Themenschwerpunkt: Weltanschauungen und Säkularität

Was ist „konfessionsfrei“ oder „konfessionslos“?

Oft wird gefragt, inwiefern Weltanschauungen – im Unterschied zu Religionen, Spiritualität oder Esoterik – überhaupt ein Gegenstand einer vergleichenden Religionswissenschaft sein könne. Im Gegensatz zu den Theologien der Religionen der Welt ist Religionswissenschaft eine säkulare, wissenschaftliche Disziplin, die neben der Religions- und Kirchengeschichte eben auch philologische, ethnologische (anthropologische), sozialwissenschaftliche und psychologische Ansätze verfolgt. Zwar entstammt der Religionsbegriff mit allen seinen ontologischen Problemen einer Konfiguration systematisch verstandener Daseinsbereiche, welche als unterscheidbar gedacht wurden, d.h. man kann der Ansicht sein, er sei „überholt“. Doch auf der anderen Seite zeigt sich, dass „Religion“ alles andere als ein Thema von gestern ist, dass trotz des Konzepts einer sogenannten „Säkularisierung“ von einer „Wiederkehr“ der Religionen gesprochen werden kann, oder von ihrer „Pluralisierung“. Und durch diesen Umstand erfahren theologische Vorurteile bzw. Bias – also bei Messungen auftretende, meist störende systematische Effekte mit einer Grundtendenz (Wikipedia) bzw. durch falsche Untersuchungsmethoden (z. B. Suggestivfragen) verursachte Verzerrung des Ergebnisses einer Repräsentativerhebung (Duden) – ihr zweifelhaftes Comeback. Auf Laienniveau ist das z.B. eine Behauptung der Art, Gemeinschaft X sei eine „Sekte“ oder ein „Kult“, also „falsche Religion“, mit der Tendenz, dass sie vor allem metaphysisch irre. Demgegenüber hat sich die vergleichende Religionswissenschaft einem methodischen Agnostizismus verpflichtet. Agnostizismus bedeutet dabei, nicht wissen zu können, ob es z.B. Gott gibt. Das lässt sich auf sämtliche mögliche metaphysische Aussagen erweitern.

Von der Position der Rechtfertigung her wäre das auch der hinreichende Grund, wieso auch sogenannte konfessionsfreie Vergemeinschaftungen bzw. Einstellungen zum Zuständigigkeitsbereich einer vergleichenden Religionswissenschaft gehören, insofern auch sie bestimmte (negative oder einschränkende) metaphysische Aussagen bevorzugen.

Andererseits ist nicht nur der historische Prozess der Aufklärung und Herausbildung wissenschaftlicher Standards Bedingung der Möglichkeit einer vergleichenden Religionswissenschaft, sondern von Anfang an ist diese konfessionsfreie Möglichkeit eines Agnostizismus virtuelle Voraussetzung für eine kritische Arbeit am Vorurteil und damit auch basales Element derjenigen Summe von Anschauungen, welche Religionswissenschaftler*innen als ihren Forschungsgegenstand betrachten können. Mehr noch: Die Kategorie „Konfessionsloser“ (besser: „Konfessionsfreier“) ist von ihren Anfängen an die sozusagen „Standardabweichung“ schlechthin.

Bild „Weltkugelhälften“ von Manuel Heinemann unter Creative Commons Lizenz CC BY-SA 3.0.

REMID unterscheidet 0,5% Organisierte Konfessionsfreie von 32,3% „ohne Zuordnung“, die also keiner Religionsgemeinschaft zugeordnet werden können. Ob sie tatsächlich nicht religiös sind, ist eine andere Frage. Fowid ermittelt ähnlich über Religionszugehörigkeitsabfrage einen Restwert von 36,2%, die dort allerdings als „konfessionsfrei“ gedeutet werden. Im European Social Survey fragt C11: „Do you consider yourself as belonging to any particular religion or denomination?“. Nur bei bejahender Antwort wurde eine Liste von Religionen vorgelegt. PEW 2017 fasst diese beiden Fragen zusammen (und unterscheidet „nicht praktizierende“ Christ*innen). Die INSA-Umfrage wurde von der Deutschen Evangelischen Allianz in Auftrag gegeben und fragt eigentlich “Beschäftigt Sie die Frage nach Gott?“. Die Angaben zu Kirchenaustritten und Konfessionsfreien in Ostdeutschland sind umgerechnete grobe Schätzungen von 10 bzw. 12 Millionen.

 

Die unmögliche Schnittmenge: Konfessionsfrei und religiös?

Ein religionswissenschaftlicher Zugang muss dabei auch zwischen emischer (von innen) und etischer (von außen) Perspektive unterscheiden. Der historisch bedingte juristische Anspruch einer Kritik kirchlicher Privilegien (bzw. solcher der Körperschaften des Öffentlichen Rechts) kann nicht das Kriterium der Differenz sein. Die Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland (Grafik: Pfeil nach rechts fowid) hatte bis vor einigen Jahren noch davon abgesehen, Religionsgemeinschaften neben dem Islam zu listen, welche keine Körperschaftsrechte hatten. Andersherum listet REMID in unserer Statistik der Religionen und Weltanschauungen Deutschlands Unitarier und Freireligiöse sowie z.B. Vereinigungen von Pantheist*innen nicht als „Organisierte Konfessionsfreie“, sondern unter den verschiedenen Religionen, spirituellen Gemeinschaften und esoterischen Verbänden. Der Ausdruck „Organisierte Konfessionsfreie“ ist also lediglich eine Selbstbezeichnung, auch in Rücksicht darauf, dass es konfessionsfreie Körperschaften des Öffentlichen Rechtes gibt, die also bereits Teilerfolge auf dem Weg einer Gleichstellung mit entsprechend etablierten christlichen Kirchen erreicht haben.

Abbildung: Konfessionslosigkeit, Humanismus und religiöse Traditionen in Europa. Eine empirische Studie über konfessionslose Jugendliche von Boris Kalbheim und Hans-Georg Ziebertz, Zeitschrift für Religionspädagogik 12 (2013), H.1, S. 32-56, Abb. S. 46. Diese Abbildung wurde auch verwendet im Interview mit Arik Platzek.

 

Andere säkulare Weltanschauungen

Daneben gilt, dass Vergemeinschaftungen, die sich weniger über eine solche gesellschaftliche Teilhabe bestimmen, trotzdem ebenfalls in diese Kategorie fallen können. Das gilt für die sogenannte „Skeptiker-Bewegung“ wie für „Trickzauberer-Vereinigungen mit skeptizistischer Selbstverpflichtung“, auch wenn es im Einzelfall möglich ist, dass jemand einen (z.B. auf ethische Ideen reduzierten) Glauben pflegt und keinen Widerspruch zu einer solchen „skeptischen“ Betätigung Übersinnlichem gegenüber sieht. Insofern kann eine „Gemeinschaft christlicher Zauberkünstler Deutschland“ anzeigen, dass diese Art des Skeptizismus im Sonderfall auch als Missionsbetätigung Sinn machen kann (und dass es Übergänge zwischen den Kategorien gibt).

Schließlich findet sich in sozialistischen und kommunistischen Einstellungen und Vergemeinschaftungen ein weiteres Feld derjenigen, welche zumindest häufig eine dem Marxismus, Leninismus oder Anarchismus entlehnte materialistische Religionskritik rezipieren. Historisch waren es vor 1933 Freidenker-Verbände, welche sich sozialistisch oder ‚bürgerlich‘ positionierten, abspalteten und wiedervereinten. Gemäß dem Prinzip, dass auch im Christentum auf beiden Seiten eines Schismas wiederum Christentum entsteht, gehören also die „Linken“ potenziell zu den „konfessionsfreien“ Weltanschauungen, auch wenn einzelne Akteure sich auf eine herkömmliche Weise religiös betätigen mögen (oder sich Felder entwickeln, die wieder in andere Kategorien übergehen, z.B. die „Befreiuungstheologie“). Gelistet werden allerdings nur Gruppen mit einem expliziten z.B. materialistischen Selbstverständnis.

Nach dem Google Analyse-Tool Ngram (Corpus: German Books, 2012, Daten bis 2008) hatte das Wort „Humanismus“ in deutschsprachigen Büchern einen Höhepunkt nach 1945, einen zweiten – und das war auch die beste Zeit des Wortes „Atheismus“ – in den 1960ern und 1970ern. Die Grafik wurde ursprünglich im Interview mit Heinz-Werner Kubitza verwendet.

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Religionsfreiheit und Weltanschauungsfreiheit

Ein religionswissenschaftlicher Zugang, der also Nicht-Religion im Sinne von nichtreligiösen Weltanschauungen als möglichen Forschungsgegenstand und damit als einen Teilbereich eines Gegenstandes „Religionen und Weltanschauungen“ bestimmt, kann also diese Anschauungen unter einen „weiten“ Religionsbegriff subsummieren, obwohl in der emischen Selbstbeschreibung dieser explizit ein Widerspruch zu einem religiösen Selbstverständnis formuliert ist. Allerdings bedeutet das auch, dass ein religionswissenschaftlicher Begriff von „Religionsfreiheit“ von engen Verständnissen des Gegenstands Abstand nimmt und gerade in der Akzeptanz und dem vielfätigen Vorhandensein von diesen nichtreligiösen Weltanschauungen und umstrittenen religiösen Minderheiten ein Maß sieht, Religionsfreiheit qualitativ zu bestimmen. Dasselbe gilt für Lebenspraxen, welche zufällig Vorurteilen religiöser Anschauungen ausgesetzt sind. Das gilt unabhängig davon, ob Akteure solcher Praxen sich entsprechend nicht-religiös, alternativ-religiös oder anti-religiös vergemeinschaften.

 

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Autor*in: REMID e.V.