Informationsplattform Religion: Richtungen im Judentum

Die Ursprünge der heutigen Richtungen im Judentum sind vor allem in Deutschland des 18. Jahrhunderts zu finden. Damals entwickelte sich nicht zuletzt durch die im Rahmen der Aufklärung bedingten Freiheiten und der jüdischen Emanzipation eine neue, moderne Bewegung im Judentum. Vertreter dieser Reform-Bewegung suchten nach zeitgemäßen Formen der jüdischen Religion und ihrer Anpassung an die gegenwärtigen Umstände. Mit der kritischen Auseinandersetzung entstand im weiteren Verlauf eine Meinungsvielfalt, die später zur Differenzierung der Reform-Bewegung in einen konservativen, einen liberalen und einen kleinen radikalen Zweig führen sollte.

Mit der großen Auswanderungswelle verschob sich zum Ende des 19. Jahrhunderts der Mittelpunkt der jüdischen Ereignisse nach Amerika. Dort entstanden das konservative Judentum und der Rekonstruktionsismus. Die Mehrheit der dort lebenden Juden gehört heute der konservativen oder der liberalen Bewegung an. Etwa 40 Prozent aller Juden auf der Welt leben in den USA, somit werden die religiösen Richtungen heute vorrangig von dem bestimmt, was in den Vereinigten Staaten von Amerika geschieht.

In Deutschland wurden unter dem Dach der „Einheitsgemeinde“ die verschiedenen Richtungen organisatorisch zusammengefasst. Innerhalb der Einheitsgemeinden bildete das progressive Judentum bis zur Schoa die zahlenmäßige Mehrheit und beeinflußte zudem die progressiven Entwicklungen in den anderen europäischen Ländern.
In der NS-Zeit vermochten nahezu alle deutschen Juden einen liberalen Rabbiner, Leo Baeck, als Vertreter der gesamten deutschen Judenschaft anzuerkennen. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren alle neu konstituierten Gemeinden orthodox geprägt. Bis heute sind die bestehenden Einheitsgemeinden trotz zunehmender Vielfalt in ihrer Ausrichtung orthodox dominiert. Zugleich nimmt sowohl durch die Unterstützung nicht-orthodoxer Weltverbände als auch durch die Einwanderung von Juden aus den ehemaligen GUS-Staaten die Bildung neuer, nicht-orthodoxer Gemeinden zu.

Übersicht

Der grundlegende Unterschied, der zur Bildung der verschiedenen Richtungen führte, ist die Herangehensweise an die Quellen und somit das Verständnis von Offenbarung. Die Auswahl der Darstellung erfolgte anhand der wichtigsten religiösen Bewegungen.

Orthodoxes Judentum

Sowohl in Deutschland als auch in Israel die einflußreichste Richtung innerhalb des Judentums. Nach dem Verständnis orthodoxer Juden ist die Thora das direkt geoffenbarte Wort Gottes.

Orthodoxe Juden glauben an die Thora als das direkt geoffenbarte Wort Gottes. Für sie gilt die Halacha, das jüdische Religionsgesetz, als Leitlinie für ein religiöses Leben im Alltag und als Gottes Wort. Alle sechshundertdreizehn Gebote und Verbote der Thora haben den gleichen Stellenwert. Ritual- und Moralgesetze erhalten somit die gleiche Bedeutung.

Die moderne Orthodoxie entstand im 19. Jahrhundert. Damals wurde der Begriff „Orthodoxie“ (Rechtgläubigkeit) vermutlich von Anhängern der Reform-Bewegung verwendet, um diejenigen Juden zu beschreiben, die trotz der Aufklärung und den einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen an ihrem Glauben und den Bräuchen unverändert festhielten.

Das heutige orthodoxe Judentum ist weltweit aufgeteilt in verschiedene religiöse Gruppierungen, die von Neo-Orthodoxie bis zur Ultra-Orthodoxie reichen. Ein gemeinsamer Zusammenschluss in Form einer zentralen Synagogenorganisation fehlt bisher. Zudem gibt es keine gemeinsame Rabbinervereinigung und keinen Obersten Gerichtshof. Unterschiedliche Meinungen und Kontroversen zur Auslegung der Halacha können deshalb nicht einheitlich geregelt werden.

In der Vorstellung orthodoxer Juden spielt der Gedanke, das auserwählte Volk zu sein, eine besondere Rolle. Israel wird als „das Heilige Land“ verehrt. Ultra-orthodoxe Juden betrachten Israel als politische Einheit sehr kritisch, da für sie säkulare, nicht religiöse Juden kein Recht haben, einen jüdischen Staat zu errichten. Fast alle orthodoxen Juden hoffen gemeinsam, dass der moderne Staat Israel nach den Grundsätzen der Thora regiert werde und die Halacha die Richtlinien für ein staatliches Handeln biete.
Innerhalb der jüdischen Gemeinschaft betrachten sich die orthodoxen Juden selbst als die einzig wahren Juden. Sie sind der Ansicht, anderer jüdische Strömungen mißachten die Gebote Gottes und verletzen die Thora.

In der religiösen Praxis bildet die Befolgung der sechshundertdreizehn Gebote der Bibel die Grundlage des Lebens. Frauen sind den Männern untergestellt, im Gottesdienst spielen sie so gut wie keine Rolle. In der Synagoge sitzen Männer und Frauen getrennt. Eine Frau kann nicht zur Rabbinerin ordiniert werden. Nur der Ehemann kann bei gescheiterter Ehe die Scheidung herbeiführen. Eine Mischehe mit nichtjüdischen Partner wird als sündhaft abgelehnt. Die Feiertage werden umfassend eingehalten und während des Gottesdienstes fast ausschließlich hebräisch gesprochen. Ein orthodoxer Jude darf nur koscheres Essen zu sich nehmen.

 

Progressives Judentum

Das progressive Judentum versteht sich als moderne Interpretation des Judentums.

Zum heutigen progressiven Judentum zählen liberale und reformorientierte Ausprägungen, die sich als Alternative zum orthodoxen Judentum verstehen. Progressive Juden betrachten die Offenbarung als ein fortschreitender, von Gott ausgehender und durch Menschen vermittelter dynamischer und progressiver Prozess. Gebote und Verbote werden nicht wie in der Orthodoxie als Gottes wörtliches Gesetz verstanden, sondern als Schöpfung von Menschen, die auch von Menschen neu ausgelegt und umgesetzt werden können.

Das Jahr 1801 gilt für progressive oder liberale Juden weltweit als Beginn ihrer Bewegung. Damals gründete der Reformer Israel Jacobson (1769-1828) in Seesen/Deutschland das „Schulinstitut für arme Judenkinder“, in dem die Grundsätze des Reformjudentums eingeführt wurden. In den folgenden Jahrzehnten konstituierte sich die liberale Erneuerungsbewegung stetig und wird zur am schnellsten wachsenden Bewegung innerhalb des deutschen Judentums. Einer der wichtigsten Vordenker des liberalen Judentums wurde der deutsche Rabbiner Abraham Geiger (1810-1874). Unter dem Rabbiner Leo Baeck setzte sich – vor allem in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts – das Wachstum des liberalen Judentums fort.

1926 wurde während der ersten Weltkonferenz für liberales Judentum die heute weltweit größte Dachorganisation, die „Weltunion für progressives Judentum“, gegründet. Sitz der Weltunion ist seit den siebziger Jahren Jerusalem. Wurde der Zionismus noch zu Beginn des Reformjudentums mehrheitlich abgelehnt, so ist er spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts fest im progressiven Judentum verankert.

Im Laufe seiner Entwicklungsgeschichte haben sich die Gedanken und Vorstellungen im liberalen Judentum stark gewandelt. Dem Zeitgeist entsprechend galt im 19. Jahrhundert alles traditionelle oder altmodische als überholt und wurde verworfen. Mit der Einwanderung osteuropäischer Juden, aber auch mit der Gründung des Staates Israels und nicht zuletzt durch die einschnürenden Erlebnisse der Schoa leben viele liberale Juden ihre Traditionen wieder neu auf.
Anders als im orthodoxen Judentum haben hier die ethisch-moralischen Regeln der Thora Vorrang vor der rituellen Praxis. Rituelle Regeln wurden von Menschen in bestimmten historischen Situationen aufgestellt und sind deshalb nicht göttlichen Ursprungs. Dennoch wird im heutigen liberalen Judentum Wert auf die Durchführung von Ritualen im Alltag gelegt, ihre Ausübung dient aber eher der Identitätsbildung als Jude oder als Jüdin.

In der religiösen Praxis kennzeichnend für das liberale Judentum ist die Gleichstellung von Mann und Frau. In der Synagoge sitzen die Geschlechter gemischt und Frauen werden zur Rabbinerin ordiniert. Bereits 1936 trat in Deutschland mit Regina Jonas die erste Frau das Amt der Rabbinerin an. Der Gottesdienst findet sowohl in Hebräisch als auch in der jeweiligen Landessprache statt.
Im liberalen Judentum finden Themen Einklang, die anderswo tabu sind: zum Beispiel Homosexualität oder gemischtreligiöse Ehen. Zwar sind Mischehen verboten, aber ein Rabbiner darf eine Ehe segnen, wenn der nichtjüdische Partner dem Judentum beitritt, um den Kindern eine klare Identität zu geben.

Konservatives Judentum

Das konservative Judentum setzt sich für die Bewahrung der Traditionen ein, erachtet aber Veränderungen als notwendig, sofern diese mit dem jüdischen Religionsgesetz sind.

Im Gegensatz zur Orthodoxie glaubt die Mehrheit der konservativen Juden nicht an die Bibel als das unveränderliche Wort Gottes, sondern betrachtet vielmehr die Offenbarung als ein andauernder Prozess, dessen Kern göttlich inspiriert ist. Für konservative Juden ist die Halacha, das jüdische Religionsgesetz, unverzichtbar. Im Mittelpunkt steht das Verhältnis zwischen Tradition und Moderne: Die jüdische Tradition ist von besonderer Bedeutung, die aber entsprechend dem Wandel der Zeiten und den neuen Gegebenheiten Rechnung trägt.

Das konservative Judentum hat seine Wurzeln im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Damals suchten Rabbiner nach einem Mittelweg zwischen der Orthodoxie und der liberalen Position. In Europa hatte die als „positiv-historische“ bezeichnete Bewegung keinen Erfolg. In Amerika hingegen wurde sie zu einer eigenständigen Bewegung, die sich bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts dort zu organisieren begann. Mit der Gründung des Jewish Theological Seminary wurde die heute weltweit wichtigste Ausbildungsstätte für das konservative Judentum geschaffen. Im weiteren Verlauf kamen die Rabbinerorganisation „Rabbinical Assembly“ und schließlich die weltweite Organisation aller konservativen Synagogen dem „World Council of Synagoges“ hinzu, die seit 1972 seinen Hauptsitz in Jerusalem hat.

Das Hauptinteresse konservativer Juden liegt auf der jüdischen Gemeinschaft. Dem Gedanken von den Juden als „das auserwählte Volk“ wird hohe Bedeutung beigemessen und demzufolge kann nur in Israel bzw. Eretz Jisrael (Land Israel) als Jude ein spirituell-jüdisches Leben geführt werden. Für viele konservative Juden daher ein Grund, nach Israel zurückzukehren oder zumindest aus der Ferne zionistische Organisationen zu unterstützen.

Innerhalb der konservativen Bewegung gibt es auseinanderstrebende Richtungen, die bis in den Bereich der modernen Orthodoxie oder der modernen Reform-Bewegung hineingehen. Trotz der internen Vielfältigkeit bestehen Gemeinsamkeiten in der Auslegung der Halacha, die sie wiederum vereint. Dazu gehören unter anderem die Befolgung des Schabbat oder der Feiertage, die Anerkennung der Gültigkeit der talmudischen Ehe- und Ehescheidungsgesetze (ein Jude muss einen jüdischen Partner heiraten; ein konservativer Rabbiner darf nur dann eine Mischehe segnen, wenn der nichtjüdische Partner zuvor zum Judentum konvertiert ist; ein konservativer Jude benötigt zum Vollzug der Scheidung einen jüdischen Scheidebrief, um wieder heiraten zu können), die Ermöglichung der Konversion zum Judentum nach den Regeln des rabbinischen Rechts, die Dominanz der hebräischen Sprache im Synagogengottesdienst und das Zusammensitzen von Mann und Frau während des Gottesdienstes. Eine Jüdin hat die Möglichkeit zu studieren und Rabbiner zu werden. Die erste Frau im konservativen Judentum wurde 1985 in Amerika zur Rabbinerin ordiniert.

 

Autor: Steffen Rink, 2003.

 

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Autor*in: REMID e.V.