinder der auf einem Gutshof im bayerischen Klosterzimmern angesiedelten Gemeinschaft der „Zwölf Stämme“ von der Polizei abgeholt und mit Gewalt zu einer staatlichen Schule gebracht. Am nächsten Tag wurden die Kinder wieder zu Hause unterrichtet. Die Zwangs- und Bußgeldbescheide von über 100.000 Euro, die daraufhin bei den Familien eingingen, waren aufgrund des zu geringen Einkommens nicht pfändbar.
Im Januar 2004 hat die Staatsanwaltschaft Augsburg vierzig Angehörigen der „Zwölf Stämme“ eine sechswöchige Erzwingungshaft angedroht. Bei weiteren Gemeinschaften der „Zwölf Stämme“ in Baden-Württemberg und Niedersachsen hingegen wird ein von Behörden staatlich überwachter Heimunterricht geduldet.
Beispiel 3 – Freie christliche Gemeinde Nürnberg
Nach einem Streit mit den Behörden, bei dem einem einer freien christlichen Gemeinde angehörigen Nürnberger Ehepaar in einem Teilbereich das elterliche Sorgerecht entzogen und das städtische Jugendamt zum „Ergänzungspfleger“ ernannt wurde, entschloß sich die sechsköpfige Familie, nach Österreich auszuwandern, um ihre Kinder zu Hause unterrichten zu können.
In Österreich gilt lediglich eine Unterrichtspflicht, wobei nach einer Anmeldung in einer öffentlichen Schule eine Entlassung in den häuslichen Unterricht beantragt werden kann, der zu 99% genehmigt wird. Die Schüler dürfen das schulische Angebot jedoch weiter wahrnehmen, wenn sie möchten.
Heimschulen
Auf die Alternative des Hausunterrichts greifen Eltern nicht nur aus religiösen Gründen zurück, sondern auch aus anderen Motiven wie z. B. dem Kontakt mit Drogen und der Gewalt an Schulen, Schulangst, Schulstress u. ä. Da in Ländern wie z.B. der Schweiz, Dänemark, Österreich, Finnland und den USA lediglich eine Bildungs- und Lernpflicht, jedoch keine Schulpflicht besteht, ist dort Hausunterricht legitim und eine gängige Bildungsmethode (allein in den USA wird sie bei ca. 2 Millionen Kindern angewendet). In Deutschland erhalten laut Helmut Stücker, dem Leiter der Philadelphia-Schule in Siegen, einer staatlich nicht anerkannten Heimschule nach amerikanischem Vorbild, mindestens 500 Kinder aus 200 Familien ihren täglichen Unterricht zu Hause.
Der Rechtshilfe-Verein „Schulunterricht zu Hause“ in Dreieich bei Frankfurt am Main will nun mit Hilfe einer sich auf die Europäische Menschenrechtskonvention stützenden Musterklage vor dem Europäischen Gerichtshof in Straßburg das Recht auf Hausunterricht durchsetzen. Laut dieser Konvention habe der Staat das Recht der Eltern zu achten, Erziehung und Unterricht der Kinder „entsprechend ihren religiösen Überzeugungen sicherzustellen“ (vgl. Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention ZEMRK, Artikel 2, zu finden bei: www2.amnesty.de)
Philadelphia-Schule – freies christliches Heimschulwerk
Schulunterricht zu Hause e. V.
amnesty international
Das Protokoll findet sich durch Eingabe von „zemrk“ in der Suchfunktion, dann unter Protokoll Nr. 11 vom 11.05.1994.
Weitere Links
Initiative deutscher Heimschulfamilien
Die Initiative ist christlich geprägt und arbeitet mit der Philadelphia-Schule zusammen.
Die Deutsche Fernschule bietet vor allem Kurse für deutsche Kinder, die im Ausland leben. Sie ist staatlich anerkannt und entspricht als Ersatzschule einer deutschen Schule im Ausland. Deshalb unterscheidet sich die Fernschule in der Entstehung von der Heimschulen-Bewegung, ist dieser jedoch Vorbild, da die Kurse der Deutschen Fernschule zu Hause durchgeführt werden können.
Bekenntnisschulen
Als ein „lebendiges Gegenmodell“ zum staatlich verordneten Bildungsverständnis gelten so genannte Bekenntnisschulen. So setzen die Evangelische Kirche Deutschlands, aber auch viele evangelikalen Gemeinschaften verstärkt auf den Ausbau von religiösen Privatschulen. Auch die katholische Kirche ist Trägerin vieler Schulen in Deutschland.
Darüber hinaus haben auch religiöse Gemeinschaften wie das Universelle Leben oder die biblizistischen Plymouth Brethren eigene Schulen gegründet. Alle Bekenntnisschulen stehen unter staatlicher Aufsicht, d. h. zum Beispiel, die Lehrpläne müssen staatlichen Vorgaben Während aber bei den Bekenntnisschulen der großen Kirchen eine grundsätzliche Offenheit auch für Schülerinnen und Schüler anderer Religionsgemeinschaften herrscht und insbesondere Schulen in Trägerschaft der evangelischen Landeskirchen eine liberale pädagogische Praxis geübt wird, besteht das Interesse von evangelikalen oder neureligiösen Gemeinschaften bei der Gründung eigener Schulen eher darin, die eigenen Glaubensgrundsätze direkt und ohne störende Einflüsse von außen an die Kinder der eigenen Gemeinschaft zu vermitteln.
Förderverein für christliche Schulen e. V.
Der christliche Verein arbeitet auf der Grundlage der theologischen Grundsätze der Evangelischen Allianz – siehe im Bereich „Ziele und Grundlagen“
[Anmerkung Redaktion 2018: Der Link führte heute zum Verband Evangelischer Bekenntnisschulen, die Domain der ehemaligen Arbeitsgemeinschaft Evangelischer Bekenntnisschulen ist nicht mehr aktiv.]
In der Arbeitsgemeinschaft [heute: Verband Evangelischer Bekenntnisschulen] sind eher evangelikal orientierte Schulen zusammengeschlossen, es besteht eine Zusammenarbeit mit dem Förderverein für christliche Schulen
Schulstiftung Berlin-Brandenburg [2018: Domain nicht aktiv]
Die Schulstiftung unterstützt Evangelische Schulen und unterhält auch elf Schulen. Die Links zu den Schulen zeigen das andere Verständnis von Schulen in Trägerschaft der evangelischen Landeskirchen.
Autorin: Margrit Jütte, 2004. Kontrolliert: 2006 (sr), 2018 (cw).
Themenschwerpunkte
Religionsfreiheit
Islam
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Weltanschauungen und Säkularität
Esoterik und alternative Spiritualität