Groschopps “Konzeptionen des Humanismus”: Zeugnis der Uneindeutigkeit eines religionswissenschaftlich relevanten Begriffes

In diesem Gast­beitrag rezen­siert Ste­fan Schröder von der Uni­ver­sität Bayreuth die Neuer­schei­n­ung des Kul­tur­wis­senschaftlers und freigeisti­gen Aktivis­ten Dr. habil Horst Groschopp mit dem Titel „Konzep­tio­nen des Human­is­mus“ (Konzep­tio­nen des Human­is­mus. Alpha­betis­che Samm­lung zur Wortver­wen­dung in deutschsprachi­gen Tex­ten. Mit ein­er Bib­li­ogra­phie [Human­is­mus­per­spek­tiv­en, 4]. Aschaf­fen­burg: Alib­ri 2018). Das im Alib­ri-Ver­lag erschienene Werk hat den Charak­ter eines Nach­schlagew­erks und trägt Kom­bi­na­tio­nen des Human­is­mus­be­griffs bzw. sein­er Adjek­tiv­form „human­is­tisch“ zusam­men. Für die Reli­gion­swis­senschaft kann es Aus­gangspunkt für eine ver­tiefte Auseinan­der­set­zung mit einem im Reli­gions­diskurs all­ge­gen­wär­ti­gen Begriff­skonzept sein.

Der Reli­gion­swis­senschaft­lerin und dem Reli­gion­swis­senschaftler ist der Human­is­mus­be­griff all­ge­gen­wär­tig. In der Ein­führungsvor­lesung zur europäis­chen Reli­gion­s­geschichte ler­nen sie Human­is­mus als christlich­es Erbe ken­nen, ver­bun­den vor allem mit dem Namen Eras­mus von Rot­ter­dam. Dann wiederum erscheint Human­is­mus als Reli­gion­skri­tik und säku­lar-weltan­schaulich­es Gegen­mod­ell zu Kirche und Reli­gion, z.B. im Rah­men des evo­lu­tionären Human­is­mus der Gior­dano Bruno Stiftung. Aber auch der alevi­tis­che Jugend­ver­band in Deutsch­land been­det seine Anschreiben „mit human­is­tis­chen Grüßen“. Die Liste an Beispie­len ließe sich beliebig fort­set­zen. Angesichts der Vielfalt der Kon­texte, in denen uns der Human­is­mus­be­griff begeg­net, ver­wun­dert es, dass noch keine umfassende reli­gion­swis­senschaftliche Abhand­lung zu ihm vor­liegt. (Die katholis­che The­olo­gie ist der Reli­gion­swis­senschaft hier bere­its einen Schritt voraus, vgl. Flo­ri­an Baab: Was ist Human­is­mus? Geschichte des Begriffes, Gegenkonzepte, säku­lare Human­is­men heute [ratio fidei / Beiträge zur philosophis­chen Rechen­schaft der The­olo­gie, 51]. Regens­burg: Ver­lag Friedrich Pustet, 2013). Die Neuer­schei­n­ung des Kul­tur­wis­senschaftlers und freigeisti­gen Aktivis­ten Dr. habil Horst Groschopp „Konzep­tio­nen des Human­is­mus“, als viert­er Band in der von Groschopp selb­st her­aus­gegebe­nen Rei­he „Human­is­mus­per­spek­tiv­en“ im Aschaf­fen­burg­er Alib­ri Ver­lag erschienen, bietet hier zwar keine umfassende Lösung, aber einen Aus­gangspunkt. Es han­delt sich um das Ergeb­nis ein­er Sam­meltätigkeit des Autoren zwis­chen 2008 und 2018, die unter­schiedlich­ste Beispiele des Wort­ge­brauchs von „Human­is­mus“ und dessen Adjek­tiv­form „human­is­tisch“ in deutsch­er Sprache zusam­men­trägt. Als Quelle dient v.a. wis­senschaftliche Lit­er­atur in analoger und dig­i­tal­isiert­er Form, in Einzelfällen wer­den aber auch Blo­gein­träge oder jour­nal­is­tis­che Beiträge herange­zo­gen, sofern sie „gewollt oder unge­wollt Wichtiges über Human­is­mus sagen“ (S. 23). Ins­ge­samt umfasst die Samm­lung 250 unter­schiedliche „Humanismus“-Kombinationen und 80 Ver­wen­dun­gen des adjek­tivis­chen Zusatzes „human­is­tisch“.

Auf den ersten Blick erscheint die Liste, die so unter­schiedliche Konzepte wie „römis­chen Human­is­mus“, „veg­a­nen Human­is­mus“ und „sozi­ol­o­gis­chen Human­is­mus“ enthält und ihre Fund­stellen häu­fig zitathaft und addi­tiv aneinan­der­rei­ht, in ihrer Zusam­men­stel­lung ohne echt­en inhärenten Zusam­men­hang. Hil­fre­ich und sehr ver­di­en­stvoll ist deshalb die Kat­e­gorisierung, die Groschopp in sein­er Ein­leitung vorn­immt. Dem­nach lassen sich die unter­schiedlichen Ver­wen­dungsweisen des Human­is­mus­be­griffs in 12 ver­schiedene Klassen unterteilen: Unter­schieden wer­den Human­is­mus als (1) kul­turelle Bewe­gung, als (2) Bil­dungs­be­we­gung, (3) Epoche, (4) Tra­di­tions­bes­tim­mung, (5) Weltan­schau­ung, (6) prak­tis­che Philoso­phie, (7) poli­tis­che Grund­hal­tung, als (8) Konzept von Barmherzigkeit (Human­ität), als (9) uni­versell oder nation­al bzw. sog­ar region­al ver­standenes Phänomen mit je spez­i­fis­ch­er Aus­prä­gung, als (10) Form von, Ergänzung oder Gegen­spiel­er zu Reli­gion, als (11) ide­ol­o­gis­che Inter­pre­ta­tion (z.B. pro­le­tarisch­er vs. bürg­er­lich­er Human­is­mus) oder als (12) Appell­funk­tion und moralis­ch­er Auf­trag (S. 17–20). Neben dieser syn­chron typol­o­gisieren­den Dif­feren­zierung wid­met sich Groschopp in der Ein­leitung auch der ideengeschichtlich-diachro­nen Entwick­lung des Human­is­mus­be­griffs: Von sein­er ety­mol­o­gis­chen Her­leitung aus dem lateinis­chen Wort human­i­tas (ver­standen als Entro­hung (Men­schen­bil­dung) und Barmherzigkeit (Human­ität) des Men­schen) über sein erstes Aufkom­men im Deutschen zur Benen­nung eines intellek­tuellen Bil­dungskonzeptes bei Nietham­mer bis ins 20. Jahrhun­dert, in dem er „in Frei­heit kam“ (S. 15).

„Human­is­mus erre­ichte, seit ihn der Neuhu­man­is­mus nach der Renais­sance wieder ins Gespräch brachte, immer neue gesellschaftliche Bere­iche, Sachge­bi­ete, Regio­nen und His­to­rien und der Begriff erfasste, sich von den ursprünglichen philol­o­gis­chen, philosophis­chen, alter­tum­swis­senschaftlichen und päd­a­gogis­chen Bezü­gen lösend, beson­ders die zeitlichen, sprach­lichen und räum­lichen Begren­zun­gen auf Antike, Renais­sance und Klas­sik aufhebend, zahlre­iche (gegenüber bish­er) neue Gebi­ete, etwa weltan­schauliche, soziale und poli­tis­che Bewe­gun­gen“ (ebd.).

Human­is­mus sei dabei zunächst ein europäis­ches Phänomen gewe­sen, das dann kul­turell exportiert und an neuen Orten auch zu etwas Eigen­em trans­formiert wor­den sei (S. 11). Dies bele­gen Ein­träge wie „indis­ch­er Human­is­mus“ oder „sam­bis­ch­er Human­is­mus“.

Horst Groschopp, Fotoauf­nahme von Peter Gro­ht, Abdruck mit fre­undlich­er Genehmi­gung.

Groschopp ver­fol­gt mit sein­er Pub­lika­tion ein dop­peltes Ziel: Ein­er­seits geht es ihm darum, ein­seit­ige Vere­in­nah­mungen des Begriffes, z.B. als Bil­dungs- oder weltan­schaulich­es Kampfkonzept zu rel­a­tivieren und den Human­is­mus­diskurs für bis­lang wenig beachtete Phänomene wie den „rhetorischen“ oder den „musikalis­chen Human­is­mus“ zu öff­nen (S. 11–13). Groschopps Anspruch ist es hier, rein lexikalisch vorzuge­hen und ohne Wer­tung alle Wortkom­bi­na­tio­nen aufzu­greifen, auf die er in seinen Recherchen gestoßen ist (S. 21). Zugle­ich – und im Span­nungsver­hält­nis zum erst­ge­nan­nten Anspruch der Weitung des Human­is­mus­diskurs­es – möchte der Autor aber auch einen gemein­samen Kern aller Human­is­men aufdeck­en, deren Vielfalt also wieder ein­fan­gen und auf etwas Gemein­sames zurück­führen: Die Ver­wen­dungsweisen des Begriffes stell­ten stets einen Bezug „auf das Große und All­ge­meine des Human­is­mus“ her (S. 7). Groschopp offen­bart hier, dass er eine alles andere als wert­freie Vorstel­lung davon besitzt, was dieses „Große und All­ge­meine des Human­is­mus“ ist (dass ein solch­es Vorver­ständ­nis vor­liegt, wird auch an der Aus­sage Groschopps deut­lich, dass Beiträge, die sich mit Human­is­mus beschäfti­gen, den Begriff über­wiegend gar nicht ver­wen­den; es wird als Prob­lem her­aus­gestellt, dass diese Beiträge nicht in die vor­liegende Samm­lung aufgenom­men wer­den kon­nten [S. 21]) – und diese Vorstel­lung dürfte dur­chaus Ein­fluss auf die Auswahl der Begriff­skom­bi­na­tio­nen gehabt haben (so gibt er an, „zufäl­lige Ver­wen­dun­gen“ [S. 27] des Begriffes nicht in die Samm­lung aufgenom­men zu haben, ohne dass expliz­it gemacht wird, was eine zufäl­lige von ein­er nicht-zufäl­li­gen Ver­wen­dung unter­schei­det). Zweifel­sohne ste­ht der Autor der Her­leitung des Human­is­mus­be­griffs durch den Alt­philolo­gen und Reli­gion­swis­senschaftler Hubert Can­cik mit Bezug auf den antiken human­i­tas-Begriffs (Men­schen­bil­dung und Barmherzigkeit) nahe. Human­is­mus umfasse aufge­ladene, beken­nende Ansicht­en zu Men­schen- und Men­schheit­sprob­le­men, „in denen Indi­vid­u­al­ität, Selb­st­bes­tim­mung, Barmherzigkeit, Men­schen­rechte, Men­schen­würde, Human­ität und Sol­i­dar­ität einen hohen Stel­len­wert haben“ (S. 16). In dem so gesteck­ten Rah­men ergebe sich eine reich­haltige Plu­ral­ität human­is­tis­ch­er Kul­turen, weil aus human­is­tis­ch­er Sicht keine „unverträglichen ‚let­zten Antworten‘, ‚absoluten Wahrheit­en‘ oder ‚höch­ste Wesen‘ Gemein­samkeit­en ver­bi­eten“ (S. 15). Das hier angedeutete eigene Begriffsver­ständ­nis und dessen Ver­hält­nis zum Anspruch ein­er rein deskrip­tiv­en Darstel­lung unter­schiedlich­er Ver­wen­dungsweisen des Human­is­mus­be­griffs expliziter zu machen, hätte für mehr Trans­parenz gesorgt und wäre eine Ori­en­tierung­shil­fe beim Umgang mit dem Buch gewe­sen. Für die Reli­gion­swis­senschaft­lerin und den Reli­gion­swis­senschaftler bleibt so auch nach Lek­türe des Buch­es die Frage zu klären, ob der Human­is­mus­be­griff einen wis­senschaftssprach­lichen Mehrw­ert besitzt oder ob er auf­grund sein­er nor­ma­tiv aufge­lade­nen und inko­härenten Ver­wen­dungsweisen auf der objek­t­sprach­lichen Ebene verbleiben und auf dieser analysiert wer­den muss.

Dessen ungeachtet ist die Samm­lung eine Schatzk­iste für all jene, die sich wis­senschaftlich mit Human­is­mus auseinan­der­set­zen. Der große Umfang und die Vielfalt der Herkun­ft des Quel­len­ma­te­ri­als (Sozi­olo­gie, Geschichtswis­senschaft, The­olo­gie, freigeistige Lit­er­atur usw.) zeu­gen von Groschopps Exper­tise und eröff­nen v.a. für die Zeit seit 1970 die Möglichkeit, auch kle­in­ste Verästelun­gen des Human­is­mus­diskurs­es nachzu­ver­fol­gen – mit der Ein­schränkung, dass auss­chließlich deutschsprachige Lit­er­atur vom Autoren aus­gew­ertet wurde. Ein­trä­gen wie „Amerikanis­ch­er Human­is­mus“ oder „Afrikanis­ch­er Human­is­mus“ hätte der Ein­bezug nicht-deutschsprachiger Quellen gut getan, um das jew­eils geze­ich­nete Bild zu erweit­ern oder auch zu rel­a­tivieren.

„Konzep­tio­nen des Human­is­mus“ ist ein beein­druck­endes Zeug­nis der schillern­den Unein­deutigkeit eines reli­gion­swis­senschaftlich hochrel­e­van­ten Begriffes mit Kon­junk­tur. Groschopp hat mit sein­er Samm­lung wichtige Grund­la­ge­nar­beit zur wis­senschaftlichen Erforschung des Human­is­mus geleis­tet. Die Reli­gion­swis­senschaft sollte sie zu nutzen wis­sen.

Rezen­siert von Ste­fan Schröder, Bayreuth

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