Psychodynamik verstehen: Auch “Sekten” sind Religionen

Prof. Sebas­t­ian Murken war 1989 eines von sieben Grün­dungsmit­gliedern des Reli­gion­swis­senschaftlichen Medi­en- und Infor­ma­tions­di­en­stes REMID e.V. 1997 wurde er als Gutachter für die Enquete-Kom­mis­sion “Soge­nan­nte Sek­ten und Psy­chogrup­pen” des Deutschen Bun­destages berufen (siehe End­bericht, 1998). REMID inter­viewte ihn zu diesem Anlass über neue religiöse Bewe­gun­gen, den Sek­ten­be­griff und psy­chother­a­peutis­che Prax­is für soge­nan­nte “Aussteiger”.

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REMID arbeit­et nicht mit dem Sek­ten­be­griff. Trotz­dem erhal­ten wir weit­er­hin ins­beson­dere von Medi­en viele Anfra­gen, die von “Sek­ten” han­deln. Nochein­mal kurz für unsere neueren Leser*innen: Was ist am Sek­ten­be­griff prob­lema­tisch?

Der Sek­ten­be­griff ist ein stig­ma­tisieren­der und aus­gren­zen­der Begriff. Sicher­lich gibt es auch prob­lema­tis­che Grup­pen, allerd­ings gilt es dann, genau hinzuschauen. In prob­lema­tis­chen Fällen dann von “Sek­ten” zu sprechen, ist nicht hil­fre­ich oder dif­feren­zierend.

Wir bei REMID erhal­ten nur rel­a­tiv wenige Anfra­gen, welche Hil­fe wegen ein­er prob­lema­tisierten Mit­glied­schaft suchen. Allerd­ings wenn han­delt es sich häu­fig um Ange­hörige, Eltern oder Fre­unde der Per­son, die sich in eine neure­ligiöse Gruppe begeben hat. Wie sind Ihre Erfahrun­gen?

Ich kenne bei­des. Oft sind es erst Ange­hörige oder Fre­unde, die sich melden. Manch­mal aber auch direkt Betrof­fene. Allerd­ings hängt das dann auch mit dem Pro­fil der Grup­pierun­gen zusam­men. Oft sind es nicht so sehr die Glaubensin­halte, die prob­lema­tisch sind, son­dern die Grup­pen­dy­namik der Gemein­schaft, die als belas­tend erlebt wer­den kann.

Was ist damit konkret gemeint?

Wenn die Heilser­wartung ein­er Gruppe und ihrer Lehre an hohe Erwartun­gen an die Gläu­bi­gen geknüpft ist, die sie ein­hal­ten müssen, um „gerettet“ zu wer­den, kön­nen starke Kon­flik­te und Schuldge­füh­le entste­hen.

Wie ist das eigentlich: Wir haben die Erfahrung gemacht, dass wenn jemand aus einem neure­ligiösen Hin­ter­grund psy­chis­che Hil­fe sucht, dann gibt es ein­er­seits Beratungsange­bote, Psychotherapeut*innen oder Ein­rich­tun­gen, welche – sagen wir – nicht unbe­d­ingt sen­si­bel sind für das The­ma, ander­er­seits gibt es Ange­bote, welche eher dazu tendieren, zu einem gemäßigten christlichen Selb­stver­ständ­nis zurück­zuführen, also eine Rekon­ver­sion des poten­ziellen “Sek­te­naussteigers” zu begün­sti­gen?

Da haben Sie recht. Nehmen wir zum Beispiel einen Zeu­gen Jeho­vas, der psy­chother­a­peutis­che Hil­fe sucht. Die ZJ als Gemein­schaft sind dafür dur­chaus offen und wis­sen selb­st, dass unter ihren Gläu­bi­gen der Anteil der­er mit psy­chis­ch­er Labil­ität nicht ungle­ich dem­jeni­gen der Gesamt­bevölkerung ist. Nun gibt es in der psy­chother­a­peutis­chen Prax­is ein Dilem­ma: herkömm­liche Therapeut*innen gehen oft zu schnell davon aus, dass die psy­chis­che Störungsre­sul­tat der Mit­glied­schaft bei den Zeu­gen Jeho­vas sei. Aussteigerini­tia­tiv­en oder kirch­lich ori­en­tierte Ther­a­peuten ermuntern schnell dazu, die Gemein­schaft zu ver­lassen. Es find­en sich nicht viele Ange­bote, die die psy­chis­che Störung behan­deln und ernst nehmen, ohne die Mit­glied­schaft in ein­er spez­i­fis­chen Gemein­schaft sofort als Teil des Prob­lems zu sehen. Bei Patien­ten die der evan­ge­lis­chen oder katholis­chen Kirche ange­hören, wird dies struk­turell erst ein­mal ganz anders ange­gan­gen.

Sie arbeit­en ja aktiv gegen dieses Dilem­ma…

Ja, ich arbeite als Ther­a­peut und Dozent in ver­schiede­nen Aus­bil­dungs­gän­gen für wer­dende Psy­chol­o­gis­che Psy­chother­a­peuten und Psy­chother­a­peutin­nen (sebastian-murken.de) wichtig ist mir, nicht von vorne­here­in zwis­chen guter und schlechter Reli­giosität zu unter­schei­den, son­dern im Einzelfall zu unter­suchen, wer in welch­er Gemein­schaft auf welche Weise prof­i­tiert oder durch spez­i­fis­che Ele­mente belastet wird. Dies bedeutet, die Opfer­per­spek­tive, die lange vor herrschte (böse Sek­ten schnap­pen gute Men­schen), durch eine dif­feren­zierte Per­spek­tive der Wech­sel­wirkung zwis­chen Ange­bot von Reli­giosität und Spir­i­tu­al­ität auf der einen Seite und Bedürfnis­lage der Indi­viduen auf der anderen Seite zu erset­zen.

Also wenn ich an Men­schen denke, welche z.B. aus den genan­nten Zeu­gen Jeho­vas “ausstiegen”, wird diese “Sek­ten­zeit” in der Tat häu­fig wie ein Trau­ma behan­delt…

Hier müssen wir unter­schei­den. Es ist ein grund­sät­zlich­er Unter­schied, ob jemand in eine Grup­pierung hineinge­boren wurde, und sich somit nicht für eine Mit­glied­schaft entsch­ieden hat. Hier ist die Lehre und Erfahrung der Gruppe, das einzige interne Ref­eren­zsys­tem, was, beim Ausstieg, zu extremen Schwierigkeit­en führen kann. Davon unter­schei­den müssen wir die selb­st gewählte Mit­glied­schaft in ein­er Gruppe, die oft auf der Basis ein­er Sozial­i­sa­tion geschieht, die unab­hängig von der Lehre der Gruppe war. Hier ist es oft so, dass die Gruppe zu ein­er spez­i­fis­chen Zeit und Leben­sphase bes­timmte Bedürfnisse erfüllt hat, während zu einem späteren Zeit­punkt eher die Kosten der Mit­glied­schaft in den Vorder­grund rück­en, was dann zu einem Ausstieg führen kann. Diese jew­eilige Dynamik zu ver­ste­hen ist ein span­nen­der Prozess, sowohl für den Betrof­fe­nen, als auch für mich als Begleit­er.

Was möcht­en Sie schließlich unseren Leser*innen auf den Weg mit­geben?

Wichtig ist, dass das The­ma ent­pathol­o­gisiert wird. Auch neure­ligiöse Exper­i­mente und spir­ituelle Sinnsuche gehören zum ganz nor­malen Leben. Und nicht jed­er braucht Hil­fe, der eine neue religiöse Bewe­gung ver­lassen möchte. Es ist falsch, in diesem Bere­ich von einem beson­deren Bedarf auszuge­hen. Die meis­ten Anfra­gen zu dem The­ma erhalte ich von Medi­en, nicht von Betrof­fe­nen. Häu­figer ist der Anteil der­er, welche als Klien­ten eso­ter­ische Konzepte in ihre Ther­a­pie mit­brin­gen. Und auch da ist es entschei­dend, wie der Ther­a­peut damit umge­ht. Aber grund­sät­zlich gilt für alle diese Bere­iche – eben auch den religiösen, genau­so wie für die Liebe oder den Beruf: Das Leben hat seinen Gewinn und seinen Preis.

Danke für das Inter­view.

Das Inter­view führte Kris Wagen­seil im Dezem­ber 2015.
Inhaltliche Kürzun­gen von Mona Stumpe (2023)

Infor­ma­tio­nen zu Prof. Sebas­t­ian Murkens Arbeit gibt es unter reli­gion­spsy­cholo­gie.de.

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